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Ausgabe:

April/1998

Spalte:

400–402

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Koch, Ernst, u. Johannes Wallmann [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Ernst Salomon Cyprian (1673-1745) zwischen Orthodoxie, Pietismus und Frühaufklärung. Vorträge des Internationalen Kolloquiums vom 14. bis 16. September 1995 in der Forschungs- und Landesbibliothek Gotha Schloß Friedenstein.

Verlag:

Gotha: Forschungs- und Landesbibliothek 1996. 256 S. m. 17 Abb. 8° = Veröffentlichungen der Forschungs- und Landesbibliothek Gotha, 34. Kart. DM 22,­. ISBN 3-910027-10-5.

Rezensent:

Detlef Döring

Trotz mancher bahnbrechenden Arbeiten zur lutherischen Orthodoxie, die seit Hans Leubes bekannter Studie über die Reformorthodoxie vorgelegt worden sind, ist dieses Thema bis heute ein doch eher spärlich bestelltes Feld der Forschung geblieben. Es teilt dieses Schicksal freilich mit der Forschung zur deutschen Geistesgeschichte des 17. Jh.s überhaupt, wobei diese Zurückhaltung nicht allein in der immer noch bestehenden abwertenden Beurteilung jener Zeit ihre Begründung findet, sondern sicher auch durch rein äußere Gründe bedingt ist, z. B. in den heute geminderten Lateinkenntnissen. Innerhalb der nicht sonderlich intensiven Beschäftigung mit der Orthodoxie stößt nun, worauf J. Wallmann im Eröffnungsvortrag des vorliegenden Bandes zu Recht hinweist, die Spätzeit (ausgehendes 17. Jh./1. Hälfte 18. Jh.) auf eine besonders geringe Beachtung. Zu den hervorragenden Vertretern der Spätorthodoxie zählt Ernst Salomon Cyprian, der über vier Jahrzehnte in der thüringischen Residenzstadt Gotha wirkte. Gotha bzw. die dortige Forschungs- und Landesbibliothek war daher auch der rechte Ort, um im Rahmen eines Kolloquiums seines 350. Todestages zu gedenken. Die dort gehaltenen Referate werden in der hier zu besprechenden Publikation der Öffentlichkeit nach einer für heutige Verhältnisse als sehr kurz zu bezeichnenden Zeitspanne vorgelegt. Dafür allein schon gebürt Dank und Anerkennung.

Positiv ins Auge fällt im übrigen die intensive Quellennähe fast aller vorgelegten Beiträge; der in einem beachtlichen Umfang überlieferte Nachlaß Cyprians ist hier erstmals in größerer Breite durch die Forschung genutzt worden. Als weitgehend ausgewogen erscheint auch die auf der Tagung verfolgte thematische Orientierung. Cyprians Stellung innerhalb der Orthodoxie findet gleichermaßen Beachtung wie sein kritisches Gegenüber zu Pietismus und Aufklärung, zu Atheismus und den Unionsbestrebungen innerhalb des Protestantismus. Was fehlt, ist eigenartigerweise (in Anbetracht des Tagungsortes) Cyprians Bedeutung als Bibliothekar und Büchersammler. Auch sein Wirken als Historiograph ist mit einem Beitrag (Gustav Adolf Benrath: E. S. Cyprian als Reformationshistoriker) vielleicht unterrepräsentiert. Von den 15 im Band vereinigten Vorträgen können hier nur einige vorgestellt werden, wobei sich der Rez. auf diejenigen konzentriert, die ihm für die Diskussion um das Verhältnis zwischen Orthodoxie, Pietismus und Aufklärung von besonderem Interesse zu sein scheinen.

