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Ausgabe:

Juni/2006

Spalte:

728–731

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Scherer, Andreas:

Titel/Untertitel:

Überlieferungen von Religion und Krieg. Exegetische und religionsgeschichtliche Untersuchungen zu Richter 3­8 und verwandten Texten.

Verlag:

Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlag 2005. XII, 468 S. 8° = Wissenschaftliche Monographien zum Alten und Neuen Testament, 105. Geb. Euro 59,00. ISBN 3-7887-2067-0.

Rezensent:

Michael Pietsch

Nach eineinhalb Dezennien liegt mit der anzuzeigenden Bochumer Habilitationsschrift des Vf.s erstmals wieder eine monographische Behandlung der sog. Rettererzählungen des Richterbuchs in deutscher Sprache vor. Mit einer begrüßenswerten Freiheit »von jedem Zwang zur Originalität« (18) befragt der Vf. die Richtererzählungen in Jdc 3,7­8,35 auf ihre kompositionelle Gestalt und ihren geschichtlichen Werdegang einerseits und das sich in ihnen aussprechende religiöse Wirklichkeitsverständnis, die theologische Interpretation der Welterfahrung andererseits ­ vor allem in der religiösen Interpretation des Phänomens des Krieges.

Das Rückgrat der Untersuchung bilden materialreiche kompositionskritische Einzelanalysen zu den Richterzählungen in Jdc 3 (27­83), zu den Überlieferungen über Debora und Barak in Jdc 4­5 (84­187) und vor allem des Gideon-Zyklus¹ aus Jdc 6­8 (188­409). Daran schließen sich jeweils in loser Folge Erörterungen zu ausgewählten religionsgeschichtlich bedeutsamen Sachthemen an, die weit über das Verhältnis von Religion und Krieg hinaus einen instruktiven Einblick in die religiöse Wirklichkeitsdeutung des frühen Israel geben. In einer Reihe von Exkursen werden weitere Einzelprobleme diskutiert, die im engeren oder weiteren Zusammenhang mit den untersuchten Texten stehen.

In einer knappen und konzisen Einführung (1­26) ordnet der Vf. seinen Beitrag in die aktuelle Forschung zum Richterbuch, resp. in die jüngste Diskussion um das sog. Deuteronomistische Geschichtswerk (DtrG) ein. Im Unterschied zu manchen neueren redaktionskritischen Entwürfen hält der Vf. grundsätzlich an dem Nothschen Modell des DtrG fest, das dem textlichen Befund im Richterbuch am ehesten entspreche. Die konzeptionelle Disposition der Richtererzählungen in ihrem jetzigen Traditionsstand gehe auf deuteronomistische Kreise zurück, deren geschichtstheologische Konzeption sich sowohl im einleitenden Rahmenteil des Buches als auch in den Umrahmungen der Einzelepisoden findet und in ihrer pessimistischen Grundhaltung die Exilserfahrung voraussetze. Die Unterschiede in der theologischen Konzeption des Richterbuchs gegenüber den Samuel- und Königsbüchern relativieren sich für den Vf. vor dem Hintergrund der verschiedenen Überlieferungsstoffe und der Gesamtbeurteilung der Richterzeit innerhalb der deuteronomistischen Geschichtstheologie. Über Noth hinaus müsse jedoch das Phänomen sekundär-deuteronomistischer Fortschreibungen in den Texten stärker berücksichtigt werden, ohne dass es gelingen will, diese Fortschreibungen einer systematischen redaktionsgeschichtlichen Stratigraphie (DtrP, DtrN) einzuordnen.

Im Unterschied zu den Ergebnissen der redaktionsgeschichtlichen Untersuchung des Richterbuchs von U. Becker (Richterzeit und Königtum, BZAW 192, 1990) lassen sich die deuteronomistischen Textanteile nach Ansicht des Vf.s vorwiegend in den redaktionellen Rahmenstücken der Einzelepisoden und einigen glossierenden Erweiterungen ­ sowie in der Othniel-Episode (Jdc 3,7­11), die als paradigmatische Eröffnung der Richtererzählungen gänzlich deuteronomistischer Herkunft sei­ wiederfinden, während die ursprüngliche Erzählkomposition in Jdc 3­8 auf einen vordeuteronomistischen Verfasser(-kreis) zurückgehe. Auf der literarischen, historischen und religionsgeschichtlichen Einordnung und Profilierung dieser älteren Textgestalt liegt dann auch das Hauptinteresse der vorliegenden Untersuchung.

