Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Juni/2006

Spalte:

718 f

Kategorie:

Bibelwissenschaft

Autor/Hrsg.:

Stühlmeyer, Thomas

Titel/Untertitel:

Veränderungen des Textverständnisses durch Bibliodrama. Eine empirische Studie zu Mk 4,35­41.

Verlag:

Paderborn-München-Wien-Zürich: Schöningh 2004. 471 S. m. Abb. gr.8° = Paderborner Theologische Studien, 36. Kart. Euro 64,00. ISBN 3-506-70126-6.

Rezensent:

Peter Müller

Bibliodrama ist ein Sammelbegriff für verschiedene Weisen mehrdimensionaler Bibelarbeit, die Verstand, Körper und Sinne für das Verstehen aktiviert. Entstanden ist das Bibliodrama aus dem Wunsch nach erfahrungsnaher Begegnung mit der Bibel und einem Unbehagen an der historisch-kritischen Exegese, der es nur unzureichend gelinge, die Texte in der Gegenwart zum Sprechen zu bringen. Auf Seiten der Exegese hält man dagegen das Bibliodrama für eine in der Praxis diskutable Methode, die aber keinen Anspruch auf Wissenschaftlichkeit erheben könne und der Kontrolle durch eine genaue Textarbeit bedürfe. Das etwa ist die Ausgangsposition dieser von der theologischen Fakultät Paderborn 2002 angenommenen Dissertation. Sie versucht, die noch in den Kinderschuhen steckende empirische Analyse der Bibliodramaarbeit voranzubringen: »Lässt sich empirisch zeigen, dass die Teilnehmenden eines Bibliodramas als dessen Wirkungen einen biblischen Text bzw. einige seiner Elemente Š tatsächlich neu oder anders verstehen, wahrnehmen oder interpretieren? Und gibt es u. U. vorhersagbare Richtungen dieser Veränderungen?« (15)

In Kapitel 1 (21­82) gibt S. einen Überblick über Herkunft, Entwicklungen und Arbeitsformen des Bibliodramas (53­56) und den Stand der empirischen Bibliodramaforschung (81 f.).

Kapitel 2 (83­119) klärt die Grundlagen der Untersuchung. »Das Bibliodrama hat ein doppeltes Ziel: Veränderungen des Selbstverständnisses der Teilnehmenden sowie Veränderungen des Verständnisses des Š zugrunde liegenden biblischen Textes zu bewirken. Das Forschungsanliegen dieser Arbeit Š richtet sich auf das letztgenannte des doppelten Ziels bibliodramatischen Arbeitens« (116). Als Arbeitsform wird das textzentrierte Bibliodrama gewählt und mit psychodramatischen Elementen verbunden. Veränderungen des Textverständnisses werden an »theoretisch ausgewählte[n], exegetisch bedeutsame[n] Textelemente[n]« und aus einer sozialpsychologischen Perspektive (Einstellungsänderungen) untersucht. Besonderes wird darauf geachtet, ob die Veränderungen als Effekte des Bibliodramas oder des Textes selbst anzusehen sind (116 f.). Weiter finden sich hier eine Begründung zur Wahl von Mk 4,35­41 (Kürze der Perikope; symbolische Tiefe; deutlicher Handlungsstrang; klar abgrenzbare Rollen; Erwartung, dass der Text eine Auseinandersetzung der Teilnehmenden mit ihrem Jesusbild provoziert; bereits mehrfach erfolgter Einsatz im Bibliodrama, 87­90) sowie eine Auswahl von wichtigen Textelementen (die Akteure Jesus, Jünger und Wind/See, deren Verhaltensraum, die Jünger als besonderes Identifikationsangebot und das Unverständnismotiv, 90­101). Schließlich werden acht Hypothesen gebildet. Sie betreffen erwartete Veränderungen im Blick auf den gesamten Text, auf die Anziehung oder Abstoßung Jesu und der Jünger sowie den Verhaltensraum der Akteure. Prognostiziert werden eine Zunahme der kognitiv-emotionalen Repräsentanz der Jüngerfigur, ein Zusammenhang zwischen der Intensität der übernommenen Rolle und den übrigen Veränderungen sowie eine Auswirkung zwischen hoher Verschmelzung mit der gespielten Rolle auf eine vorgängige ambivalente Einstellung zu den Akteuren. Ein Zusammenhang zwischen den Jüngerperspektiven ’Konflikt mit JesusŒ oder ’Glaube an JesusŒ wird vorhergesagt (110­ 116). Der Hypothese 8 kommt besondere Bedeutung zu, da es hier nicht um einen Effekt des Bibliodramas, sondern des Erzählmusters vom Jüngerunverständnis und also des Textes selbst gehe.

