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Ausgabe:

Juni/2006

Spalte:

764–767

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Troeltsch, Ernst

Titel/Untertitel:

Rezensionen und Kritiken (1901­1914).

Verlag:

Hrsg. v. F. W. Graf in Zusammenarbeit m. G. von Bassermann-Jordan. Berlin-New York: de Gruyter 2004. XXV, 948 S. gr.8° = Ernst Troeltsch Kritische Gesamtausgabe, 4. Lw.Euro 228,00. ISBN 3-11-018095-2.

Rezensent:

Hermann Fischer

Troeltsch war ein Genie der Rezeption. Einen nicht unerheblichen Teil seiner Arbeitskraft hat er der Lektüre und kritischen Verarbeitung wissenschaftlicher Literatur gewidmet. Zählt man zu den Buch-Rezensionen die Sammelbesprechungen und seine »Theologischen Jahresberichte« über Neuerscheinungen zur »Religionsphilosophie und theologischen Prinzipienlehre« hinzu, dann hat er nach Auskunft des Herausgebers über 1300 Bücher vorgestellt! Dabei ist er strategisch vorgegangen und hat vornehmlich solche Bücher besprochen, die er für seine eigene Produktion nutzen konnte, daneben aber auch solche, die ihn einfach interessierten wie etwa A. v. Harnacks dreibändige »Geschichte der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin« (Wie verhält sich die Angabe der Seitenzahlen in der Überschrift der Rezension 117 zu der Angabe in Anm. 12 auf S. 118 ff.?). In manchen Fällen ist T. aber auch gegen seinen Wunsch bei Rezensionen einschlägiger Werke wie etwa solcher von Wilhelm Herrmann übergangen worden.

Im Rahmen der Kritischen Gesamtausgabe sind drei Bände für T.s umfangreiche Rezensionstätigkeit vorgesehen. Außer dem vorliegenden wird ein zweiter als Band 2 die Rezensionen und Kritiken von 1894­1900 enthalten, ein letzter als Band 13 die von 1915­1923. Der hier anzuzeigende Band ist für Troeltsch-Freunde und -Forscher eine Fundgrube und zeigt den Heidelberger Ordinarius auf der Höhe seiner Schaffenskraft. Er enthält 122 Rezensionen, des Öfteren werden allerdings mehrere Bücher oder mehrere Bände eines Autors, z. B. Bände der Akademie-Ausgabe der Werke I. Kants, in einer Rezension besprochen, so dass insgesamt 143 Publikationen vorgestellt werden. Die Vielzahl der in den Werken und in den Rezensionen behandelten Themenfelder (Theologische Prinzipienlehre, Dogmatik, Ethik, Dogmen- und Theologiegeschichte, Allgemeine Geschichte, Methodenfragen der historischen Forschung, Philosophie, Religionsgeschichte, -philosophie und -psychologie, Soziologie, Wirtschaftsgeschichte) spiegelt die Breite der eigenen Interessen und Publikationen T.s wider. Einige der hier abgedruckten Rezensionen konnte man schon in dem 1925 von H. Baron herausgegebenen 4. Band der Gesammelten Schriften T.s lesen, aber über das Ausmaß der Rezensionstätigkeit T.s, die für den angegebenen Zeitraum chronologisch und vollständig dokumentiert wird, und über die Bedeutung dieser Arbeit für seine eigene wissenschaftliche Produktion vermittelt erst dieser mustergültig edierte Band eine klare Vorstellung.

Es kennzeichnet T.s Besprechungen, dass er die in den Publikationen behandelten Themen zuerst in eine allgemeine und ihn selbst interessierende Problemlage einordnet. Wiederholt erfährt man aus den Rezensionen darüber mehr als über das vorgestellte Buch. Ob er über theologiegeschichtliche Monographien schreibt, über Untersuchungen zur Aufklärungstheologie und -philosophie, über Kant- oder Schleiermacher-Studien, über religionsphilosophische oder -psychologische Abhandlungen, jedes Mal entwickelt er zunächst einen übergeordneten Problemhorizont, auf den dann die vorzustellende Forschungsleistung bezogen wird. Nur an wenigen Beispielen lässt sich das jetzt skizzieren.

