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Ausgabe:

Juni/2006

Spalte:

697–699

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Weber, Max

Titel/Untertitel:

Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen. Das antike Judentum. Schriften und Reden 1911­1920.

Verlag:

Hrsg. v. E. Otto unter Mitwirkung v. J. Offermann. 2 Halbbde. Tübingen: Mohr Siebeck 2005. 1. Halbbd.: XXIX, 606 S. m. 1 Abb. u. Ktn. 2. Halbbd.: XXI, S. 607­1157. gr.8° = Max Weber Gesamtausgabe. Abteilung I: Schriften und Reden, 21/1 u. 21/2. Lw. Euro 214,00 u. Euro 189,00. ISBN 3-16-148487-8 u. 3-16-148529-7.

Rezensent:

Dirk Kaesler

»Das Judentum war, seit dem Exil, die Religion eines bürgerlichen ðPariavolkesÐ Š und geriet im Mittelalter unter die Führung einer ihm eigentümlichen literarisch-ritualistisch geschulten Intellektuellenschicht, welche eine zunehmend proletaroide, rationalistische Kleinbürgerintelligenz repräsentierte«: Mit diesen markigen Sätzen skizzierte der deutsche Sozialwissenschaftler Max Weber (1864­1920) den Platz, den er dem Judentum in seinen vergleichenden Studien zur »Wirtschaftsethik der Weltreligionen« zuweist.

An die erste Serie ihrer Veröffentlichung als Aufsätze während der Jahre 1915/16 schloss sich W.s Vorhaben an, diese Texte nach Ende des Ersten Weltkrieges zu überarbeiten und in Buchform zu veröffentlichen. W. selbst entwarf den Text, mit dem der Tübinger Verlag Mohr Siebeck im Oktober 1919 die »Gesammelten Aufsätze zur Religionssoziologie« ankündigte: Die hier gesammelten Aufsätze sind fast alle im ðArchiv für Sozialwissenschaft und SozialpolitikÐ erschienen, aber nicht nur durchgesehen, sondern durch beträchtliche Einschiebungen und Beibringung von Belegen ergänzt. An der Spitze steht der viel diskutierte Aufsatz über »Die protestantische Ethik und der Geist des KapitalismusÐ. Weiter folgen Š die Aufsätze über ðWirtschaftsethik der WeltreligionenÐ, erweitert durch eine kurze Darstellung der ägyptischen und mesopotamischen und der zarathustrischen religiösen Ethik, namentlich aber durch eine der Entstehung der sozialen Eigenart des Okzidents gewidmeten Skizze der Entwicklung des europäischen Bürgertums in der Antike und im Mittelalter. Die Darstellung des Judentums reicht bis zum Beginn der Makkabäerzeit. Ein dritter Band wird die Darstellung des Urchristentums enthalten, ein Schlussband das Christentum des Okzidents behandeln. Gegenstand ist überall die Behandlung der Frage: Worauf die ökonomische und soziale Eigenart des Okzidents beruht, wie sie entstanden ist und insbesondere in welchem Zusammenhang sie mit der Entwicklung der religiösen Ethik steht.«

Bedingt durch W.s unerwarteten Tod im Juni 1920 kam es nicht zur Einlösung dieses ehrgeizigen Programms. Einzig die Druckfahnen des ersten Bandes, in dem die »Vorbemerkung«, die Studien zur Kulturbedeutung des Protestantismus, die »Einleitung«, die Studien über Konfuzianismus und Taoismus und die »Zwischenbetrachtung« enthalten sind, konnten von W. noch persönlich redigiert werden und erschienen in Buchform im Jahr seines Todes. Die Bände 2 (Hinduismus und Buddhismus) und 3 (Antikes Judentum) wurden von Marianne Weber postum aus den »verlassenen Manuskripten« mit Hilfe von Experten komponiert und bilden seit 1921 die Ausgangsbasis für eine intensive und weltweite Interpretationsindustrie.