Einen allgemeinen Abriß des Lebens und Wirkens Cyprians bietet der durch zahlreiche Arbeiten als sehr guter Kenner der mitteldeutschen Kirchengeschichte ausgewiesene Ernst Koch. Die Darstellung kann nur als solide und ansprechend bezeichnet werden. Vermeiden sollte man jedoch solche dunkel orakelhaften Wendungen wie die, daß "die tiefen Schatten der Aufklärung ... bisweilen auch unsere Zukunft verdunkeln" würden; in seiner Aufklärungskritik werde Cyprian damit für uns aktuell usw. Aufklärungskritik, die durchaus ihre Berechtigung besitzt, ist ein zu diffiziles Geschäft, als daß es mit solchen aphoristischen Notizen bewerkstelligt werden kann.

Grundsätzlichen Charakter trägt der Vortrag von J. Wallmann zum Stand der Forschung zur lutherischen Orthodoxie zur Zeit Cyprians. Wallmann verweist eingangs knapp, aber überzeugend auf die Konkurrenzsituation der Orthodoxie der 1. Hälfte des 18. Jh.s zum Pietismus und zur Aufklärung, die jetzt neben der früher alleinherrschenden Orthodoxie immer stärker an Boden gewinnen; Cyprians Wirken ist, wie der Untertitel des Bandes ja auch betont, ganz aus diesem Neben- bzw. Gegeneinander zu verstehen. Dabei ist nach Wallmann die in das Aufklärungsjahrhundert hineinwirkende Orthodoxie entgegen landläufiger Auffassungen keineswegs nur als kläglicher Abgesang früherer Größe zu verstehen. Sie sei vielmehr noch lebendig und einflußreich gewesen. Wallmann glaubt nun, der sich aus jener Beobachtung ergebenden Schwierigkeit in der Charakterisierung der späten Orthodoxie damit begegnen zu können, daß er den Begriff der "vernünftigen Orthodoxie" aufgreift, der innerhalb der Forschungen zur reformierten Orthodoxie verbreitet ist. Cyprian erscheint dann u. a. zusammen mit Buddeus und Mosheim als Hauptvertreter jener vernünftigen Orthodoxie innerhalb des Luthertums, die z. B. die Alleingültigkeit der aristotelischen Philosophie negiert und innerhalb der Theologie der Wolffschen Demonstrationsmethode Raum gibt. Ein guter Teil der Übergangstheologie wird so bei Wallmann zu einem (ausklingenden) Entwicklungsabschnitt der Orthodoxie. Dieser Versuch, das schwierige Nebeneinander und Gegeneinander von Orthodoxie, Pietismus und Aufklärung terminologisch zu erfassen, ist sicher zu würdigen und zu diskutieren. Den Rez. kann er jedoch nicht überzeugen.

Die inhaltliche Beschreibung der vernünftigen Orthodoxie bleibt doch recht blaß und unklar; Cyprians Einbindung in diese Gruppierung wird kaum näher begründet. Vor allem bleibt die Frage, wie denn die orthodoxen Theologen, die sich auch weiterhin entschieden gegen Leibniz und Wolff und der von ihnen ausgehenden Schulrichtung aussprechen, dann zu bezeichnen sind. Diese Theologen finden sich gerade auch an den Universitäten, die nach Wallmanns Darstellung nach 1700 dort kaum noch vertreten sein sollen. Wer jedoch beispielsweise den äußerst heftigen, mit allen Mitteln geführten Kampf der sicher nicht bedeutungslosen Leipziger Theologischen Fakultät gegen die Berufung Wolffs oder gegen die Tätigkeit eines so entschiedenen Wolffianers wie Gottsched verfolgt, wird sich von der Stärke dieser Richtung vergewissern können.

