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Ausgabe:

Juni/2006

Spalte:

735–738

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Brodie, Thomas L.

Titel/Untertitel:

The Birthing of the New Testamen. The Intertextual Development of the New Testament Writings

Verlag:

Sheffield: Sheffield Phoenix Press 2004. XXXII, 653 S. m. Abb. gr.8° = New Testament Monographs, 1. Geb. Euro 97,00. ISBN 1-905048-03-3.

Rezensent:

Theo K. Heckel

Brodie sammelt in diesem Buch seine Beobachtungen zu literarischen Bezügen innerhalb der Bibel, um die Keimzelle des Neuen Testaments durch bislang verborgene Textbezüge und erschlossene Zwischentexte zu erklären. Seine Grundannahme eines Protolukas, der sich u. a. auf die Elia-Elisa-Erzählungen der Königsbücher und 1Kor stütze, macht schnell deutlich, dass B. mit kühnen Sonderthesen in die Fachdiskussion eingreifen will.

B. führt in einem Vorspann (XXVII­XXX) in die vier Teile seines Werkes ein. Der erste Teil führt mit allgemeinen Erwägungen an das Thema heran (Kapitel 1­9). Der zweite Teil entfaltet die Hauptthese (Kapitel 10­26). Der dritte Teil bietet vertiefende Einzelstudien (Kapitel 27­54). Der vierte Teil fügt acht Appendizes an. Eine Bibliographie (607­639) und mehrere Register (640­653) beschließen das äußerlich gut strukturierte Buch.

Die allgemeine Einführung betont vor allem die Bedeutung von Imitationen in der antiken Schriftstellerei innerhalb und außerhalb der Bibel. So stellt B. Vergils Homer-Imitation in der Aeneis u. a. die Chronikbücher zur Seite und deutet an, dass er den Ursprung des Neuen Testaments aus ähnlichen Imitationsprozessen heraus erklären will. Literarische Abhängigkeit begrenzt B. dabei nicht auf die Übernahme von einzelnen Worten. Er stellt einen breiten Katalog möglicher Bezüge auf, der vielfältige Strukturparallelen sammelt (43­49). Weil er sich dabei auf literarische Bezüge konzentriert, ohne außertextliche Bedingungen zu erfassen, greift das Stichwort »Intertextualität«, wie es bereits der Untertitel des Buches festhält. Die methodischen Ausführungen zur Intertextualität fallen allerdings recht knapp aus (74). B. zitiert aus einem Einführungsaufsatz zum Thema zustimmend die These, dass Intertextualität ein vornehmlich (»primarily«) anthropologischer Fachbegriff sei, der sich auf die Interaktion ganzer Kulturen beziehe (74). Die intertextuellen Bezüge der Bibel verlangen m. E. freilich eine präzise Angabe der konkreten literarischen Abhängigkeiten, die Ausgangstext und Folgetext als solche definieren. Die Unschärfe in der Metadiskussion arbeiten die folgenden praktischen Ausführungen B.s nicht auf.

Inhaltlich gründet B. seine These auf eine aus dem lukanischen Doppelwerk herausgeschnittene Quelle, die er »Protolukas« nennt. Dieser bestehe aus Lk 1 f.; 3,1­4,22 (ohne 3,7­9; 4,1­13); 7,1­8,3; einigen Perikopen aus dem Bereich 9,51­19,10; Lk 22­24 und Apg 1,1­15,35. Diese Auswahl erschließt B. durch Strukturanalogien aus der Elia-Elisageschichte der LXX (Kapitel 11). Die überwiegend aus bereits veröffentlichten Aufsätzen rekrutierten Zusatzkapitel im dritten Teil der Arbeit (Kapitel 27­43) bieten trotz mancher Details kaum weiterführende Argumente.

Den inneren Sinn des Protolukas erörtert B. nicht. Dass etwa Lk 1,1­4 auf andere Vorlagen als die Elia-Elisa-Geschichten verweist, stört B. nicht. Später (521­523) vermutet er in Lk 1,1­4 eine Adaption der Eröffnung von 1Chr. Wie die Jünger in Lk 7,11 vorkommen können (vgl. 303), ohne durch die Jüngerberufung eingeführt zu sein, sagt B. nicht, jedenfalls streicht er Lk 5,1­11 aus seinem »Protolukas«, erst Deuterolukas schaffe die Szene in Abhängigkeit von Joh 21 (262.267). Mit diesem »Protolukas« liegt für B. das Neue Testament in nuce bereit. Mk und Mt haben diesen »Protolukas« ebenso verarbeitet wie Joh, bevor dann der »Protolukas« abschließend zum lukanischen Doppelwerk ergänzt wurde. Die Logienquelle braucht B. für seine Thesen nicht (109). Protolukas kenne paulinische Briefe (21.72 u. ö.). Die Einsetzungsworte aus 1Kor 11 untermauern nach B. die Kenntnis des 1Kor durch (Proto-)Lukas (138­143). Dass die auffälligen Gemeinsamkeiten zwischen den Einsetzungsworten bei Paulus und Lukas einer gesonderten Erklärung bedürfen, ist unbestritten. Die angeblich aus dem Kontext des 1Kor mit in Protolukas eingegangenen Bezüge sind durchweg marginal, die Übereinstimmungen bei den Worten Jesu erklären sich daher besser als Abhängigkeit von einer liturgischen Formulierung, die bereits Paulus kannte und die unabhängig von 1Kor zu Lk kam.

