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Ausgabe:

Juni/2006

Spalte:

770 f

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Junker-Kenny, Maureen, and Peter Kenny [Eds.]

Titel/Untertitel:

Memory, Narrativity, Self and the Challenge to Think God. The Reception within Theology of the Recent Work of Paul Ric¦ur.

Verlag:

Münster: LIT 2004. X, 221 S. gr.8° = Religion ­ Geschichte ­ Gesellschaft, 17. Kart. Euro 20,90. ISBN 3-8258-4930-9.

Rezensent:

Doris Hiller

Der von Maureen Junker-Kenny und Peter Kenny herausgegebene Band zur theologischen Rezeption des Spätwerkes von Paul Ric¦ur (Ý 2005) geht zurück auf eine internationale Konferenz, die 1999 am Trinity College in Dublin stattfand. Ric¦ur selbst war als Redner und Diskussionspartner daran noch beteiligt.

Mit seinem Eröffnungsvortrag »The Difficulty to Forgive« gibt Paul Ric¦ur in Anlehnung an den Epilog seines letzten großen Werkes »Gedächtnis, Geschichte, Vergessen« (französisch 2000; deutsch 2004) einen Einblick in sein vielperspektivisches Denken, das nun ­ vor dem Hintergrund des Erinnerns, Vergessens, der Schuld, des gemeinschaftlichen Lebens und der Gewalt ­ unter dem Vorzeichen der Vergebung abgeschritten wird. ­ Die folgenden Beiträge bieten einen profunden Einblick in die mögliche und notwendige theologische Auseinandersetzung mit Ric¦urs Philosophie, indem sie die Schlüsselstellen für einen fundamentaltheologischen und ethischen Diskurs markieren.

Maureen Junker-Kenny schließt direkt an Ric¦urs Beitrag an und beleuchtet das Verhältnis von Erinnerung und Vergebung aus theologischer Perspektive: »Memory and Forgiveness ­ Two Itineraries«. Ric¦urs Bestimmung des Erinnerns als ethischer Kategorie führt zur Begründung der Vergebung in der göttlichen Gnade. Entscheidend ist allerdings die Fähigkeit des Menschen, das Geschenk der Vergebung anzunehmen, was bedeutet, offen zu sein für die Stimme, die von anderswo herkommt.Der Offenbarungscharakter, der hier anklingt, führt Werner Jeanrond zur grundsätzlichen Frage nach dem Zusammenhang von »Hermeneutics and Revelation«. Er untersucht in Auseinandersetzung mit Karl Rahner und der Offenbarungstheologie des Vaticanum II die hermeneutische Verfasstheit des Menschen in der Aneignung der biblischen Zeugnisse von Gottes Offenbarung. Im Anschluss an Ric¦urs Texttheorie und seiner Hermeneutik des Selbst betont er die Vermittlung der göttlichen Offenbarung durch Sprache, deren Aneignung das Subjekt verändert, weil die Texte Wirklichkeit neu erschließen.

Noch grundsätzlicher dringt Christof Mandry in »The Relationsship between Philosophy and Theology in the Recent Work of Paul Ric¦ur« ein. Ric¦urs Verständnis des Glaubens als Überzeugung erlaubt es, nach der reflexiven Dynamik des Glaubens zu fragen, als die sich Theologie erweist. Ric¦urs Analyse der biblischen Texte macht deutlich, dass in diesen zwischen Dichtung und Argument nicht zwingend unterschieden wird, Argumentieren vielmehr als ursprünglicher Ausdruck des Glaubens erscheint.

Dieser poetischen Argumentationsstruktur der biblischen Glaubenssprache geht Janet Martin Soskice mit ihrer instruktiven Analyse der wohl wichtigsten theologischen Arbeit Ric¦urs nach. »Naming God« ­ so auch der Titel des Textes von Ric¦ur (original: Nommer Dieu) ­ ist im Angesprochensein von Gott her möglich, von dem die biblischen Texte in vielfältiger Weise Zeugnis geben.

Den systematisch-theologischen Teil der Beiträge schließt Peter Kenny ab. »Conviction, Critique and Christian Theology. Some Reflections on Reading Ric¦ur« verbindet die Nähe der hermeneutischen Methode Ric¦urs zur Theologie mit der Forderung nach einer religiösen Hermeneutik, die über den Text hinausgeht.

Zwei weitere Beiträge beleuchten die Dimensionen einer theologischen Ethik im Anschluss an Ric¦ur. John van der Hengel zeigt in »From Text to Action in Theology«, warum eine Hermeneutik des Selbst, die den Anspruch des cartesischen Cogito aufgibt, zu einer neuen Handlungstheorie führt. Hille Haker ­ »Narrative and Moral Identity in the Work of Paul Ric¦ur« ­ untersucht Ric¦urs Identitätskonzept, das aus seiner Hermeneutik des Selbst hervorgeht.

Abschließend diskutiert Maureen Junker-Kenny (»Capabilities, Convictions, and Public Theology«) noch einmal umfassend Ric¦urs Anthropologie des fähigen Menschen und die Kategorie der Überzeugung, wie sie in »Das Selbst als ein Anderer« vorgetragen wird mit Blick auf eine öffentliche Theologie. Ric¦urs Philosophie fordert hier heraus, danach zu fragen, welche argumentativen und hermeneutischen Fertigkeiten Theologie ausbilden muss, um als »Argumentation der Überzeugung« im öffentlichen Raum gehört zu werden.

Eine Besonderheit des Bandes liegt in der Dokumentation der Diskussion im Anschluss an einzelne Beiträge, die nicht nur der Vertiefung des Vorgetragenen dienen, sondern auch die Lebendigkeit des Gesprächs mit Ric¦ur veranschaulicht ­ so auch in dem abschließend dokumentierten Plenum. Die Weisheit dessen, der ­ wie er selbst sagt ­ es nun wagen konnte, sich dem etablierten Denken zu entziehen, führt in einen offenen Diskurs über das Schriftverständnis, die Kanonfrage, der Unterscheidung zwischen philosophischer Argumentation und religiöser Motivation. Als eine Art Vermächtnis zum Umgang mit seinem Werk kann Ric¦urs nachdenkliche Differenzierung zwischen philosophischer und theologischer Sprache verstanden werden: Das Lesen philosophischer Bücher ist eine Privatangelegenheit. In der Philosophie gibt es nur Schulen, aber Schulen sind keine Kirchen (205).

Anliegen des Kongresses, aus dem der Band hervorgegangen ist, ist die Vernetzung der amerikanischen und europäischen Debatte um Ric¦urs Werk voranzutreiben. Dies wird auch von Jürgen Werbick in einem Geleitwort zu diesem Band betont. Es wäre zu wünschen, dass sich auch die deutschsprachige protestantische Theologie in diesen Diskurs einfindet.