Noch weniger überzeugt die an äußeren Beobachtungen festgemachte Argumentation von Johann Anselm Steiger (E. S. Cyprian ­ Vertreter einer verspäteten Orthodoxie?), der sich übrigens auch des Begriffs der vernünftigen Orthodoxie bedient, Cyprian könne nicht als wirklicher Orthodoxer bezeichnet werden, da er die "rechte Lehre" zu wenig von der Kanzel herab verkündigt habe und nicht über die Sprachgewalt früherer Theologen verfügte. Der in der Geschichte der Predigt wenig beschlagene Rez. ist dennoch der Auffassung, daß sich ähnliche Fälle sicher auch aus der Zeit der Hochorthodoxie finden lassen werden. Der Hinweis, Cyprian habe der Vernunft gewisse Konzessionen eingeräumt, was ihn aus den Reihen der Orthodoxen hinausführt, kann wenigstens in der vorgebrachten knappen Darlegung nicht einleuchten, da die Vernunft bekanntlich innerhalb der Orthodoxie eine erhebliche, wenn eben auch immer dienende Rolle spielte. Es hätte deutlicher ausgeführt werden müssen, wo hier Cyprian über eine gewisse Grenze hinausschreitet.

Eine Neubestimmung des Verhältnisses zwischen Orthodoxie und Pietismus versucht Kenneth G. Appold in einem Beitrag über Abraham Calov als Vater der lutherischen Spätorthodoxie. Calov habe eine theologische Orientierung verfolgt, die dem praktischen Leben der Kirche und der Frömmigkeit des einzelnen mehr Raum läßt. Daher stehe Calov und mit ihm die Spätorthodoxie dem Pietismus durchaus nahe. Die Theologiegeschichte sollte in diesem Sinne umgedacht werden. Cyprians Feindschaft dem Pietismus gegenüber könne nur aus Gründen erklärt werden, die bei ihm selbst liegen. Daß die Orthodoxie bei weitem nicht mit dem Schlagwort Verfechterin des "toten Buchstaben" charakterisiert werden kann, ist nun jedoch ganz gewiß keine zum Umdenken auffordernde neuartige Erkenntnis; die Ablehnung des Pietismus durch Cyprian sozusagen zu psychologisieren, wirkt ganz und gar unüberzeugend.

In den oder wenigstens einen der Mittelpunkte der Ursache für Cyprians grundsätzlich verankerte Frontstellung gegen den Pietismus führt dagegen der Aufsatz von Hans Schneider über Cyprians Auseinandersetzung mit Gottfried Arnolds "Kirchen und Ketzerhistorie". Cyprian habe die Sicherheit des Staates vor allem durch ein enges Bündnis mit der auf ein Bekenntnis verpflichteten Landeskirche gesehen. Der radikalpietistische Angriff Arnolds, der nach Cyprian Indifferentismus und Synkretismus zum Hintergrund hatte, habe auf eine Lösung dieser Verbindung gezielt. Die praktischen, d. h. kirchenpolitischen Auswirkungen des Antipietismus Cyprians schildern anschaulich und quellennah zwei Beiträge von Horst Weigelt über dessen Auseinandersetzung mit Separatisten in Coburg und von Dietrich Meyer über Cyprians erfolgreiche Abwehr der Etablierung einer Herrnhuter Siedlung im Fürstentum Gotha.

Einen sehr nützlichen und kundigen Überblick über die Geschichte des Nachlasses von Cyprian gibt Maria Mitscherling, die wohl beste Kennerin der neueren Handschriften der Gothaer Bibliothek. Die Korrespondenz Cyprians, der wichtigste Teil des Nachlasses, ist mit ca. 11.500 Blatt eine der wohl umfangreichsten uns überlieferten des 18. Jh.s im mitteldeutschen Raum. Daß sie nach einer aus neuen Aktenfunden gewonnenen Erkenntnis schon kurz nach Cyprians Tod um manche brisante Stücke "gereinigt" wurde, ist freilich bedauerlich. Es wäre sicher sehr erfreulich, wenn es der Forschungsbibliothek gelingen würde, in absehbarer Zeit ein Repertorium der erhaltenen Cyprian-Korrespondenz publizieren zu können. Die Forschung würde dadurch einen kräftigeren Impuls empfangen als durch manche zu eilige Theoriebildung.