In Kapitel 3 (121­231) werden die Hypothesen operationalisiert und ein Fragebogen entwickelt. Kapitel 4 (233­247) stellt das Forschungsdesign (Messwiederholung mit Prä- und Posttests sowie drei Messpunkten vor und nach dem Bibliodrama sowie vor dem Rollenspiel) und die Arbeitsschritte des Bibliodramas vor (233­247). Durchgeführt wurde die Untersuchung mit acht heterogenen, jedoch kirchlich gebundenen bzw. interessierten Gruppen (Tabelle 247). Kapitel 5 (249­369) stellt die Ergebnisse der Untersuchung detailliert dar, Kapitel 6 (371­420) fasst sie noch einmal zusammen und stellt Überlegungen zu einer weiteren empirischen Erforschung des Bibliodramas an.

Die Arbeit ist redundant geschrieben und ließe sich deutlich kürzen. Ihre Ergebnisse sind begrenzt. Dies liegt nicht unerheblich an der gewählten quantitativen Methodik. Die meisten Hypothesen werden bestätigt, was aber nicht verwundert. Denn dass Veränderungen des Textverständnisses im Rahmen eines Bibliodramas als »ein auf den bibliodramatischen Prozess attribuierter Effekt« (110) erkannt werden, ist ebenso leicht vorherzusagen wie der Sachverhalt, dass sich bei einer intensiven Beschäftigung mit einem Text die Einstellungen im Blick auf Anziehung und Abstoßung den Akteuren gegenüber verändern. Dass sich bei den komplexeren Hypothesen 4 und 7 keine eindeutigen Ergebnisse zeigen, liegt ebenfalls nahe (360.363 f.). Welcher Art die Veränderungen sind, kommt dagegen nur andeutend in den Blick. Hier sind qualitative Studien (wie die immer wieder erwähnte Studie von Brandhorst) als Ergänzung unbedingt notwendig. Immerhin wird belegbar, dass eine intensive Beschäftigung mit einem Bibeltext kognitive und emotionale Veränderung im Textverständnis hervorruft.

Veränderungen in der Einschätzung des im Text erzählten Geschehens unter der Perspektive des Konflikts oder des Glaubens sieht S. als einen durch den Text selbst hervorgerufenen Effekt (364 f.). Unter den Prämissen der Arbeit ist dies nachvollziehbar und belegt den hermeneutischen Sachverhalt, dass Texte Wirkung entfalten. Gleichwohl zeigt sich hier ein generelles Problem. Denn de facto wirkt hier ein durch Vorentscheidungen zurechtgemachter Text. Dies zeigt sich schon an der souveränen Beschneidung exegetischer Erkenntnisse: S. »blendet diachrone Fragen nach dem Verfasser des Textes, der Redaktion, den soziokulturellen Hintergründen etc. ab und folgt synchron dem Text³ mit Hilfe einer “semiotisch narrativen Analyse« (91). Bereits vorher hat er aber die symbolische Bedeutung der Erzählung, den Handlungsstrang, die Rollenverteilung sowie die Aussage »Was ist das für ein Mensch?« (so häufig trotz 97, Anm. 349) als zentrale exegetische Erkenntnisse benannt (87­91). Die Anrede Jesu als Lehrer, die kognitive Dissonanz, dass diese Anrede Jesu Macht über die Gewalten nicht erklärt, und die daraus resultierende Frage »Wer ist dieser?« werden dabei in ihrer Bedeutung für den Text nicht hinreichend gewürdigt. Welchen Stellenwert die Exegese für die Arbeitsschritte im Bibliodrama tatsächlich hat, zeigt sich daran, dass sie bei elf Arbeitsschritten als letztes Stichwort zu Schritt 11 »Integration/Reflexion« begegnet. Wer das Bibliodrama als »Anwältin des Textes« vorstellt (394.83 u. ö.), sollte die exegetischen Möglichkeiten, Texte zu verstehen, intensiver nutzen.

Die Arbeit versucht eine empirische Absicherung des Bibliodramas. Dieses Ziel mag sie erreicht haben, so weit es quantitativ überhaupt erreichbar ist. Für die immer noch geführte Auseinandersetzung zwischen Exegeten und Bibliodramatikern, für die man sich auch von der empirischen Seite her für beide Seiten überzeugende Argumente wünscht, hat diese Arbeit jedoch nur begrenzten Nutzen.