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Ausgabe:

Juni/2006

Spalte:

709–713

Kategorie:

Bibelwissenschaft

Autor/Hrsg.:

Egger-Wenzel, Renate, and Jeremy Corley [Eds.]

Titel/Untertitel:

Prayer from Tobit to Qumran

Verlag:

Inaugural Conference of the ISDCL at Salzburg, Austria, 5­9 July 2003. Berlin-New York: de Gruyter 2004. XIV, 551 S. gr.8° = Deuterocanonical and Cognate Literature Yearbook 2004. Lw. Euro 98,00. ISBN 3-11-018018-9.

Rezensent:

Hermut Löhr

Eine neue wissenschaftliche Vereinigung, die »International Society for the Study of Deuterocanonical and Cognate Literature« (ISDCL), legt mit diesem Sammelband ihr erstes Jahrbuch vor.

Der Verlag begründet damit zugleich eine neue Monographienreihe, die von Friedrich V. Reiterer, Pancratius C. Beentjes, Núria Calduch-Benages und Benjamin C. Wright herausgegeben wird. Als Abkürzung wird »DCLY« mit nachfolgender Jahreszahl (ohne Bandzählung) vorgeschlagen. Erklärtes Ziel des Unternehmens ist es, die Erforschung der »deuterokanonischen«, »pseudepigraphischen« und verwandten jüdischen Literatur zu befördern. Über Bezeichnungen, auch über diese, kann man lange und trefflich zwischen den Konfessionen und Disziplinen streiten. Entscheidend und uneingeschränkt zu begrüßen ist, dass erkennbar angestrebt wird, weder die Grenzen des Kanons noch die der Sprache oder vermeintlicher kultureller Milieus als Beschränkungen des Forschungsinteresses anzuerkennen. Ein Autor des vorliegenden Bandes spricht von »Jewish literature emanating from the axial age« (447). Die 21 Beiträge (elf in deutscher, zehn in englischer Sprache verfasst) des Buches, das auf einen Kongress der ISDCL von 2003 zurückgeht, schlagen einen weiteren chronologischen Bogen, als durch den Titel suggeriert, der durch die fünf unbenannten Abschnitte des Buches strukturiert wird.

Das Thema des antiken Gebets beschäftigt Exegese, Judaistik und Religionswissenschaften in den letzten Jahren in erfreulich wachsendem Maße. Ältere, nicht zuletzt theologisch bedingte, Vorbehalte scheinen aufgegeben. Notwendig ist sowohl eine gründliche Analyse von Einzeltexten in ihrem ja meist literarischen Kontext wie auch der Aufweis textübergreifender struktureller und motivlicher Zusammenhänge, liturgiegeschichtlicher Entwicklungen und sozio-kultureller Bedingungen des Betens. Der Band, der sich auf israelitisch-jüdische und christliche Quellen beschränkt, ist insgesamt der ersten Aufgabenstellung deutlich mehr verpflichtet als der zweiten.

Gleichwohl bietet der einführende Beitrag von Henning Graf Reventlow zum »Gebet im Alten Testament« (oder, nach den Seitentiteln, »Strukturen des Gebets im Alten Testament«) einen Überblick, der Schlaglichter auf Tendenzen der Forschung wirft. Das durchaus theologische Anliegen des Beitrags liegt darin, sowohl den dialogischen wie den kommunitären Charakter des Gebets im Alten Testament zu betonen und damit sachgerecht zusammenzuhalten, was in der Frage nach »Funktionen« des Gebets bisweilen auseinander fällt.

Die zwei folgenden Aufsätze beschäftigen sich mit dem Gebet par excellence im Alten Testament, den Psalmen. Nach einer Reflexion darüber, was unter »Gebet« genau zu verstehen sei, welche die nur zu berechtigte Frage nach der Einbeziehung monologischer Sprachformen zumindest anmerkungsweise benennt, konzentriert sich Jürgen van Oorschot unter dem Titel »Strukturen des Gebetes« auf die Asaf-Psalmen (Pss 73­83) und behandelt an ihnen exemplarisch Probleme des Gebets im Alten Testament, wie die Frage nach Trägergruppen und Eponymen der Sammlung, ihren kultischen Wurzeln sowie der strukturellen Entwicklung. Die damit bereitgestellten wichtigen Impulse und Kategorien sind für die Analyse der späteren jüdischen Gebetsliteratur anschlussfähig. Harm W. M. van Grol stellt in seinem Beitrag zu »Psalm, Psalter, and Prayer« die Frage, inwiefern der einzelne Psalm als Gebet und der Psalter als Gebetbuch zu verstehen seien. Dies führt zurück auf die definitorische Frage. Im Psalter, so das Ergebnis der Reflexionen, finden sich sowohl Gebete im engeren (Bittgebete) wie im weiteren Sinn, aber auch Texte, »which can not be seen as prayer by any definition« (42). Van Grol nimmt die auf R. Albertz zurückgehende Differenzierung zwischen »Groß-« und »Kleinkult« auf und plädiert für Gunkels Annahme eines ursprünglich kultischen Sitzes im Leben der Psalmgattungen (im Unterschied zum konkreten Einzeltext). Das Buch der Psalmen in seiner Endgestalt wird mit E. Zenger u. a. als Gebetbuch der Chasidim um 200 v. Chr. verstanden, doch wird der Sammelcharakter betont: »The poems are written separately and ask for separate reading« (61). Dass diese These ihre Bewährung an der Rezeption des Psalters im Neuen Testament finden könnte und müsste, wird gesehen.

