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Ausgabe:

Juni/2006

Spalte:

715–717

Kategorie:

Bibelwissenschaft

Autor/Hrsg.:

Sals, Ulrike

Titel/Untertitel:

Die Biographie der »Hure Babylon« Studien zur Intertextualität der Babylon-Texte in der Bibel.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2004. X, 567 S. gr.8° = Forschungen zum Alten Testament. 2. Reihe, 6. Kart. Euro 84,00. ISBN 3-16-148431-2.

Rezensent:

Martin Karrer

Babel (bbl; so die hebräisch überwiegende Schreibung) bzw. »Babylon« (die Schreibung, die sich dank des Neuen Testaments durchsetzte) übte große Faszination auf das Schrifttum Israels und der frühen Christen aus. S. zeichnet das von Gen 11 bis zur Apk in einer bedeutenden interdisziplinären Studie nach (Dissertation Bochum). Überzeugt davon, dass jede Wahrnehmung kulturelle Vorprägungen in sich aufnimmt (3 u. ö.), trifft sie eine grundlegende Vorentscheidung. Sie orientiert sich nicht an einem Geschichtsverständnis, das den Abstand des Vergangenen betont und dieses positivistisch erhebt. Wer neue Erkenntnisse zum Babylon der antiken Geschichte, zur Archäologie u.Ä. erwartet, muss darum zu anderen Studien greifen (ihre Forschungsberichte nennen z. B. Uehlinger, 148). Stattdessen folgt sie Theorien, die die intertextuelle Bewegung, die Prägung der Geschichtswahrnehmung durch Interessen der Gegenwart und das kulturelle Gedächtnis herausstreichen (methodische Reflexion, 20­27). Die Konsequenz zeigt sich programmatisch im Titel ihrer Studie:Der Ausdruck »Hure Babylon« entstammt nicht den Schrifttexten, sondern deren Wirkungsgeschichte unter maßgeblichem Einfluss der Apk (vgl. 2). S. signalisiert programmatisch ihre Aufmerksamkeit für die rezeptionsgeschichtliche Längslinie (trotz der nachbiblischen Prägnanz des Titels theologisch begrenzt auf das biblische Schrifttum). In dieser Linie spielte näherhin das antike Verständnis städtischer Metropolen als Feminina eine zentrale Rolle (vgl. 28­43). Prophetische Texte stellten Babel als Frau vor. Diese Frau gewann den Beigeschmack der Hure. Die Apk, der innerbiblische Fluchtpunkt, schildert darauf deren Leben am Höhepunkt (Kapitel 17) und im Untergang (Kapitel 18 f.), gleichsam als »erste und zugleich ultimative Biographie« dieser Frau (3). S. verfolgt, wie sich diese Biographie aus und nach den alttestamentlichen Erzählungen entwickelt.Man wird über die Beschreibungsform der Biographie streiten können (43­47). Immerhin nimmt in der heutigen Gattungsdiskussion der Streit über das Widerspiel zwischen den facta eines Lebens und ihrer fiktiven Erzählung einen wesentlichen Raum ein, den S. von vornherein zu Gunsten der Fiktivität entscheidet (inkl. einer positiven Wertung des Mythos, 26). Was S. an der Biographie fasziniert, ist die Möglichkeit, ein Porträt in innerer Entwicklung zu zeichnen und Texte nach dieser Entwicklung zu ordnen. Positiv gelesen, erlaubt ihr das die Bildung von Text-Schwerpunkten und deren Anordnung nach der vermuteten Biographie (statt nach dem Alter und Autor, 45). Kritisch betrachtet, zerbricht es die klassische Ordnung der Texte nach dem Alter der Entstehung und mindert alle Texte, die für ein Porträt und die Skizze eines biographischen Momentes nicht ausreichen.

S. behandelt im Fortgang etwa die wichtigen Passagen bei Ez (12; 17; 21) nicht eigens, sondern streift sie lediglich von ihren Leittexten aus (256 u. ö.). Desgleichen erwähnt sie die zahlreichen frühjüdischen Hinweise auf Babylon, aber auch die neutestamentlich wichtige Stelle 1Petr 5,13 nur am Rande (bes. 84). Anders gesagt: Die Biographie Babylons entsteht bei S. aus den Porträts biblischer Autoren. Die Sicht der Leserin integriert die zunächst unabhängigen Texte, angeregt durch die Erst-Biographie der Apk. Das bedingt Grenzen. Doch angesichts der heutigen Relevanz der Intertextualitätsforschung überwiegt die Stärke.

