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Ausgabe:

Juni/2006

Spalte:

752–754

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Keßler, Martin, u. Volker Leppin [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Johann Gottfried Herder. Aspekte seines Lebenswerkes.

Verlag:

Berlin-New York: de Gruyter 2005. X, 437 S. gr.8° = Arbeiten zur Kirchengeschichte, 92. Lw. Euro 118,00. ISBN 3-11-018427-3.

Rezensent:

Martin Ohst

In seinem Geleitwort zur deutschen Übersetzung von Th. Carlyles Schiller-Biographie (1830) bemerkte Goethe, Herders geschichtsphilosophisches Hauptwerk, die »Ideen«, seien »bei uns dergestalt in die Kenntnisse der ganzen Masse übergegangen, daß nur wenige, die sie lesen, dadurch erst belehrt werden, weil sie durch hundertfache Ableitungen von demjenigen, was damals von großer Bedeutung war, in anderem Zusammenhange schon völlig unterrichtet worden« (WA I/42, I, 189). Diese Ansicht, dass Herders Werk durch seine Wirkung gleichsam aufgehoben worden sei, ist weit verbreitet.

Die 19 Beiträge des hier anzuzeigenden Sammelbandes stammen aus allen Disziplinen, die sich gegenwärtig mit Herder beschäftigen (Theologie, Philosophie, Germanistik, Kulturgeschichte). Sie erweisen immer wieder den Wahrheitskern von Goethes Urteil, indem sie auf die kaum übersehbaren Fernwirkungen Herders hinweisen. Aber sie zeigen auch, dass es dem Reichtum und der Komplexität von Herders Lebenswerk letztlich nicht gerecht wird: Allenthalben finden sich bei genauerem Hinsehen Einsichten und Gedanken, die noch der Entdeckung und Wirkung harren (exemplarisch R. Wisbert, Geschichte und Schule bei Johann Gottfried Herder, 353­367, bes. 366f .; eng verwandt ist der Beitrag von C. Leuser, Herders Konzeption von der »Erziehung des Menschengeschlechts im Kontext seines Lebenswerks«, 219­232).

Hervorgegangen ist der Band aus einer Tagung anlässlich der 200. Wiederkehr von Herders Todestag im Dezember 2003. Veranstalter war das Herder und dem Weimarer Oberkonsistorium gewidmete kirchengeschichtliche Teilprojekt des SFB 482 »Ereignis Weimar-Jena. Kultur um 1800«. Ein Beitrag (M. Keßler, Herders Kirchenamt in Sachsen-Weimar in der öffentlichen Wahrnehmung von Stadt- und Hofkirche, 327­351) gibt vielversprechende Einblicke in dessen Arbeit: Anhand bislang unpublizierter Predigtkonzepte Herders und anderer neu erschlossener Quellen gibt er neue Einblicke in Herders Predigttätigkeit und ihren gesellschaftlichen Kontext. Auch die Autoren aus den anderen Fächern zeigen immer wieder, in welch hohem Maße wissenschaftliche Theologie und praktische kirchliche Tätigkeit miteinander ein strukturierendes Kontinuum in Herders oftmals amorph wirkender rezeptiver und produktiver Vielgeschäftigkeit gebildet haben (aus origineller Perspektive besonders markant bei M. Maurer, Herder und das Fest. Privat, kirchlich, politisch, 369­382; an vielen Einzelzügen, etwa an seinem Widerwillen gegen alles »Höfische«, wird hier ersichtlich, wie tief Herder lebenslänglich von seiner Erziehung im Geiste des ostpreußischen, also von A. H. Francke bestimmten Pietismus geprägt geblieben ist). Deutlich wird immer wieder, wie eng bei Herder kultur- und geschichtsphilosophische Überlegungen mit theologischen verknüpft sind. So nimmt B. Auerochs (Poesie als Urkunde. Zu Herders Poesiebegriff, 94­114) seinen Ausgang bei der Beobachtung, dass Herders Umgang mit geschichtlichen Gegenständen gern als »ästhetisch« charakterisiert wird und dass (nicht nur) Theologen damit den Vorwurf verbinden, Herder verflüchtige so Traditionsbestände ins Unbestimmte und Beliebige. Er zeigt, wie weit dieser Vorwurf an Herders Intentionen vorbeigeht; vielmehr war für Herder gerade die »ästhetische« Einfühlung in alte Überlieferungsbestände »ein Medium der notwendigen Selbstkritik der Gegenwart, deren Blößen durch die Konfrontation mit der Vergangenheit überhaupt erst aufgedeckt werden können« (100).