Der zweite Abschnitt der Sammlung betrifft die »deuterokanonische« Literatur. Allein drei Beiträge, aus der Feder von Maurice Gilbert, Friedrich V. Reiterer und Otto Mulder, beschäftigen sich mit dem Buch Jesus Sirach und bestätigen so das im Vorwort konstatierte neue intensive Interesse an dieser frühjüdischen Schrift.

Nach dem wesentliche Texte aus Sir überblickenden Beitrag von Gilbert, der sich zur Aufgabe stellt »to read these prayers of Ben Sira and his teaching on prayer in their context, either particular or general« (132), konzentriert sich die Studie von Reiterer auf Sir 22,27­23,6 und bietet hierzu eine gründliche, textsynchron orientierte und vor allem die poetische Struktur beachtende Kommentierung. Auch werden die griechische und die syrische Version des Textes sorgsam miteinander verglichen. Mulder plädiert in seinem Beitrag für die Ursprünglichkeit des in der Genizah-Handschrift B gebotenen hebräischen Textes von Sir 51. Die hier bezeugten drei Psalmen stammen von Ben Sira selbst. Die sorgfältige und geradlinige Argumentation gibt die weitere Textüberlieferung als bewusste Fortentwicklungen des ursprünglichen Entwurfes zu verstehen.

Zum Gebet der Ester im griechischen Ester-Buch (und im Vergleich beider griechischer Fassungen) bietet Johannes Marböckeine den Buch-Kontext motivlich und strukturell berücksichtigende Untersuchung. Seine hochinteressante These, das Gebet Esters sei »eine Summe der griechischen Neuinterpretation des hebräischen Buches« (91), verdiente noch weitere Entfaltung. Während der Beitrag von Alexander A. DiLella sich mit den Gebeten Tobits und Sarahs in Tobit 3,2­6 bzw. 3,11c­15k nach der längeren griechischen Rezension beschäftigt und Hermann Lichtenberger einen an eigenen Neuübersetzungen reichen Überblick über Gebetstexte, -riten und -gesten und ihre historiographischen Funktion in 2Makk gibt, fokussieren die Beiträge von Barbara Schmitz und Pancratius C. Beentjes das Buch Judith. Schmitz versucht auf wenigen Seiten, u. a. in Auseinandersetzung mit U. Richert-Mittmann, eine strukturelle Beschreibung des ganzen Buches. Das beigegebene Diagramm (229) visualisiert dabei »Spannung« als wesentlichen Parameter. Beentjes hingegen führt die von van Oorschot und van Grol eröffnete Reflexion auf das Verständnis von »Gebet« weiter im Blick auf die literarische Funktion und erörtert diese überzeugend anhand einer Reihe von thematisch relevanten Texten von Judith. Hier ist solider Grund für weitere Arbeit gelegt. Der in den Fußnoten angestellte Vergleich mit der Fassung der Vulgata verdiente noch eigene Beachtung.

Ähnlich umfassend führt Rüdiger Feuerstein, in besonders intensiver Auseinandersetzung mit O. H. Steck, in die Problematik im Buch Baruch ein, zu der B. N. Wambacq und A. Wénin schon wertvolle Beiträge geliefert hatten. Die »Schlussbemerkung« ist im Blick auf das thematische Ganze besonders beachtenswert: In der Darstellung von Bar »ersteht vor unserem Auge eine ðGebetstraditionÐ, Gebet als Bestandteil einer ðLiturgietraditionЫ (289 f.). Helmut Engel schließlich gibt einen die Paraphrase nicht scheuenden Überblick über die Gebetsthematik u. a. m. in der Sapientia Salomonis.Der dritte Teil wird eröffnet durch eine recht umfangreiche Kompositionsanalyse der Psalmen Salomos von Otto Kaiser. Dem aufmerksamen Leser ergeben sich durch den Vergleich mit der Studie van Grols erhellende Einsichten in eine nur implizit geführte methodologische Debatte, die auch das Thema »Gebet« betrifft. Der Mitherausgeber Jeremy Corley widmet sich in seinem wichtigen Aufsatz dem hohepriesterlichen Gebet in 3Makk 2,1­20 und berücksichtigt dabei besonders die verwendeten Gottesnamen.

