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Ausgabe:

April/1998

Spalte:

396 f

Kategorie:

Autor/Hrsg.:

Kaiser, Jochen-Christoph, u. Martin Greschat [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Sozialer Protestantismus und Sozialstaat. Diakonie und Wohlfahrtspflege in Deutschland 1890 bis 1938.

Verlag:

Stuttgart-Berlin-Köln: Kohlhammer 1996. 231 S. gr.8°. Kart. DM 39,­. ISBN 3-17-014145-7.

Rezensent:

Helmut Talazko

Die Bundesrepublik Deutschland versteht sich als Sozialstaat, kann aber kein Monopol auf soziale Betätigung beanspruchen. Sie beschränkt sich deshalb bei der Bewältigung sozialer Aufgaben nicht auf behördliche Maßnahmen, sondern bezieht gesellschaftliche Kräfte ein. Diese sind zum immer noch größten Teil in den Spitzenverbänden der freien Wohlfahrtspflege organisiert. Ihre Einrichtungen bilden zusammen mit denen des Staates und vor allem der Kommunen das für Deutschland typische duale System der sozialen Sicherung. Einer dieser Spitzenverbände ist das Diakonische Werk der EKD. Seine Geschichte ist deshalb nicht nur für Kirchen-, sondern auch für Allgemeinhistoriker von Interesse, wie umgekehrt erstere bei der Untersuchung der Geschichte von Innerer Mission und Diakonie Entstehung und Entwicklung des Sozialstaates im Auge behalten müssen; der Einbindung der Diakonie in den Sozialstaat muß ein interdisziplinäres Vorgehen bei der Erforschung seiner Geschichte entsprechen.

Das Diakonische Werk hat dem Rechnung getragen, indem es im Februar 1995 Allgemein- und Kirchenhistoriker zu einem von seiner Historischen Kommission und dem Diakoniewissenschaftlichen Institut in Heidelberg vorbereiteten Symposion eingeladen hat. Die Vorträge, die dabei gehalten worden sind, werden in diesem Band veröffentlicht.

Die sozialwissenschaftliche Wohlfahrtsverbände-Forschung betrachtet als ein wesentliches Merkmal dieser Verbände ihre Verwurzelung in bestimmten sozial-kulturellen Milieus. Mit gutem Grund beginnt der Band deshalb mit einem Beitrag von Theodor Strohm "zum soziokulturellen Selbstverständnis der Diakonie", der von Wicherns Verständnis von Innerer Mission über "die Blüte der Volksmission in der Weimarer Zeit" bis zur Schließung der Apologetischen Zentrale 1937 reicht und zeigt, daß Innere Mission immer mehr als Wohlfahrtspflege gewesen ist. Mit dem sozial-kulturellen Milieu, nun aber konkret mit dessen Stellungnahmen zur sozialen Frage und zur Sozialpolitik, beschäftigt sich auch der folgende Beitrag von Klaus Erich Pollmann. Deutlich werden die Unterschiede zwischen der sozialpolitischen Zurückhaltung der Kirchenbehörden und dem Engagement vor allem jüngerer Pfarrer, zwischen dem Evangelisch-sozialen Kongreß und der Freien kirchlich-sozialen Konferenz. Jürgen Reulecke lenkt dann den Blick auf die Entwicklungen im kommunalen und staatlichen Bereich und skizziert Vorgeschichte und Entstehung des Sozialstaates bis 1930. Er zeigt, daß die Städte vor dem Ersten Weltkrieg Schrittmacher auf dem Wege zum Sozialstaat sind und daß ihr "Munizipalsozialismus" auch die Träger der freien Wohlfahrtspflege zum Zuge kommen läßt. Nach dem Kriege wird der Übergang von der Sozialstadt zum Sozialstaat vollzogen, der unter Einbeziehung der freien Wohlfahrtspflege eine moderne Wohlfahrtspolitik betreibt. Kaiser ergänzt den Beitrag von Reulecke, indem er "die Besonderheiten protestantischer Wohlfahrtspflege seit der Jahrhundertwende und vor allem während des Weltkrieges" hervorhebt. Die Bedeutung der Kriegszeit wird darin gesehen, daß die schon damals entstehende Kriegswohlfahrtspflege "die entscheidende Wende sozialer Politik in Reich, Ländern und Gemeinden" bringt; in diesem Zusammenhang kommt es zu einer verstärkten Kooperation von freier und öffentlicher Wohlfahrtspflege, die das duale System des Weimarer Wohlfahrtsstaates "präfiguriert".

Die Besonderheit der Inneren Mission besteht darin, daß sie sich nicht als "sozialer Arm des deutschen Protestantismus" versteht, sondern primär einem missionarischen Auftrag verpflichtet weiß. So nimmt sie zwar auch an der Kriegswohlfahrtspflege teil und stellt sich auf die damit eingeleiteten Wandlungen ein, sieht aber vor allem die Chance einer Rechristianisierung der Gesellschaft. Christoph Sachße nimmt den Faden von Reulecke wieder auf und referiert über die sozialpolitischen Entwicklungslinien 1929 bis 1938. Die auf den ersten Blick überraschende zeitliche Begrenzung hat ihren Grund darin, daß die Sozialpolitik des Nationalsozialismus einen Trend fortsetzt, der schon in der Endzeit der Weimarer Republik angelegt gewesen ist. Sachße denkt dabei an den Ausbau von Elementen autoritärer Staatlichkeit, aber auch daran, daß die nationalsozialistische Sozialpolitik, die sich vorwiegend als Bevölkerungs- und Rassenpolitik versteht, an die eugenischen Überlegungen anknüpfen kann, die in den Jahren der Wirtschaftskrise an Bedeutung gewinnen. 1938 beginnt dann eine neue Phase, in der die spezifisch nationalsozialistischen Herrschaftsstrukturen in den Vordergrund treten.

Diese großen Überblicke werden ergänzt durch zwei konkreten Problemfeldern gewidmete Studien, in denen es wieder um den evangelischen Bereich geht. Jürgen Scheffler schildert die Entstehung der Wandererfürsorge in den 1880er Jahren im Kontext des sozialen Protestantismus und die Zusammenarbeit von Staat, Kommunen und Innerer Mission, zu der es auf diesem Arbeitsfeld schon früh kommt, und Michael Schwartz die Beteiligung des Protestantismus an der über das ganze weltanschaulich-politische Spektrum sich erstreckenden eugenischen Diskussion in der Weimarer Zeit, die er als eigenständiges Phänomen und nicht lediglich als Vorgeschichte der nationalsozialistischen Rassenhygiene ansieht.

Alle Beiträge stammen von ausgewiesenen Kennern der Materie, und auch wo sie keine neuen Ergebnisse bringen, besitzen sie großen Wert als Informationen aus erster Hand, zumal wenn sie durch die unkonventionelle Art der Periodisierung Zusammenhänge sichtbar machen.

Der Band wird beschlossen durch Berichte über laufende oder schon beendete Forschungsvorhaben. So informiert Matthias Benad ausführlich über das Forschungsprojekt "Bethel in der Zeit von Pastor Fritz von Bodelschwingh". Die weiteren elf Berichterstatter sind Theologen und Historiker, denen gemeinsam ist, daß sie für ihre Arbeit im Archiv des Diakonischen Werke der EKD verwahrte Quellen herangezogen haben. Dabei wird deutlich, daß die diakoniegeschichtliche Forschung in erfreulichem Fortgang begriffen ist.