Wie G. Sauder (Altes Testament ­ neue Literatur der siebziger Jahre, 29­45) vorführt, sind Herders alttestamentliche Arbeiten auch zu verstehen als konstruktiver »Rückgang auf die Ursprünge der Menschheitsgeschichte« (31) angesichts der »Vergreisung der gegenwärtigen Kultur« (29). Kulturphilosophie bzw. Kulturkritik und Theologie nähern sich bis zur Verschmelzung: »Für den Theologen Herder war die Semantik vom ðUrsprungÐ nicht zuletzt theologisch besetzt« (32); seine Auslegung der biblischen Urgeschichte war also auch ein Akt der Kulturkritik (35 f.). Wahrscheinlich tut gerade der theologische Leser gut daran, sich diese Zusammenhänge klarzumachen, bevor er bekannteres Terrain betritt und sich an die drei allesamt ganz vorzüglichen Beiträge macht, die aus fachexegetischer Perspektive dem Bibelausleger Herder gewidmet sind: R. Smend (Herder und die Bibel, 1­14) gibt einen ebenso detailreichen wie reizvollen Gesamteindruck von Herders Lektüre der Bibel, die auch darin zutiefst ðmenschlichÐ war, dass sie sich bisweilen in abwegige Hypothesen verrannte (ðvormosaischerÐ Ursprung der Urgeschichte), dann aber auch wieder zu Hypothesen gelangte, an denen die Exegeten der Folgezeit »nicht viel zu korrigieren« brauchten (11, zum Hohenlied) ­ dann jedenfalls, wenn man, wie Smend mit kritischem Seitenblick bemerkt, nicht »biblische Texte nur von ihrem späteren Zusammenhang oder gar von ihrer nachbiblischen Wirkungsgeschichte her verstehen möchte und ihren ursprünglichen Sinn für mehr oder weniger gleichgültig hält« (10). In Herders relativ wenig bekannte Arbeiten zum Neuen Testament führt J. Frey ein (Herder und die Evangelien, 47­91): Herder kann als »Pionier der religionsgeschichtlichen Erklärung« des Neuen Testaments gelten (75). Chr. Bultmann (Bewunderung oder Entzauberung? Johann Gottfried Herders Blick auf Mose, 15­28) zeigt mit einem Seitenblick auf Lessing, wie entschlossen Herder das Verständnis des Mose von den Resten der Übermalung durch die Schemata herkömmlicher Offenbarungstheologie und Heilsgeschichte löst: »Sein Israel ist nicht mehr die einzigartige Kirche der Verheißung des Alten Bundes Š, sondern ein Traditionsglied in einem Traditionsgeschehen, das viele parallele Bahnen hat« (26 f.).

Damit ist der Übergang zu den systematisch-theologischen Intentionen und Leistungen Herders gegeben. Was ihm hier vorschwebte, war ein Neubau von Grund auf; seine Verwendung herkömmlicher Begriffe kann darüber leicht hinwegtäuschen (bezeichnend dafür der o. g. Aufsatz von C. Leuser). Den herkömmlichen geschichtstheologischen Rahmen christlicher Selbstverständigung gab er ebenso preis wie die Erbsündenlehre; stattdessen entwickelte er in einer universalgeschichtlichen bzw. religionsgeschichtlichen Perspektive seine im Humanitätsbegriff gebündelte Anschauung von der göttlich geleiteten Durchbildung der Menschheit zu ihrer Wahrheitsgestalt, in die zentral Jesu Werk und Weg hineingehört; für deren Deutung machte Herder von den Vorgaben des trinitarischen und christologischen Dogmas keinen Gebrauch mehr (G. Arnold, Von den letzten Dingen ­ eschatologische Elemente in Herders Werk und ihre Quellen, 382­411). Herders wichtiger Gesprächspartner in seiner Arbeit an der Neufassung des Gottesbegriffs war Spinoza, wie J. Rohls in einer außerordentlich instruktiven historisch-systematischen Studie zu Herders Stellung im Pantheismusstreit darlegt (Herders »Gott«, 271­291; vgl. auch U. Gaier, Herders Systematologische Theologie, 203­218). ­ War der »Erzbischof von Weimar« (Keßler, 327) Vorkämpfer eines individualistischen »Ideal[s] freier Religiosität« (M. Wolfes, 293­307) oder vertrat er zutiefst ein Bildungs- und Erziehungsideal »eindeutig lutherischer Provenienz« (325), für welches die »Bildungs- und Kultusinstitute der christlichen Gemeinde unter der Obhut der von der Gemeinde eingesetzten Amtsträger« (322) konstitutiv sind (E. Herms, Bildung des Gemeinwesens aus dem Christentum. Beobachtungen zum Grundmotiv von Herders literarischem Schaffen, 310­325)? Belege für beide Deutungsmöglichkeiten finden sich bei Herder in Fülle. Welcher man (mit welchen Modifikationen) zustimmt, hängt wohl auch davon ab, welche Potentiale man dem protestantischen Christentumsverständnis zutraut. Vielleicht gehört ja gerade im Wirkungsbereich der lutherischen Reformation beides untrennbar zusammen?

Soviel ist deutlich: Dass es solche Fragen aufwirft, zeigt, dass in Herders Lebenswerk immer noch eine Fülle von Fragen und Impulsen steckt. ­ Und wenn man sich von solchen weiterführenden Überlegungen erholen will, dann lese man die schönen biographischen Beiträge von H.-D. Irmscher (Goethe und Herder ­ eine schwierige Freundschaft, 233­270) und G. E. Grimm (»das Beste in der Erinnerung«. Zu Johann Gottfried Herders Italien-Bild, 151­177). Wie der Aufsatz von Smend sind auch sie in besonderem Maße dazu geeignet, Interesse an Herder zu wecken.