Es fehlt hier der Raum, die sorgfältig durchgeführten Exegesen der ausgewählten biblischen Abschnitte einzeln nachzuzeichnen. Halten wir lediglich die wichtigsten Ergebnisse fest und beginnen dazu anders als S. nicht beim Fluchtpunkt der Biographie, der Apk, sondern bei ihrem Anfang: Von der Entstehung (bei S. bevorzugt: Geburt) an ist Babylon geprägt durch »Macht als Konkurrenz zwischen Gott und Mensch« (149) und »Unsbezogenheit der Menschen« (153), überschattet von Verwirrung (s. die Verballhornung des Namens über die Basisbbl »vermischen«) und drohendem Untergang (145­164 zu Gen 10,10; 11,1­9). Der Name ist feminin, indes in Gen noch nicht ausgeformt zur Frau. Letzteres leistet Sach 5,5­11 »als zweiter Geburtstext« (163). Die Frau verkörpert dort das Böse, das rituell in Feindesland exiliert wird (164­196, bes. 181.187 f.). Die erschreckende Negativität der Frau erzwingt einen Seitenblick bis zu altorientalischen Mythen, der griechischen Theogonie (in der die Frau statt gut etwas »Schönes Schlechtes« ηÏeÓ Î·ÎÞÓ ist [Hesiod, theog. 585]) und dem Pandora-Mythos (189­191) und wird dadurch, dass zwei »gute« Frauen (192) die Böse in V. 9 wegbringen, nur begrenzt abgefedert.

Spätestens beim Querverweis auf griechische Quellen fällt auf, dass S. für die jüdische Tradition stets beim hebräischen Text bleibt und die Septuaginta vernachlässigt. Letztere hätte bei Sach 5 den sprachlichen Unterschied zur Theogonie bekräftigt (die Frau/das Böse in MT und LXX wird nicht geboren, sondern in ein Messgefäß gesperrt, was nebenbei die Rede von einer Geburtsgeschichte überhaupt fraglich macht [vgl. 196 zum Hebräischen]). Relevanter ist ein Unterschied in Gen 11: Die LXX ersetzt den Namen Babel V. 9 durch Sygdysis, »Vermengung/ Verwirrung« und steigert damit das kritische Gefälle. Trotzdem tritt der Neuname Sygdysisnur partiell in die Rezeption ein (in FJub 10,24). Neutestamentlich bleibt er irrelevant. Die Fluchtlinie zur Apk trifft also keinesfalls alle alttestamentlichen Texte (Gen 11 und Sach 5 beeinflussen Apk 17­19 kaum).

Ps 137, das große Lied der Exilierten (197­212), intoniert darauf zugleich mit der Erinnerung an Babel den Wunsch nach Vergeltung gegen die dortige Pein (206; dies hat nun unmittelbare Relevanz für die Bewegung zu Apk 18,6). Es bringt die Stadt der Qual vor den Herrn, auf dass er antworte (212). Den großen Tenor der Antwort markieren die prophetischen Texte: eine Ansage des Untergangs, den der Herr selbst befehligen wird (213­466). S. legt die Schwerpunkte dessen, die Untergangsskizze und das Spottlied in Jes 13,1­14,27, die Zeugenworte in Jes 21,1­12, die Absetzung der Königin Babel in Jes 47 (die metaphorisch geschlossenste und härteste geschlechtliche Demütigung Babels als Frau; 319 f.), die Pläne Gottes nach Jer 25 und schließlich Jer 50­51 (für S. die Summa des Untergangs Babylons) breit dar.

Analytisch scheinen mir die Beobachtung der Verknüpfungen zwischen den Babel-Texten (von 14,23 zu 21,1; von 21,9 zu 46,1), die einen »Ariadnefaden« im Jesajabuch konstituieren (327f., Zitat 328), und der Bilder-Kumulation (ohne Hierarchisierung und feminine Vereinseitigung) sowie Zitierungen in Jer 50 f. besonders gelungen (Zus. 464 f.). Außerdem weise ich nur auf folgende Details hin: Was das Jesajabuch (Endtext) angeht, korrespondieren der Niedergang des Königs in Jes 14 und der Frau Königin Babel in Jes 47 einander, indes unter Differenzierungen der Geschlechter. Der König wird erst im Totenreich, die Königin »bereits zu Lebzeiten gedemütigt und erniedrigt« (324). Das fatale gender-Gefälle, das wir schon bei Sach 5 beobachteten, setzt sich fort, zumal die Frau »in der Logik des Textes nur alles falsch machen kann« (325).

