Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

April/1998

Spalte:

402–404

Kategorie:

Autor/Hrsg.:

Kunze, Rolf-Ulrich

Titel/Untertitel:

Theodor Heckel 1894-1967. Eine Biographie.

Verlag:

Stuttgart-Berlin-Köln: Kohlhammer 1997. 239 S. gr.8° = Konfession und Gesellschaft, 13. Kart. DM 49,­. ISBN 3-17-014375-1.

Rezensent:

Norbert Friedrich

Rolf-Ulrich Kunze wendet sich in seiner Biographie einer Persönlichkeit zu, die in den letzten Jahren in der kirchlichen Historiographie kritisch gewürdigt worden ist bzw. Anlaß zu öffentlichen Kontroversen bot: Bischof (seit 1934) Theodor Heckel. War bisher nur Heckels kirchliche Tätigkeit in der Zeit des Nationalsozialismus Gegenstand der Forschung, so möchte der Autor nun eine kritische Gesamtwürdigung von Leben und Werk Heckels vornehmen.

Am Beispiel dieser umstrittenen Persönlichkeit möchte er die "Kontinuitätsproblematik" (10) behandeln, die sich immer wieder bei der Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus stellt. Er bezieht sich mit diesem Ansatz ausdrücklich auf Tendenzen in der neueren Biographieforschung, die, in Verbindung mit sozialgeschichtlichen Fragestellungen, zu weitergehenden Einsichten führen sollen. Gleichzeitig bekennt sich K. "zur streitbaren ’Subjektivität’ der Biographie" (11) und macht damit deutlich, daß er sich des Problems jeder Biographie bewußt ist. Aufgrund der schwierigen Ausgangslage in der Forschung spricht K. davon, eine "vorläufige Diskussionsgrundlage über die Rolle von Theodor Heckel im Dritten Reich und als Exponent des deutschen Protestantismus zwischen dem Ersten Weltkrieg und dem Ende der Ära Adenauer zu schaffen" (11).

Sein Ziel ist, zu einer Neubewertung der Person Heckels zu gelangen. Um dies zu erreichen, hat er sich um eine Verbreiterung der bisherigen Quellenlage bemüht. Grundlage und Stütze seiner Darstellung ist die umfangreiche, jedoch unfertige und unbearbeitete Autobiographie Heckels. Sie befindet sich, mit weiteren Materialien, im Besitz von Heckels Familie. Zusätzlich hat er u. a. auch bisher nicht systematisch ausgewertete Bestände des Archivs des von Heckel gegründeten Evangelischen Hilfswerkes für Internierte und Kriegsgefangene in München benutzt.

Sehr ausführlich schildert der Vf. Heckels persönliche Sozialisation. Sein Elternhaus war ein konservativ-orthodoxes lutherisches Pfarrhaus in Franken. Hier erhielt Theodor Heckel seine politische Prägung, die sich knapp als konservativ und national beschreiben läßt. Theologisch prägte ihn das Luthertum, die "bildungsvermittelte Theologie des lutherischen Bekenntnisses" (27), wie K. schreibt. Als seine theologischen Lehrer und Gewährsleute nennt der Vf. Friedrich Brunstäd, Werner Elert, Paul Althaus und auch Karl Holl.

Unterbrochen wurde sein Studium durch den Ersten Weltkrieg und die Revolution, Heckel wurde als Frontsoldat schwer verletzt. Das Kriegserlebnis war für seine weitere Entwicklung zentral, wobei K. insbesondere die Erfahrung der "elementaren Kraft des Verkündigungswortes" (47), die Heckel machte, erwähnt. Seine pastorale und seelsorgerliche Kompetenz hat hier ein Zentrum. Nach der Beendigung des Studiums betreute Heckel eine Diasporagemeinde im Münchner Süden, bevor er vom Landeskirchenamt als Studienrat an die Lehrerinnenbildungsanstalt Erlangen gesandt wurde. In dieser Zeit in Erlangen vertiefte er seine theologischen Studien und fertigte bei Paul Althaus eine Dissertation zu einem Aspekt der Theologie Richard Rothes an. Pläne für eine akademische Laufbahn, die in dieser Zeit entstanden, scheiterten. 1928 kam es für Heckel zu einer folgenschweren Weichenstellung. Er wechselte nach Berlin ins Kirchenbundesamt, wo er als Oberkonsistorialrat u.a. die Auslandsdiaspora und die Äußere Mission betreuen sollte.

Diese Aufgaben, die von Heckel viel diplomatisches Geschick und politische Zurückhaltung erforderten, führten gleichzeitig zu einer positiven Rezeption der volkstumstheoretischen Konzeptionen durch Heckel. Politische Abstinenz, Sorge um "seine" Auslandsgemeinden, enge Kontakte zu staatlichen Stellen zur Finanzierung der Auslandsgemeinden und theologische Divergenzen führten dazu, daß sich Heckel im beginnenden und eskalierenden Kirchenkampf nach 1933/34 nicht exponierte. Dennoch besteht für K. kein Zweifel, daß Heckel, den er zur Jungreformatorischen Bewegung zählt, ein Gegner des Nationalsozialismus und der Deutschen Christen war. Trotzdem wurde er 1934 vom Reichsbischof Ludwig Müller mit der Leitung des Kirchlichen Außenamtes betraut (also mit der Fortführung seiner bisherigen Tätigkeit), unter Führung des Titels "Bischof". K. erklärt die Einnahme dieser Position mit Heckels Bemühen, weiter die Auslandsgemeinden zu betreuen und die dort gemachten theologischen und kirchlichen Erfahrungen jenseits der Polaritäten des Kirchenkampfes in Deutschland fruchtbar zu machen.