Entschlossener als andere Beiträge nehmen die Kommentierungen Corleys die Fülle antik-jüdischer (Gebets-)Literatur in den Blick. Die keineswegs banale oder »veraltete«, sondern gerade besondere Quellenkenntnis und Sensibilität voraussetzende Motiv- und Traditionsanalyse kommt hier eindrucksvoll zu ihrem Recht. Durch einen strukturellen Vergleich u. a. mit Ps 74 (73LXX), Est 13,9­17LXX und 4Q372 1,16­13 wird auch die dringliche Aufgabe einer Gattungsgeschichte nach-alttestamentlicher Gebete befördert.

Im vierten Teil der Sammlung finden sich neben einem von
Mario Cimosa
vorgenommenen detaillierten Vergleich von Hi 42,7­10LXX mit TestHiob 42,4­8, der ein neues Licht auch auf die neutestamentliche Christologie zu werfen vermag, wertvolle Überblicke über die Erforschung des Gebets in der »cognate literature« von Eileen Schuller, Tessel Jonquière und Stefan C. Reif.

Schuller zeigt einmal mehr, wie wichtig es ist, die Gebetstexte aus Qumran als integralen Bestandteil der jüdischen Literatur der Zeit zu lesen. Eine umfassende Quellenkenntnis vermag den oft als tief empfundenen Graben zwischen literarischen und liturgischen Texten zu überbrücken, ohne methodisch unsicher zu werden. Jonquières Beitrag belegt die Fruchtbarkeit und Bedeutung der Fragestellung für das Textcorpus des Flavius Josephus und kann als vielversprechendes »Angeld« auf die angekündigte Monographie zum Thema gelesen werden. Einen weiten, über die Beachtung einzelner Texte oder Textgruppen hinausführenden Horizont eröffnet der besonders liturgiegeschichtliche Fragestellungen beleuchtende Beitrag von Reif zu »Prayer in Early Judaism«. Der sich hier findenden Perspektive auf das Judentum nach 70 n. Chr. wird künftige Forschung zur Geschichte der jüdischen und christlichen Liturgie, von bereits vorliegenden Ansätzen ausgehend, den Blick auf das antik-christliche Gebet beifügen, und zwar im Sinne der Beschreibung eines Dialogs. Im fünften Teil des Buches werden abschließend zwei Aspekte des frühchristlichen Gebets behandelt. Oda Wischmeyer widmet sich dem Gebet des Paulus in 2Kor 12,7 f. (im Vergleich mit Joh 12,27 f. und Mk 14,32­42) und wagt dabei auch den Rückschluss vom im Brief erzählten Gebet auf die historische Gebetspraxis des Paulus: »Wir stoßen auf den Typus des dringenden Kurzgebets in Lebensgefahr oder großer Bedrängnis, in der ein Beter ­ hier Paulus ­ so elementar und dringend um Hilfe bittet, dass sein dreimaliges Gebet fast in die Nähe einer magischen Anrufung kommen könnte« (477). Im letzten Beitrag untersucht Eve-Marie Becker die sechste Bitte des Vaterunser, des »bedeutendsten frühjüdischen (sic!, H. L.) und frühchristlichen« (481) Gebets. Entschlossen leitet sie die Vorstellung vom peirasmós aus frühjüdisch-weisheitlichem Denken ab, während sie in der Bestimmung der Referenz von ponêrós bzw. ponêrón (offenbar schon vor-mt) offen bleibt. Die zuletzt u. a. von M. Philonenko vorgeschlagene eschatologische Deutung der Bitte vermag hier profilierter Auskunft zu geben.

Während sich Literaturangaben von unterschiedlicher Ausführlichkeit zu jedem Beitrag finden, ist das Ganze durch Autoren-, Stellen- und Sachregister (einschließlich kurzer griechischer und syrischer Wortregister) erschlossen. Die Systematik des Stellenregisters erschließt sich nicht in jedem Detail unmittelbar. Der Fehlerteufel hat, soweit ich sehe, nur in dem Beitrag von Kaiser deutlichere Spuren hinterlassen.

In einem farbigen Panorama vereinigt der Band Bewährtes und Innovatives, lange ausgewiesene Experten und Debütanten im Bereich der antik-jüdischen Literatur. Das Werk ist repräsentativ für die Chancen, aber auch die Schwierigkeiten und drohenden Einseitigkeiten der aktuellen Bemühungen um das antike jüdische und christliche Gebet. In seinen besten Beiträgen ist es ein wichtiger Baustein künftiger Forschung.