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Ausgabe:

Juni/2006

Spalte:

731–733

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Wénin, André

Titel/Untertitel:

Joseph ou l¹invention de la fraternité. Lecture narrative et anthropologique de Genèse 37­50.

Verlag:

Bruxelles: Éditions Lessius 2005. 352 S. 8° = Le livre et le rouleau, 21. Kart. Euro 32,00. ISBN 2-87299-134-4.

Rezensent:

Lothar Ruppert

Bei den Arbeiten zur Josefsgeschichte dominiert heute die synchrone Analyse. So liegt auch der hier zu besprechenden Monographie (mit bibeltheologischer Orientierung) des an der Université Catholique de Louvain lehrenden Alttestamentlers die narrative Analyse zu Grunde. Der Rezensent tut sich allerdings nicht leicht, dem Opus voll gerecht zu werden, da er immer noch vom Primat der diachronen Schriftinterpretation (auch der Josefsgeschichte) überzeugt ist. Freilich betrachtet auch er synchrone Methoden durchaus als legitime Zugänge zum Verständnis biblischer Texte. ­ Entsprechend der methodischen Orientierung und bibeltheologischen Zielsetzung darf man hier keine Auskunft über Quellen und Tradition(en), Bearbeitung(en) der Josefsgeschichte und ihre geschichtlich-geographische Verortung (in Palästina, Jerusalem oder in mesopotamischer oder ägyptischer Diaspora?) erwarten.

Die Josefsgeschichte ist für W. ein »Roman« (329). In ihr spricht offenbar ein und derselbe Erzähler (»narrateur«), dessen Botschaft teils offenkundig zu Tage liegt, teils erst vom »Leser« (»lecteur«) mit größerer oder geringerer Wahrscheinlichkeit im Hören auf den Text und Befragen des Textes erhoben werden kann. Zum vollen Verständnis muss dieser dabei praktisch die ganze Genesis heranziehen, vor allem Gen 1­4 (hier besonders: 3,1­5!) sowie Gen 12,1­3, überhaupt die Segensverheißungen der Patriarchengeschichte. Fast könnte man meinen, nach W. stamme nicht nur die Josefsgeschichte, sondern auch die ganze übrige Genesis vom gleichen Verfasser. Jedenfalls versteht W. Gen 37,1­50,26 (auch Gen 38 und 49,1­27, inkl. Chronologie!) als Einheit. Überall kommt der gleiche »narrateur« zu Wort. Und praktisch jeder Passus der Josefsgeschichte soll schon nach der Intention des »narrateur« im Lichte vorausgehender Texte der Josefsgeschichte wie auch der Gen verstanden werden, also nicht erst im (heutigen) Kontext der Schrift. So etwa hat Juda in Gen 44 aus seinen Erfahrungen mit Tamar (Gen 38) gelernt. Josef wendet ­ freilich im positiven Sinn ­ »la stratégie ðserpentineЫ (vgl. Gen 3,1­5) an; sie dient dazu, dass die Brüder »des fruits de vérité« bringen (238, dazu 214 f.). Schon im Titel ist die These des Buches auf den Begriff gebracht: Die Josefsgeschichte zeigt gleichsam paradigmatisch an Josef und seinen Brüdern »die Erfindung der Brüderlichkeit« auf. Und unter der »Brüderlichkeit« als leitendem Interesse werden die einzelnen Abschnitte der Josefsgeschichte analysiert (vom Jakobsegen nur der Juda- und Josef-Spruch). Es versteht sich von selbst, dass bei einem derart starken leitenden Interesse der Bibeltext leicht in einseitigem Licht erscheinen kann.

Ein kurzer Blick in die inhaltliche Ausführung! In der »Introduction« (11­21) kommt W. auf den Bruderkonflikt in der Gen außerhalb der Josefsgeschichte (Kain und Abel, Isaak und Ismael, Jakob und Esau, Jakob und Laban) zu sprechen, eine Thematik, die in der Josefsgeschichte im Sinne der Konstruktion einer wahren Brüderlichkeit überstiegen wird. Es folgt eine narrative Analyse der einzelnen Abschnitte der Josefsgeschichte im Hinblick auf das Thema »Brüderlichkeit« (23­327). In der »Conclusion« (329­339) fasst W. den Ertrag der Analyse im Hinblick auf das Handeln der menschlichen Akteure (Jakob, Josef, die Brüder) wie Gottes zusammen. Den Abschluss bilden als »Annex« eine »chronologie relative de l¹histoire de Joseph« 341 f.) und die Bibliographie (343­349). In ihr, in die nur zitierte Literatur aufgenommen ist, finden sich zahlreiche einschlägige französische und englische Titel, jedoch nur drei deutschsprachige Kommentare (H. Gunkel, G. v. Rad, C. Westermann) und drei weitere deutschsprachige Aufsätze (J. Ebach, G. Fischer und K. Seybold). Ist für diese Auswahl die noch stark diachrone Orientierung der einschlägigen deutschen Publikationen oder vielleicht nur die Sprachbarriere verantwortlich?