Gründlich stellt der Vf. Heckels Tätigkeit als Auslandsbischof an Einzelbeispielen dar. Auf der Basis der vorhandenen veröffentlichten Archivalien und der Lebenserinnerung bemüht er sich um eine neue Einordnung von Heckels Wirken, das bisher nur sehr negativ gewürdigt worden ist. Heckels Taktieren und Lavieren, seine mangelnde und fehlende Unterstützung der ökumenischen Beziehungen und der Bekennenden Kirche begründet er, neben theologischen Differenzen mit der BK, wiederum mit seinem Arbeitsschwerpunkt der Auslandsdiaspora. Heckels berüchtigter Brief über Dietrich Bonhoeffer erfährt eine Relativierung in bezug auf dessen Wirkung und auf Heckels Intention, freilich steht hier die Argumentation auf nicht allzu starken Füßen. Für K. ist aber klar, dies macht er auch deutlich bei der Behandlung der Ereignisse um den 20. Juli, an denen auch Heckels Mitarbeiter Eugen Gerstenmaier beteiligt war, daß Heckel sicherlich kein Widerstandskämpfer war, er aber widerständiges Verhalten geduldet und auch stillschweigend unterstützt habe.

Auf eigene Initiative wurde von Heckel 1939 das "Evangelische Hilfswerk für Internierte und Kriegsgefangene" gegründet. Heckel prägte diese Arbeit, die im Laufe des Krieges immer wichtiger und auch nach dem Krieg fortgesetzt wurde. Diese Arbeit, die K. ausführlich schildert, brachte ihm den Titel "Vater der Kriegsgefangenen" ein. Nach dem Krieg galt Heckel aus sehr verständlichen Gründen als belastet, er wurde seines Amtes enthoben, Nachfolger wurde Martin Niemöller. Heckel ging zurück nach Erlangen und setzte seine Arbeit (seit 1947 auch für die EKD) für die Kriegsgefangenen fort. 1950 wurde er schließlich Dekan in München. Gerade seine Nachkriegsarbeit führte in den 50er Jahren zu einer gewissen Rehabilitierung Heckels, der mehrere offizielle Auszeichnungen erhielt. K. zieht ein kritisches, insgesamt aber positives Fazit des Wirkens Theodor Heckels, als einen der "letzten Vertreter des bewußten deutschen lutherischen Sonderweges" (d. h. der "reformatorischen Dialektik von Volk und Kirche", 208).

Die Ergebnisse dieser Arbeit stehen im Gegensatz zur bisherigen Forschung. K. kann mit vielen guten Argumenten belegen, daß eine Beschäftigung mit der Persönlichkeit und dem gesamten Leben Heckels zu einer Revidierung einiger älterer Urteile führen kann. Besonderes Augenmerk richtet er dabei auf Heckels Luthertum, das für seine gesamte Arbeit richtungsweisend war. Dennoch bleiben Fragen. Hat die Autobiographie Heckels tatsächlich den hohen Aussagewert, den K. ihr zuweist? Er ist sich zwar der Problematik der Textgattung Autobiographie bewußt, setzt ihren Aussagewert aber überraschend hoch an. Zwar kann er viele Ereignisse durch andere Quellen verifizieren bzw. falsifizieren, doch es bleiben Lücken.

In diesem Zusammenhang überrascht eine leider nicht ausreichend begründete Entscheidung K.s. Warum hat er nicht seine Quellenbasis durch die Einsicht der entsprechenden Archivalien im Archiv des Auswärtigen Amtes (Bonn) und des Ökumenischen Rates (Genf), die von den Heckel-Kritikern ausgewertet worden sind, eingesehen? Hier verläßt er sich auf die Darstellung von Armin Boysens und dessen Quellenanhang. Zu fragen ist auch, ob nicht weitere Archivalien hätten erschlossen werden können, die Heckels Arbeit im Kirchenbundesamt bzw. die Kontakte mit staatlichen Stellen betreffen. Zudem hat K.s Konzentration auf die Person Heckels Nachteile. Auch wenn er ausdrücklich betont, daß er keine Institutionengeschichte etwa des Kirchenbundesamtes schreiben möchte (auch wenn er viele Informationen liefert), erfordert eine sozialgeschichtlich verantwortete Biographie solche erweiterten Zugänge. ­ Umständlich und den Lesefluß hemmend ist K.s sehr ausführliche und minutiöse Belegpraxis, die auch nicht immer vollständig nachvollziehbar ist. Hier wäre weniger mehr gewesen. Allerdings belegt sie, daß sich K. mit der aktuellen geschichtstheoretischen, historischen und theologischen Literatur auseinandergesetzt hat, auch wenn man manche Bücher, die direkt das Thema behandeln, vermißt (etwa das Buch von Wolfram Weiße über die ökumenische Bewegung).

K.s Buch wird sicherlich noch lebhaft diskutiert werden, es eröffnet neue Fragen in der Kirchenkampfforschung und lädt zur Beschäftigung ein.