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Ausgabe:

Juni/2006

Spalte:

750–752

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Goldenbaum, Ursula [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Appell an das Publikum. Die öffentliche Debatte in der deutschen Aufklärung 1687­1796.

Verlag:

M. Beiträgen v. F. Grunert, P. Weber, G. Heinrich, B. Erker u. W. Siebers. 2 Bde. Berlin: Akademie Verlag 2004. Teil 1: XII, 508 S. m. Abb.; Teil 2: S. 509­970 m. Abb. gr.8°. Geb. Euro 158,00. ISBN 3-05-003880-2.

Rezensent:

Eva Kirn-Frank

Zentrale Gestalten der deutschen Aufklärungsliteratur betrachteten die im 18. Jh. errungene Publizität fraglos als eine Frucht der Lutherschen Gewissensfreiheit. Es war die Form der Wahrheitskonstitution, das Selbstdenken und der öffentliche Austrag von Differenzen, weshalb auch Weltkinder wie Wieland sich in der Schuld des Reformators wussten. Zum Selbstverständnis dieser historischen Filiation ruft ein fanalroter Doppelband zurück, den die Philosophiehistorikerin Ursula Goldenbaum (Berlin/Atlanta) herausgab: Die durch die postfriderizianische Reaktion gekappten Kontinuitätsfäden sollen wieder verknüpft werden. G. widerspricht vehement der seit Habermas¹ »Strukturwandel« gängigen These, die deutsche Aufklärung habe zur »bürgerlichen Öffentlichkeit« als der »Sphäre der zum Publikum versammelten Privatleute« über den Umweg von literarischer Gefühlskultur und privatem Vereinswesen gefunden und sich erst ab 1770 langsam unter westeuropäischem Einfluss politisiert. Die preußische Aufklärung sei weder zurückgeblieben noch unpolitisch gewesen. Vielmehr habe sie von Anfang an, noch vor 1700, auf Öffentlichkeit gesetzt; und wenn die theologischen Debatten dominiert hätten, sei es darin doch zugleich »um Toleranz und Religionsfreiheit, also um ein eminent politisches Thema« (6) gegangen. Zielgerichtet und vernetzt hätten Dissidenten den auf Argumente setzenden Meinungsaustausch als Bedingung der Möglichkeit von Wahrheitsgewinnung gegenüber dem herrschenden Diskurs durchzusetzen gesucht. G. zeigt Aufklärung als kommunikative Praxis, die ausbilden zu können, anders als im katholisch-absolutistischen Frankreich, eine besondere Chance der Bedingungen des Alten Reichs gewesen sei.G. bündelt mit ihren Mitautoren sieben konkrete, publizistisch verhandelte Streitfälle von überregionaler Bedeutung, an denen die ­ prekäre ­ Zunahme von Rationalität, öffentlichem Meinungsaustrag und publizistischen Foren dargetan werden soll ­ ein überzeugender Ansatz, um über Einzelpositionen hinaus Ideen- und Sozialgeschichte zu verknüpfen. Die früheste Debatte kam gleich nach der Revokation des Edikts von Nantes. Der Kopenhagener Hofprediger Masius widerriet der Aufnahme hugenottischer Exulanten wegen mangelnden Obrigkeitsglaubens der Calvinisten. Die Loyalitätsbekräftigungen von lutherischer und reformiert-brandenburgischer Seite mündeten, wie Frank Grunert zeigt, im Patt wechselseitiger Denunziationen. Christian Thomasius gelang der Perspektivenwechsel, gegen die polittheologische Immediatgewalt der Obrigkeit spielte er, so Grunert, die säkulare Theorie vom Herrschaftsvertrag aus, überführte die Debatte in einen juristisch-philosophischen Diskurs und stritt »ganz prinzipiell gegen jegliche politische Funktionalisierung der Religion« (155). Thomasius¹ Streitinszenierung ­ auf Deutsch, in den »Monatsgesprächen«, im fiktionalen, satirischen Dialog ­ habe es erlaubt, Wahrheitsdekretierung zu desavouieren und das Publikum zum Richter einzusetzen.

