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Ausgabe:

Juni/2006

Spalte:

722–725

Kategorie:

Altes Testament

Titel/Untertitel:

Biblia Hebraica Quinta editione cum apparatu critico novis curis elaborato participantibus

Verlag:

R. Althann, P. B. Dirksen, N. Fernández Marcos, A. Gelston, A. Gianto, L. Greenspoon, I. Himbaza, J. Lust, D. Marcus, C. McCarthy, M. Rösel, M. Sæbø, R. Schäfer, S. Sipilä, P. Schwargmeier, A. Tal, Z. Talshier, consultus A. Dothan pro masora, A. Groves et Soetjianto pro impressione electronica, R. Omanson pro redactione et stylo, communiter ediderunt A. Schenker (praeses), Y. A. P. Goldmann, A. van der Kooij, G. J. Norton, S. Pisano, J. de Waard, R. D. Weis. Lfg. 18: General Introduction and Megilloth: Ruth (J. de Waard), Canticles (P. B. Dirksen), Qohelet (Y. A. P. Goldman), Lamentations (R. Schäfer), Esther (M. Sæbø). Stuttgart: Deutsche Bibelgesellschaft 2004. C, 96 u. 168* S. gr.8°. Kart. Euro 49,00. ISBN 3-438-05278-4.

Rezensent:

Siegfried Kreuzer

Nach den drei Ausgaben der sog. Kittel-Bibel und der Biblia Hebraica Stuttgartensia (BHS) gibt es nun die erste Lieferung einer neuen Biblia Hebraica. Wohl auch als Ausdruck der Kontinuität wird sie als die fünfte, eben als »Quinta« bezeichnet. Die grundlegende Kontinuität liegt darin, dass auch die BHQ eine diplomatische Wiedergabe des Codex Leningradensis ­ der nach wie vor ältesten vollständig erhaltenen Handschrift des hebräischen Alten Testaments ­ darstellt, die zugleich mit einem wissenschaftlichen textkritischen Apparat versehen ist.

Die vorliegende erste Lieferung mit den Megillot besteht aus drei Hauptteilen: 1. Allgemeine Einleitung einschließlich Verzeichnis der Siglen und Abkürzungen (VII­C), 2. Der hebräische Text mit Masora und textkritischem Apparat (1­96) und 3. Der Kommentar (1*­168*). Für die künftige Gesamtausgabe sind zwei Bände vorgesehen, ein Textband (mit der Einleitung), der der bisherigen BH entsprechen soll, und ein Kommentarband, in dem die Masora übersetzt wird und der u. a. eine textkritische Diskussion einzelner Stellen aus dem Apparat enthält (ähnlich den von D. Barthélemy herausgegebenen Bänden Critique textuelle de l¹Ancien Testament, OBO 50/1­4, 1982­2005).

Eine deutlich sichtbare Differenz zu den bisherigen Ausgaben ist, dass nunmehr Englisch die Sprache des Apparates ist. Dem entspricht, dass das Herausgeberkomitee von den United Bible Societies beauftragt wurde, auch wenn Druck und Verlag bei der Deutschen Bibelgesellschaft liegen. Die geänderte Situation zeigt sich zudem daran, dass Mitarbeiter aus Deutschland nur wenige sind.

Die Textgeschichte und Textkritik sind nicht nur die Grundlage, sondern auch einer der derzeit lebendigsten und ertragreichsten Bereiche der alttestamentlichen Forschung. Eine kritische Ausgabe des hebräischen Bibeltextes muss den aktuellen Forschungsstand zur Textgeschichte und Textkritik widerspiegeln. Die neue BHQ tut das zweifellos. Der wesentliche Fortschritt der letzen Jahrzehnte ist die Entdeckung und Auswertung der biblischen Texte aus Qumran, deren kritische Edition 2005 endlich abgeschlossen wurde. Zwar hatte auch BHS schon einen Teil der Qumrantexte berücksichtigt, hier sind sie aber nun voll ausgewertet. Die Qumranfunde führten zu einer erheblichen Verschiebung der für die Textkritik wichtigen Zeitphase. Hatte sich durch die Berücksichtigung des Codex Leningradensis der Schwerpunkt von den hebräischen Handschriften des Mittelalters immerhin auf die Zeit um 1000 n. Chr. verlagert, so lagen nun hebräische Texte vor, die um mehr als ein Jahrtausend älter sind.