Die bekannte und umfängliche Rezension über die Dogmengeschichte des Mittelalters und der Neuzeit von Reinhold Seeberg (89­111) nutzt T., um am Leitfaden des Begriffs der lex naturae die notwendige Erweiterung der dogmengeschichtlichen durch eine kulturgeschichtliche Perspektive einsichtig zu machen. Für die beherrschenden religiösen Gedankenbildungen müssen »die großen kulturellen und institutionellen Zusammenhänge in den Vordergrund« gerückt werden (92). Ansatzweise geschieht das bei Seeberg, der dann aber doch wieder in die Bahnen einer reinen Geschichte der Dogmen zurücklenkt. Auch die durchweg kritische Rezension über August Dorners »Grundriß der Dogmengeschichte« von 1899 (142­154) ist nicht als Information über die Monographie interessant, sondern wegen der von T. als wesentlich charakterisierten Aufgaben der Dogmengeschichtsschreibung. Die wirklichen Probleme liegen weniger in der Rekonstruktion einzelner Dogmen als vielmehr in der Klärung und Beantwortung der Frage, »wie das ursprünglich gegen alle Kulturelemente, gegen Wissenschaft, gegen Staat, Recht und Gesellschaft, gegen innerweltliche Moral und Kunst gleichgiltige Christentum thatsächlich mit diesen Mächten sich auseinander gesetzt hat und wieweit diese thatsächlichen Auseinandersetzungen ein in sich zusammenhängendes geistiges Leben ergeben haben und ergeben können« (151). Man spürt hinter dieser Problemstellung den Stachel der Behauptung Franz Overbecks, nach der das ursprüngliche Christentum rein eschatologisch ausgerichtet und damit auf Weltverneinung fixiert war. Dieses Verständnis, das Overbeck in der 2. Auflage seiner Schrift »Über die Christlichkeit unserer heutigen Theologie« von 1903 noch verschärft hatte bis hin zur endgültigen Verabschiedung des Christentums und zu einer Invektive gegen die Theologen (vgl. 292­295), weist T. mit dem Argument zurück, dass für die Authentizität des christlichen Glaubens wohl der innere Anschluss der religiösen Überzeugungen an die Person Jesu notwendig sei, nicht hingegen eine »Übereinstimmung mit dem historischen Bilde des Urchristentums« (294).

In einigen Rezensionen über Werke des Reformkatholizismus von Josef Müller (112­115) Albert Ehrhard (196­206.609­614) oder George Tyrell (609­614), aber auch in Besprechungen von R. Seebergs Monographie über Duns Scotus (238­258), von Studien Heinrich Hermelinks über die Tübinger theologische Fakultät in vorreformatorischer Zeit bzw. über religiöse Reformbestrebungen des deutschen Humanismus (588­608) oder Paul Wernles über »Renaissance und Reformation« (683­688) profiliert T. sein eigenes Verständnis des Verhältnisses von Mittelalter, Reformation und Neuzeit. Ehrhards Versuch in »Der Katholizismus und das zwanzigste Jahrhundert im Lichte der kirchlichen Entwicklung der Neuzeit« von 1902 und in »Das Mittelalter und seine kirchliche Entwicklung« von 1908, den Katholizismus von seinen mittelalterlichen Zügen mit Inquisition, Kirchenstaat und Kreuzzügen zu befreien, dessen lehrmäßiges Grundgerüst mit der Suprematie des Papstes aber unangetastet zu lassen, hält T. für in sich widersprüchlich. Es bleibe unklar, wie ein neuzeitlich geläuterter Katholizismus unter Beibehaltung eines objektiv-absoluten Wahrheitsbegriffes überhaupt möglich sein soll. »Sofern der heutige Katholizismus diesen Wahrheitsbegriff festhält, ist er heute noch echtes Mittelalter, und würde er bei ungehinderter Machtentfaltung die mittelalterlichen Konsequenzen wieder hervorbringen müssen« (613).