Dass nach B. auch 1Petr eine Vorlage für das MkEv sei (189­195) und Mt systematisch Röm verarbeite (204­235), überrascht da kaum noch. Die Logik B.s verrät ein Satz wie: »If Luke knew Mark, its plausible that Mark knew Luke« (158).

Seine Folgerungen erzielt B. mit einer immer wieder angewandten Methode, die drei Größen kombiniert. Er stellt (1.) eine biblische Textvorlage vor, die einwirke auf einen anderen (2.) Folgetext durch einen gewissen Bezug (3.).

Ad 1.: Nach B. seien die Elia-Elisa-Erzählungen in 1Kön 16,29­2Kön 13 in zweimal vier Diptycha aufzuteilen (40). Um dieser strengen Gliederung zu genügen, müssen etwa die Naamangeschichte und weitere Perikopen in 2Kön 5,1­6,23 mit den Hinweisen: »hearing and seeing; not killing« mit dem folgenden Abschnitt 2Kön 6,24­8,29 und dem Hinweis »mis-hearing God, and not seeing; killing« als die zwei Seiten eines Diptychons herhalten. Diese angeblichen Gliederungsstrukturen stützt B. hier wie zumeist nicht durch Gliederungssignale des Textes, sondern durch unterschiedliche Hinweise meist thematischer Art.

Ad 2.: Die Vorlagen wirken bei B. oft auf Texte, die so nicht erhalten sind, sondern durch B. konstruiert werden. So postuliert B. neben seinem »Protolukas« auch seine »Matthew¹s logia«. Diese umfassen nach B. fünf Seligpreisungen und Antithesen (Mt 5,5­9.17­48) und Mt 11,25b­30. B. erschließt diese Quelle aus subtilen Bezügen auf Dtn (vgl. 112), wobei er hier seine Textvorlage Dtn kräftig zurechtstutzen und mischen muss, um auch nur vage Strukturparallelen zu finden (112­119). Ärgerlich ist es, wenn B. die Papiasnotiz als Beleg für seine »logia« verwendet (123 f.). Der durch Papias zitierte Presbyter redet natürlich nicht von dem Textstück, das B. »Matthew¹s logia« nennt.

Ad 3.: Textvorlage und der oft nur erschlossene Folgetext sind durch einen Bezug miteinander verbunden. Manche dieser Bezüge sind einsichtig und am Nestle-Rand vermerkt; etwa zeigen mehrere Wundergeschichten, dass sie Motive aus den Elia-Elisa-Geschichten aufnehmen, z. B. Mk 7,24­30 oder Lk 7,11­17 (Sondergut). Lk 4,25­27 (Sondergut) mit seinem expliziten Verweis auf Elia/Elisa rechnet B. nicht zum »Protolukas«. Natürlich kennen die Autoren des Neuen Testaments die Elia-Elisa-Geschichten. Ein typologisches Interesse an Elia mag für Lk und somit für B.s »Protolukas« erwogen werden. Aber die Bezüge verdichtet erst B. zu einem durchgängigen Netz, das die Textabfolge neutestamentlicher Werke erklären soll. Etwa die Bezüge neutestamentlicher Wundergeschichten auf ebensolche des Elia und Elisa sind in den Rahmungen der Evangelisten nicht mehr hervorgehoben und daher m. E. besser in der Vorgeschichte der Einzelüberlieferungen zu verorten. Sein Netz spinnt B., indem er zu den nachvollziehbaren Bezügen noch manch andere hinzusetzt, bis er eine Tabelle füllen kann, die eine angeblich durchgängige Adaption vor Augen führen soll. Die angeblichen Gliederungsparallelen lassen B. etwa Apg 10, 9­16 als Vorlage für Mk 2,1­12 ausgeben (168). Petrus hat in Apg 10 seine Vision auf einem Dach (doma), bei der sich ihm der Himmel öffnet (ansigo), und sieht ein Tuch, das niedergelassen wird (katabaino) an seinen vier Zipfeln. Der Gelähmte aus Mk 2 wird durch ein Dach (stege) herabgelassen (chalao), welches dazu geöffnet (genauer: abgedeckt und aufgegraben: apostegazo, exorysso werden musste, und ihn tragen vier Männer auf einer Bahre. B. sieht einen intertextuellen Bezug darin, dass beide Perikopen von einem Dach, der Zahl vier, einem »Herunterlassen«, und einem »Öffnen« reden. Welchen Sinn diese Bezüge vermitteln sollen, blieb mir hier wie an vielen anderen Stellen verborgen. Bei manchen »Bezügen« blendet B. die Abhängigkeit der Autoren von geprägten Vorgaben aus, etwa wenn er das Gleichniskapitel Mk 4 auf den Evangelisten zurückführt, der sich an Apg 13 anlehne (172 f.). Es wäre schade, wenn die Suche nach innerbiblischen Bezügen und deren Bedeutung für die Kanonsgeschichte durch B.s Buch in schlechten Ruf käme. Dieser Ansatz verdient methodisch nachvollziehbare Aufarbeitung, wie sie B. kaum bietet. Ich kann nicht sehen, wo es für die neutestamentliche Wissenschaft weiterführend sein könnte, wenn sie an B.s Ausführungen anknüpft.