Diese ältere Sammlung von JHWH-Kriegserzählungen umfasste die Einzelüberlieferungen in Jdc 3,12­30*, Jdc 4* und Jdc 6­8* (die Einbettung des Deboraliedes in diesen Zusammenhang geht vermutlich erst auf deuteronomistische Redaktionstätigkeit zurück), die entscheidend von der Motivik des JHWH-Kriegs geprägt sind.

Der Vf. zieht die Bezeichnung JHWH-Kriegserzählungen der älteren seit W. Richter (Traditionsgeschichtliche Untersuchungen zum Richterbuch, 1963) etablierten Benennung als »Retterbuch« vor, da sich in dem so bezeichneten Textabschnitt weder der titulare Gebrauch eines »Retters« nachweisen lasse noch dem Motiv des »Rettens« eine beherrschende Stellung innerhalb der theologische Konzeption zukomme (63­67).

Ein charakteristisches Element der älteren JHWH-Kriegserzählungen ist die Verwendung der sog. »Übereignungsformel«, die in diesem Traditionsstand noch nicht, wie in den deuteronomistischen Rahmentexten, für die Übereignung Israels in die Hände seiner Feinde verwendet wird, sondern JHWHs rettendes Eingreifen zu Gunsten Israels bezeichnet. Weitere Elemente sind das Aufgebot einer regional begrenzten Stämmekoalition, die Totalität des Sieges der Israeliten sowie die Glorifizierung JHWHs als des eigentlichen Kriegsherrn, der den Sieg für Israel erringt.

Historisch und soziologisch bringt der Vf. die Entstehung der älteren Sammlung von JHWH-Kriegserzählungen mit der vorklassischen Prophetie der Ära der Jehu-Dynastie in Verbindung. Dafür sprechen zum einen der Einfluss prophetischer Traditionen, wie er sich beispielhaft in der Schilderung Deboras als einer »Kriegsprophetin« nach dem Vorbild der vorklassischen Prophetie (Jdc 4*) sowie im sog. »Berufungsformular« in Jdc 6,11­24 (Gideon) zeige ­ Letzteres kann der Vf. freilich erst über den nicht unproblematischen Umweg der elohistischen Pentateuchfragmente (Ex 3,9­12) mit der Nordreichsprophetie des 9. Jh.s in Verbindung bringen ­, und zum anderen die Unterstützung der Politik Jehus durch die prophetischen Kreise um Elisa, wie sie in den Aramäerüberlieferungen hervortreten, die ursprünglich mit der Jehu-Dynastie verbunden waren, sowie die Auseinandersetzung zwischen JHWH und Baal, die in Ri 6,25­32 einen Nachhall gefunden hat.

Die Erzählung in Jdc 3,12­30 ist dagegen erst redaktionell mit der Motivik des JHWH-Kriegs verbunden worden (vgl. V. 28f*). Daraus erhellt, dass auch der Verfasser(kreis) der Sammlung von JHWH-Kriegserzählungen bereits auf ältere Überlieferungen zurückgegriffen hat, sei es in schriftlicher Form, wie im Fall der Ehud-Episode, sei es in mündlicher Gestalt, wie aus der überlieferungskritischen Analyse des Gideon-Zyklus oder der JHWH-Kriegserzählung in Jdc 4* zu schließen ist.

Im Rahmen dieser Besprechung kann selbstverständlich nicht auf die ganze Fülle religionsgeschichtlicher Einzelbeobachtungen und kompositionskritischer Textanalysen (vor allem zum Gideon-Zyklus) eingegangen werden, statt dessen soll ein exemplarischer Blick auf das Deboralied (Jdc 5) geworfen werden, dessen historische wie religionsgeschichtliche Einordnung in der gegenwärtigen Forschung höchst umstritten ist.

Das Deboralied zählt nach Ansicht des Vf.s zu den ältesten zusammenhängenden Texten des Alten Testaments. Der Grundbestand der Dichtung (V. 6­30), der in V. 2­5 und 31a um einen hymnischen Rahmen erweitert worden ist, bevor die deuteronomistische Redaktion das Lied schließlich durch Einfügung der Überschrift (V. 1) und der abschließenden »Ruhenotiz« (V. 31b) mit der vorangehenden Kriegserzählung (Jdc 4) verknüpft und in ihre übergreifende geschichtstheologische Konzeption eingebunden hat, gehe auf das letzte Drittel des 11. Jh.s zurück und stehe im Zusammenhang mit der zunehmenden Eskalation des Konfliktes zwischen den israelitischen Stämmen und den Seevölkern, der sich in dem Maße verschärfte, in dem Israel eine politische Einheit zu werden begann. Die Gattung des Textes bestimmt der Vf. als »JHWH-Kriegsballade mit werbender und mahnender Tendenz« (161), die von einem Barden verfasst worden sei (vgl. 2Sam 1,19­27). Die Intention des Dichters richte sich auf die Größe »Israel«, deren politische Einheit von ihm beschworen werde. Das Deboralied sei damit Zeuge des Einigungsprozesses, an dessen Ende die Konstituierung der politischen Größe »Israel« stehe. Den entscheidenden Faktor bei der Ausbildung des Zusammengehörigkeitsgefühls der israelitischen Stämme sieht der Vf. im Gefolge Noths und in Übereinstimmung mit der alttestamentlichen Überlieferung (vgl. Jdc 5,13) in der gemeinsamen JHWH-Verehrung der protoisraelitischen Gruppen. Dabei hält er mit guten Gründen daran fest, dass JHWH sekundär aus der südlichen Peripherie Edoms nach Mittelpalästina eingewandert und dort auf Grund seiner solitären Stellung und seines dynamisch-militärischen Potentials zum Hauptgott der israelitischen Stämme geworden ist.