Gewiss hat W. mit seiner Analyse zahlreiche treffende Beobachtungen zur Bedeutung der heutigen Josefsgeschichte im Rahmen des ganzen Genesis-Kontextes vorgelegt, wofür man ihm Dank schuldet. Betrachtet man freilich die Josefsgeschichte für sich, ohne Blick auf das Bruderthema der übrigen Genesis, stellt sich die Sicht doch wohl weitgehend anders dar. Sicher ist die Brüderlichkeit (von Gen 45,4 her) ein wichtiges Thema der Erzählung, doch nicht weniger göttliches und menschliches Handeln (vgl. Gen 45,3­8: 30,20). Ebenso kann man mit R. Lux »Josef ­ der Auserwählte unter seinen Brüdern« (vgl. Gen 49,26) als Grundthema verstehen. Gar Josefs Handeln, zumindest der Josefsgeschichte, als Tendenz die »Erfindung« der Brüderlichkeit zuzuschreiben, erscheint äußerst gewagt. W. ist durch ein besonderes Verständnis bzw. eine eigenwillige Deutung verschiedener Stellen der Josefsgeschichte zu dieser These gekommen: Nach Gen 37,14 schickt Jakob Josef fort, um nach dem Schalom seiner Brüder zu sehen (48­51), freilich auch des Kleinviehs (!). Josef selbst sehnt sich nach seinen Brüdern, wie W. die Antwort Josefs »Meine Brüder suche ich« (Gen 37,16) interpretiert (vgl. 51­56). Obwohl Josef sich unter der Maske des Vezirs verbirgt, geht es ihm schon beim ersten Wiedersehen mit den Brüdern darum, dass sie ihn als Bruder erkennen. Diesem Ziel dient überhaupt ihre harte Behandlung (vgl. die Auslegung zu Gen 42­44). Sie wäre somit als eine von Josefs Sehnsucht bestimmte Strategie zu verstehen, dass die Brüder ihn endlich erkennen. Dies mag zum Thematischen genügen!

Rein exegetisch fragwürdig ist die Analyse der Träume Josefs (Gen 37,5­10). Die Brüder missverstehen total Josefs Garbentraum auf Josefs Herrschaftsgelüste über sie (Gen 37,5­8). In Wirklichkeit werde im Traum Josefs verborgene Sehnsucht offenbar, von den Brüdern am Platz, den ihm der Vater zugewiesen habe, anerkannt zu werden. Die Garben der Brüder im Traum verwiesen auf die Garben, die Josef während der Fülle später sammeln wird, um damit die um ihn versammelten Brüder zu ernähren (286). Doch spricht schon gegen diese Deutung, dass sich die Garben der Brüder vor der Garbe Josefs verneigen (Gen 37,7). Muss schon dem jungen Träumer Josef jegliches Herrschaftsgelüst über seine Brüder abgesprochen werden, zumal er bei der Huldigung der Brüder vor ihm als Vezier seiner Träume »gedenkt« (Gen 42,9, vgl. V. 6­8)? Verfehlt erscheint auch W.s Deutung von Jakobs Tadel im Zusammenhang mit dem Sternentraum (Gen 37,9 f.). Da ja Josefs Mutter bereits gestorben ist, möchte der Vater den Sternentraum lediglich als absurd hinstellen. Mit der ironischen Äußerung wolle der Vater nur »das Fieber des jungen Mannes ðdämpfenЫ (42). Der sich weder in die Josefsgeschichte und noch weniger in deren Deutung durch W. einfügende Sternentraum ist offenbar ein ganz später Eintrag.

Abschließend ist zu sagen: W.s höchst gelehrte Monographie stellt durchaus eine äußerst wertvolle Fundgrube dar, um der Josefsgeschichte an vielen Stellen einen guten anthropologischen und theologischen Sinn abzugewinnen. Gleichwohl bleibt sie auf Grund ihres allzu starken philosophisch-theologischen erkenntnisleitenden Ansatzes problematisch.