Rezensionen über ethisch ausgerichtete Monographien, etwa von Otto Schilling über »Die Staats- und Soziallehre des hl. Augustinus« von 1910 (761­769) oder von Joseph Mausbach über »Die Ethik des heiligen Augustinus« von 1909 (788­796) geben T. Veranlassung, eine Teil-Thematik seiner »Soziallehren« zu behandeln, und dienen außerdem ­ zusammen mit der Besprechung des Augustin-Buches von Heinrich Scholz »Glaube und Unglaube in der Weltgeschichte. Ein Kommentar zu Augustins De Civitate Dei« von 1911 (770­775) ­ der Vorbereitung seiner eigenen Monographie über »Augustin, die christliche Antike und das Mittelalter« von 1915. Besonders gerühmt wird die gründliche und kenntnisreiche Studie von Gottfried Traub über »Ethik und Kapitalismus« (401­410). Den Vorschlägen Traubs zur Lösung der Frauenfrage kann T. allerdings nicht folgen, »wo ich meinerseits bei dem Prinzip des Männerstaates unbedingt bleibe« (408).

Das ist jetzt nur ein winziger Ausschnitt aus der Fülle der rezensierten Publikationen und aus dem Reichtum der von T. entwickelten Frage- und Problemstellungen.

Es wäre weiter zu berichten über die sympathische und in vielem zustimmende Rezension über William James¹ wirkungsreiche Monographie »The varieties of religious experience. A study in human nature« von 1902 (364­371), über die noble Würdigung seines Heidelberger Kollegen und Freundes Georg Jellinek (639­645) oder über T.s beherztes und geradezu gegenwartsnah anmutendes Eintreten für die Freiheit der Wissenschaft in den Kämpfen zwischen »liberaler« und »positiver« Theologie, die irgendwann die Stellung der theologischen Fakultäten an den Universitäten überhaupt gefährden könnten (701­708). Ob der Herausgeber gut beraten war, die Rezension über Heinrich Rickerts grundlegendes Werk »Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung. Eine logische Einleitung in die historischen Wissenschaften« (1902), die T. 1903 unter dem Titel »Moderne Geschichtsphilosophie« in der »Theologischen Rundschau« hat erscheinen lassen, nicht in den vorliegenden Band aufzunehmen, sondern T.s überarbeitete Fassung von 1913 für Band 10 der KGA vorzusehen? Hätte man nicht beide Fassungen dokumentieren sollen, da T. seine geschichtsphilosophischen Anschauungen fortlaufend modifiziert hat? Es muss bei Fragen, Andeutungen und Hinweisen bleiben (Soll es 57, Z. 7 v. o. nicht halten statt »haben« heißen; 523, Z. 20 v. o. nicht vor statt »von«? 763, Z. 16 v. u.: Confessiones statt »Confessionum«?).

Der Band gewährt einen guten Überblick über die damalige Diskussions- und Forschungslage und lässt sich zugleich als Hintergrundinformation über T.s eigene Werke lesen. Zu beidem tragen die glanzvolle Einleitung (1­70) und die schon aus den bisherigen Bänden bekannten und vorzüglichen Biogramme bei (813­836). Ein Verzeichnis der von T. rezensierten Schriften und der von ihm genannten Literatur, der von den Herausgebern genannten Literatur sowie ein Personen- und Sachregister beschließen den Band. Man kann den Herausgeber und seine Mitarbeiterin zu dieser beeindruckenden Editionsleistung nur beglückwünschen und dem Ergebnis die ihm gebührende Aufmerksamkeit wünschen, angeleitet durch zwei Sätze, die T. in der Auseinandersetzung mit der kritischen Studie Theodor Kaftans über seine Theologie formuliert (655) und die die Intention seines Wirkens gut auf den Begriff bringen: »Das Absolute ist bei Gott, alle menschliche Wahrheit ist etwas Relatives, aber durch irgendeinen Zug auf das Absolute bezogen. Wir leben in Annäherungswerten und überwinden gerade darin den Unterschied des Relativen und Absoluten.«