Bei der Behandlung des Jer-Buches stellt sich die Frage nach dem Verhältnis zwischen hebräischem Text und LXX besonders: Die LXX bietet eine andere Abfolge (Jer 50­51 steht als Kapitel 27­28 vor Jer 25,15­38 = LXX 32,1­14) und wiederholt einen etwas kürzeren bzw. abweichenden Text (bei Jer 25,26b; 29,3.4 des hebräischen Textes usw.). In manchem abstrahiert sie aus historischem Abstand, anderes spricht für eine theologisch divergente Sicht (etwa der Verzicht auf die Bezeichnung Nebukadnezzars als Gottesknecht bei 25,9; 34,5; 50,10 und die Zuschreibung der Rückführung aus dem Exil an Gott statt den König von Babel bei 49,12 [je Zählung hebr. Text]). S. meint, wegen ihres Zieltextes ­ Apk ­ den hebräischen Text bevorzugen zu müssen (343 f.). Doch mehren sich derzeit die Stimmen dafür, der Apk-Autor habe im Blick auf seine Leser und Leserinnen nicht nur selbst griechisch geschrieben, sondern auch bevorzugt LXX-Handschriften benützt. Tatsächlich folgt er, soweit ich sehe, an keiner der zwischen MT und LXX divergenten Stellen zwingend dem MT. Namentlich übergeht die Apk (bes. 18,6) wie die LXX die Pointe der Taumelbecherszene Jer 25,26b (Scheschach für Babel), die gut in ihr Gefälle gepasst hätte; umgekehrt liebt sie die Pantokrator-Bezeichnung der LXX (auch der LXX Jer). Eine gründliche Erarbeitung des Babel-Verständnisses in der LXX und ihrer Konsequenzen für die Intertextualität der Apk steht damit noch aus (zumal S. in ihren Ergebnissen bis 468 gerade die Spezifika des MT pointiert).

Bis Jer 50­51 gewinnt das Strukturmerkmal mehr und mehr Rang, frühere Texte anzuspielen oder zu zitieren. In Apk 17­19 setzt es sich vollends durch. Die Sinngebung der Biographie erfolgt durch ihr intertextuelles Gefüge, eine »Propheten-Harmonie« (49­144, Zitat 144). Mit dem Anspruch ultimativer Enthüllung zeigt der angelus interpres Babylon als Hure und Inkarnation gottfeindlicher Macht (sei es Roms, sei es abstrahiert). Es besitzt nicht eigentlich Vergangenheit (vgl. den Hinweis oben zur begrenzten Wirkung der Geburts-Texte) und Zukunft nur als Teil der Gegenwart eines sicheren Untergangs. Eine prophetische, keine Biographie in neuzeitlichem Sinn entsteht (144; selbst bei der Apk zeigt sich damit die angesprochene Schwierigkeit der biographischen Beschreibungsform).

Die Bündelung entwickelt aus der Intertextualität (mit ihren drei Ebenen Textbezüge, Sachbezüge, Bezüge bei den Rezipienten) eine Kommunikation der Texte. Sie gipfelt auf der Ebene der Rezeption in der biographischen Wahrnehmung von Babylon als Frau, Stadt und Prinzip (467­507). Präzis erkennt S., dass die »Personifizierung Babels Š das politische System auf Menschenmaß (reduziert)« (491). Da sie zudem in ihren Einzelanalysen prägnant die Negativität des Weiblichen in vielen der Babylon-Texte herausarbeitet, böte sich an dieser Stelle die Chance zu einer kritischen Auseinandersetzung mit der gender-Thematik. T. Pippin (Death and Desire 1992; von S. benützt) legte das für die Apk hart auf den Tisch. S. hält sich demgegenüber vornehm (zu vornehm?) zurück.

Alles in allem entsteht eine methodisch und inhaltlich überaus anregende Studie. Die vermerkten Kritikpunkte schmälern den Rang der vielen Erkenntnisse über die kulturgeschichtliche Karriere der Hure Babylon bis zur Femme fatale von Apk 17­19 nicht. Entsprechend ihrem kultur- und rezeptionsgeschichtlichen Interesse vermerkt S. außerdem immer wieder auch die nachbiblische Wirkungsgeschichte (z. B. des Ps 137 bei J. Katzenelson [200]). Lediglich vor der neuen Karriere der »Femme fatale« ab Charles Baudelaires Gedicht »Tu mettrais l¹univers entier ta ruelle« (eine-Apk-Umschreibung in den Fleurs du Mal, 1857­1868) hält sie inne, offenbar, um das Genre der theologischen Dissertation nicht zu sehr aufzubrechen.

Die Studie schließt mit einer umfangreichen, hilfreichen Bibliographie (509­541). Sie enthält nur geringfügige Satzfehler (§ A 4 verschob sich gegenüber dem Inhaltverzeichnis von S. 27 auf 28) und ist durch Register vorzüglich erschlossen. Das erleichtert und empfiehlt sie zusätzlich.