Angesichts der Tatsache, dass es im Rahmen der seit 1975 im sehr allmählichen Erscheinen begriffenen Max Weber-Gesamtausgabe nicht gelang, den einschlägigen Band zum 100. Jubiläum der Erstpublikation der »Protestantischen Ethik« zu veröffentlichen, ist es umso begrüßenswerter, dass nunmehr der Band zu W.s Studien zur Kulturbedeutung des antiken Judentums vorgelegt wird, nachdem die Bände über Indien (1996) und China (1989) bereits seit einiger Zeit vorliegen.

Der Münchner Alttestamentler Eckart Otto krönt mit dieser Publikation seine jahrzehntelangen Forschungsarbeiten an den Studien Max Webers des antiken Judentums, zu denen er mehrere Aufsätze und eine umfängliche Monographie vorab veröffentlichte. Als bemerkenswert sollte notiert werden, dass es Otto, zusammen mit Julia Offermann, nicht nur gelungen ist, diesen für eine heutige Leserschaft nicht leicht zu entschlüsselnden Text von bislang fast 500 Seiten in jeder Hinsicht zu erläutern und mit dem Forschungsstand, sowohl jenem, auf den W. sich stützte, als auch mit dem heutigen, zu verknüpfen. Darüber hinaus bieten die beiden Teilbände, die zusammen über 1100 Seiten umfassen, auch zwei bislang unveröffentlichte und unbekannte Texte: Ein Manuskript »Ethik und Mythik/rituelle Absonderung« zur Religionsgeschichte des antiken Judentums aus den Jahren 1911/1913, dem Otto eine entscheidende Brückenstellung zwischen der »Protestantischen Ethik« und dem religionssoziologischen Kapitel aus »Wirtschaft und Gesellschaft« zuordnet, und ein Zeitungsbericht über einen Vortrag zum Thema »Die soziologischen Grundlagen der Entwicklung des Judentums«, den W. im Januar 1917 in München hielt.

Die grundlegenden Aussagen und die Argumentation der W.schen Studien zum antiken Judentum können an dieser Stelle als weitgehend bekannt vorausgesetzt werden, so dass auf deren Rekapitulation hier verzichtet wird. Für die in den beiden Teilbänden vorgelegte, definitive Fassung kommt es nunmehr sehr viel eher darauf an, der Frage nachzugehen, von welchem Wert die W.schen Analysen heute und in Zukunft sein werden. Die bisher publizierten Reaktionen auf die beiden Bände verweisen auf Problemzusammenhänge, die bereits auf einer von Otto im Februar 2002 organisierten Tagung vehement zur Sprache kamen: Dort hatte beispielsweise sein Münchner Kollege, Friedrich Wilhelm Graf, W. den Vorwurf gemacht, ein genialer, aber wenig einfallsreicher »Begriffsdieb« gewesen zu sein, dessen Forschungsergebnisse weder damals noch heute einen weiterführenden Erkenntnisgewinn erbrächten. Wesentlich schärfer formulierte es soeben der Islam-Wissenschaftler Friedrich Niewöhner in seiner Rezension der Neuedition in der FAZ: »Was inhaltlich über das antike Judentum und die Juden in der Antike in diesen Bänden berichtet wird, braucht darum heute eigentlich nicht mehr gelesen zu werden, es ist von keinem Belang.«

Vor allem die W.sche Charakterisierung des nachexilischen Judentums als »eines rituell, formell oder faktisch, von der sozialen Umwelt geschiedenen Gastvolkes«, eines »Paria-Volkes«, erregte schon zu W.s Zeiten erheblichen Unmut. Umso bemerkenswerter muss es erscheinen, wenn der Jerusalemer Philosoph Thomas Meyer in seiner Rezension in der FR betont, wie verdienstvoll die Verwendung gerade des »Paria«-Begriffs als einer idealtypischen Konstruktion sei: »Damit ist Weber der erste, der die Bedeutung des antiken Judentums für die Weltgeschichte hervorhebt.«

Es ist das große Verdienst Eckart Ottos, uns diese einschlägigen Schriften nach Jahrzehnten selbstlosen Dienstes am Text in einer mustergültigen Aufbereitung präsentiert zu haben. Damit kann und sollte ab nun eine neue und besser informierte Auseinandersetzung mit diesen historischen Schriften W.s anheben. Die Einladung dazu ist ergangen, sie sollte von der einschlägigen Forschung angenommen werden.