Die umfangreichste Untersuchung, zugleich G.s Habilitationsschrift, gilt dem »Skandal der Wertheimer Bibel«, in dem sie »die philosophisch-theologische Entscheidungsschlacht zwischen Pietisten und Wolffianern« sieht. Allgemein verkannt (mit Ausnahme Emmanuel Hirschs), habe der Streit um die rationalistische Pentateuch-Übersetzung von Johann Lorenz Schmidt einen theologisch-philosophischen Meilenstein gesetzt, hermeneutisch wegweisend, bedeutsam für die Neologie und Reimarus¹ späteren Deismus. Der von G. minutiös rekonstruierte Federkrieg (der Publikationsstrategie unter dem Schutz der protestantischen Grafen von Wertheim antwortete eine pietistisch-orthodoxe Gegenoffensive von Halle aus) gibt ein spannendes Beispiel dafür, wie von 1734 bis 1738 eine öffentliche Debatte ertrotzt werden konnte. Eine Zeit lang kam es denn doch zur Argumentation in der Sache: über die Grenzen rationaler Begriffe und die Versprachlichung christlicher Mysterien. Das neue Medium der Gelehrten Zeitungen (Hamburg und Leipzig), die jenseits der akademischen Hierarchien vom Markt lebten, habe den öffentlichen Raum geschaffen, um über das Verhältnis von Vernunft und Offenbarung zu debattieren, und so von der Freiheit der Textlektüre zur Denkfreiheit weitergeführt. ­ Die prinzipielle Bedeutung der Streitfälle betonen auch zwei weitere Beiträge G.s: um der Freiheit der Wissenschaft willen habe sich gegen den »Jugement« von Friedrichs II. Akademie eine europäische Gelehrtenkoalition erhoben; und Lessing habe gegen den Kopenhagener Hofprediger Cramer das vernunftgemäße Denken und die Autonomie der Moral gegen das schwärmerische, ästhetisch aufgeladene Christentum der Klopstock-Partei verteidigt, das unter Berufung auf die Wahrheit subjektiven Empfindens alle Andersgläubigen denunzierte.

Die »Publizistische[n] Strategien der preußischen Justizreformer 1780­1794« rechtfertigt Peter Weber: Die Autoren des ALR hätten sich lediglich im Blick auf das Realisierbare mit menschenrechtlichen Forderungen zurückgehalten. Abgesehen vom begrenzten Nutzen dieser »Obrigkeitskonformität« (802) hat freilich schon 1793 Kant in seinem Theorie-und-Praxis-Artikel vor deren korrumpierenden Folgen gewarnt (Über den Gemeinspruch Š, Akad.-A. 8). ­ Brigitte Erker und Winfried Siebers deuten die empörten Reaktionen (1790­96) auf das Kotzebuesche, allonym lancierte »Bahrdt-Pasquill« dahin, dass die Regeln der Streitkultur inzwischen allgemein akzeptiert waren. An der antiaufklärerischen Farce könnte man aber auch die Fragilität des Konsensus¹ dartun, den alsbald (para-)romantische Autoren vollends aufkündigten.

Detailreich und konzis entfaltet Gerda Heinrich die Debatte um Dohms berühmte »bürgerliche Verbesserung der Juden« (1781­1786). Die viel diskutierte Genese der Denkschrift verortet sie im Kontext der preußisch-österreichischen Rivalität: Angesichts von Friedrichs II. Judenhass sei die brisante Publikation eben dadurch möglich gewesen, dass Hertzberg darin die »einzigartige Chance [sah], ein eklatantes reformpraktisches Zurückbleiben Preußens gegenüber Österreich publizistisch zu kompensieren« (832). Heinrich betont Dohms (mitunter verkannte) Priorität der Gleichstellung gegenüber der Regeneration und Mendelssohns zielgerichtete Eingriffe ­ dessen Trennung von Staat und Kirche in Jerusalem freilich den Horizont der Mitdiskutanten überschritten habe. Gegner und Befürworter benennt der sehr lesenswerte Beitrag ebenso deutlich wie Dohms Einfluss auf die französische Emanzipation von 1791. ­ Historiker sahen schon bisher, dass auch die theologischen Dispute eine »politische Komponente« (Rudolf Vierhaus) hatten. Hier aber wird detailliert belegt, wie wichtig die Verhältnisbestimmung von Vernunft und Glauben auch für die Laienöffentlichkeit war. Zwar bedürfte das »Politische« der deutschen Aufklärer der Diskussion ­ sie forderten nicht politische, sondern bürgerliche Rechte; und die Konstruktion eines »ideellen Vorsprung[s]« der Berliner Emanzipationsgedanken (887) wie die Leugnung der westeuropäischen Avantgarde überzeugen wenig. Doch wenn man die Proportionen im Auge behält ­ die Multiplikatoren an den Universitäten lehrten Naturrecht nicht zum Schutz des Bürgers, sondern als (propädeutische) Pflichtenlehre zu Gunsten umfassender Staatszwecke, und lehnten mehrheitlich die »überspannten Begriffe von der Freyheit des Menschen« (Fr. C. v. Moser) ab ­, füllt der vorliegende »Appell« durch seine historische Verortung innovativen öffentlichen Argumentierens nicht nur wichtige Lücken, er stiftet auch zu weiterer Differenzierung der Aufklärungsbewegung an.