Bekanntlich führten die Funde aus Qumran zu einem enormen Enthusiasmus bezüglich der Qualität der hebräischen Textüberlieferung. Früher hatte man häufig den Text der Septuaginta bevorzugt, von der man immerhin vollständige Kodizes aus dem 4. Jh. hatte und dazu ältere Papyri und nicht zuletzt auch Zeugnisse wie die Bibelzitate bei Josephus und im Neuen Testament bzw. indirekte Zeugnisse wie die Vetus Latina. Durch die Qumranfunde ­ etwa durch die berühmte Jesajarolle (1QJesa), der man in Jerusalem den Shrine of the Book baute ­ hatte man plötzlich 1000 Jahre ältere Texte zur Verfügung, die zudem die Qualität der hebräischen Textüberlieferung bestätigten bzw. zu bestätigen schienen. Durch die Qumranfunde kippte die Stimmung zur oft unhinterfragten Bevorzugung des masoretischen Textes. Eine Entwicklung, die auch vielen Fachleuten nicht (mehr) bewusst ist. Allerdings ist dieses Bild einseitig und das daraus entstandene a priori nicht ganz berechtigt. Denn die biblischen Texte aus Qumran haben nicht nur die masoretische Texttradition bestätigt, sondern ebenso auch die Vorlage der Septuaginta. Und sie haben insgesamt erwiesen, dass es in der frühjüdischen Zeit bzw. in der Phase der Kanonisierung eine Mehrgestaltigkeit der hebräischen Textüberlieferung gab, aus der sich erst im Lauf des 1. Jh.s v. Chr. allmählich und dann bis zum Ende des 1. Jh.s n. Chr. vollständig die Dominanz des masoretischen Textes herausbildete.

Die neue textgeschichtliche Situation spiegelt sich im Apparat und besonders in den Siglen der neuen BHQ. Diese sind etwas weniger und vor allem übersichtlicher geworden und neu gruppiert, und zwar nach den Haupttypen, z. B. M für die masoretischen Textzeugen, T für Targume, G für die griechische Textüberlieferung. Zwar gibt es daneben weiterhin ­ notwendigerweise ­ auch Einzelsigla, aber wesentlich weniger.

Der Apparat dagegen ist umfangreicher geworden. Er vermerkt nicht nur Varianten, sondern er bietet auch eine Interpretation des Befundes. Hatte es auch bisher schon Stellungnahmen der Bearbeiter gegeben (z. B. l = lege, lies! oder prb = probabiliter, vielleicht), so gibt es nun eine große Zahl von Kategorien, nach denen die Varianten klassifiziert und auch erklärt bzw. bewertet werden. Diese Interpretationen sind hilfreich; vieles davon ist evident, für vieles wird man aber auch den Kommentar konsultieren müssen, um die Hinweise nachvollziehen zu können (auf die Diskussionen im Kommentar wird mit einem eigenen Siglum verwiesen).

Der Apparat spiegelt aber nicht nur den Forschungs- und Diskussionsstand, er spiegelt auch Entscheidungen, die man unterschiedlich beurteilen kann. Unmittelbar auffallend ist, dass im Obertext keine Verweiszeichen auf den Apparat zu finden sind. Man muss also jeweils suchen, ob es zu einem Vers Varianten gibt. Ob die kleinen hochgestellten Buchstaben wirklich den Leser stören bzw. gestört haben, wird Ansichtssache bleiben (und hat wohl auch andere Gründe). Ebenfalls neu ist, dass die Belege im Apparat (sofern sie zitiert werden) nur in Originalsprache bzw. -schrift wiedergegeben werden. Konkret heißt das, dass die nicht unbedeutenden syrischen Zitate in syrischer Schrift gegeben werden. D. h. für einen großen Teil der Benutzer, jedenfalls unter den Studierenden, fällt der Beleg aus, während man bisher immerhin dazu anleiten konnte, aus der Umschrift dieser semitischen Sprache Rückschlüsse auf die zur Diskussionen stehenden Varianten zu ziehen (die Beigabe einer syrischen Schrifttabelle könnte wenigstens eine gewisse Hilfe darstellen).