Das Verhältnis von Jdc 5 zu Jdc 4 stellt sich für den Vf. so dar, dass die Dichtung dem Verfasser der JHWH-Kriegserzählung von Jdc 4 auf Grund des hohen Alters und der literarischen Kunstfertigkeit des Deboraliedes zwar bekannt gewesen sein müsse, dass einige Eigentümlichkeiten der JHWH-Kriegserzählung (z. B. der Name des Ehemannes Deboras oder die konkrete Ausgestaltung der Jael-Szene) jedoch darauf hindeuten, dass dem Verfasser neben der Dichtung noch weitere Überlieferungen über die Deboraschlacht bekannt gewesen sind, die teilweise eine ältere Überlieferungsgestalt bewahrt haben als das Deboralied selbst (182­187).Unter den materialreichen und sorgfältig argumentierenden religionsgeschichtlichen Einzelstudien sei hier lediglich auf den gewichtigen Abschnitt über »JHWHs Auseinandersetzung mit Baal« (370­393) hingewiesen, in dem der Vf. die Geschichte des Konflikts der beiden Gottheiten von einem ursprünglichen Nebeneinander von JHWH und Baal in der Frühzeit Israels, über den tödlichen Konflikt JHWH gegen Baal am Übergang von der omridischen zur jehuidischen Ära bis zur Inkorporation Baals in JHWH, wie sie die prophetische Wirksamkeit Hoseas voraussetzt, kenntnisreich und in den Grundlinien überzeugend nachzeichnet.

Es wäre allenfalls zu erwägen, ob die Zuspitzung des Konflikts, verschärft durch den phönizischen Einfluss am Hofe Ahabs, nicht noch stärker durch die Frage bestimmt gewesen ist, welcher von beiden, JHWH oder Baal, der (National-)Gott Israels sei. Vor diesem Hintergrund ließe sich auch die vom Vf. herausgearbeitete Hervorhebung des Kriegshandelns JHWHs in der älteren Sammlung von JHWH-Kriegserzählungen leicht verständlich machen: JHWH ist der kriegerische Nationalgott Israels, dem allein Israel seinen Sieg über seine Feinde verdankt.

Selbst wenn man in Einzelfragen oder im Blick auf die Literaturgeschichte der Vorderen Propheten anderen Auffassungen zuneigen sollte als der Vf., so ist ihm dafür uneingeschränkt zu danken, dass er den vordeuteronomistischen Erzählfaden und seine theologische Konzeption wieder in das Blickfeld der exegetischen Arbeit am Richterbuch (und am DtrG!) gerückt und seine kompositionskritische Analyse auf eine tragfähige Basis gestellt hat. Schließlich zeigt die Untersuchung des Vf.s, dass eine sorgfältige überlieferungskritische Rückfrage für jeden Versuch einer (Re-)Konstruktion der Religionsgeschichte Israels nicht nur unverzichtbar ist, sondern zu plausiblen Ergebnissen führen kann. Der Vf. hat auf diese Weise nicht nur einen wichtigen Beitrag zur historischen und theologischen Interpretation des Richterbuchs geleistet, sondern auch der historischen und religionsgeschichtlichen Diskussion über die Frühzeit Israels weiterführende Impulse gegeben.

Leider fehlen dem Band jedwede Abbildungen oder Karten, wodurch die Übersichtlichkeit und Anschaulichkeit des Werkes leicht hätte erhöht werden können. Darüber hinaus hätte sich der Rezensent ein Sachregister gewünscht, das angesichts der mannigfachen historischen, religionsgeschichtlichen und theologischen Einzelprobleme, die der Vf. diskutiert, den Leserinnen und Lesern die Erschließung des Werkes erleichtert hätte.