Das Prinzip der originalen Textform berührt auch die Darbietung des Hauptzeugen, nämlich des Codex Leningradensis. Diese erfolgt in weitreichender Urkundentreue dahingehend, dass nicht nur keine Verweiszeichen für den Apparat gegeben werden, sondern dass neben der Randmasora (Masora parva) auch die
Masora magna
abgedruckt wird. Dabei werden auch offensichtlich falsche Angaben der Randmasora nicht mehr »normalisiert«, d. h. korrigiert bzw. vereinheitlicht, und selbst Fehler im Haupttext, etwa der Dagessetzung, werden übernommen (selbst wenn sie in anderen, ähnlich alten masoretischen Handschriften nicht vorhanden sind); ein Sachverhalt, den man den Studierenden wird deutlich machen müssen (und der andererseits zeigt, dass es die fehlerfreie Handschrift einfach nicht gibt).

Neben der oben dargestellten Berücksichtigung des aktuellen Forschungsstandes gibt es also offensichtlich noch andere Prinzipien, insbesondere den hohen Rang der mittelalterlichen masoretischen Tradition. Dieses Prinzip steht in einer gewissen Spannung zur oben genannten textkritischen Situation auf Grund der Qumranfunde. Es spiegelt aber wohl die Diskussionen aus den Anfängen der BHQ: In den 1960er Jahren wurde in Jerusalem das Hebrew University Bible Project gegründet, in dessen Bibelausgabe insbesondere die ganze rabbinische und masoretische Tradition erfasst werden soll (allerdings ist davon verständlicherweise bisher nur wenig erschienen, nämlich die Lieferungen zu Jes, Jer und Hes). Zugleich entstand ­ aus verschiedenen Gründen ­ auch das Bemühen, den masoretischen Kodex auch als liturgischen, mehr oder weniger »heiligen« Text zu präsentieren, d. h. neben dem alttestamentlichen Text auch die ganze masoretische Tradition zu bieten (und andererseits die bisher gebräuchlichen Verweise auf den Apparat wegzulassen).

Auch wenn man die hier zum Zuge kommenden Bestrebungen durchaus würdigen kann, entsteht doch die Frage, ob die BHQ nicht zu viel und auch Gegensätzliches will. Soll und kann man ­ um es pointiert zu sagen ­ für eine wissenschaftliche Studien- und Handausgabe den Weg von der Heiligen Schrift zur Heiligen Handschrift mitgehen? Und macht es Sinn, jenen Studierenden, die heute noch Hebräisch lernen, und jenen Theologen, die heute noch zur Biblia Hebraica greifen, die ganze Masora magna mitzuliefern und die syrischen Varianten in syrischer Schrift zu bieten? Besteht hier nicht doch die Gefahr, dass man zwar den Spezialisten bedient (der aber dann für weitere Forschungen doch die Quellen konsultieren muss), aber für die Normalverbraucher ­ damit meine ich jene Studentinnen und Studenten, die heute ­ vor allem in Mitteleuropa ­ noch Hebräisch lernen und eine Biblia Hebraica kaufen ­ der Zugang erschwert wird?

Insgesamt wird man die neue Biblia Hebraica Quinta sehr begrüßen können. Sie wird eine hervorragende Ausgabe des hebräischen Alten Testaments sein, die den aktuellen Stand der textgeschichtlichen und textkritischen Forschung widerspiegelt und zugänglich macht. Allerdings enthält sie auch Elemente, die nicht alle Nutzer in gleicher Weise begeistern werden.