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Ausgabe:

Juni/2006

Spalte:

695–697

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

King, Karen L

Titel/Untertitel:

What is Gnosticism?

Verlag:

Cambridge-London: Harvard University Press 2003. XIV, 343 S. gr.8°. Kart. £10,95. ISBN 0-674-01762-5.

Rezensent:

Jens Schröter

Die »Note on Methodology«, die merkwürdigerweise erst am Ende des Buches platziert ist, gibt Auskunft über die Prämissen, die Karen King, Professorin für Kirchengeschichte an der Harvard Divinity School und Autorin des zu besprechenden Buches, bei ihrer Beschäftigung mit dem frühen Christentum leiten: Es geht ihr nicht nur um die Rekonstruktion von Vorstellungen und Inhalten frühchristlicher Texte, vielmehr sollen gängige Paradigmen der Konstruktion christlicher Identität und Geschichte auf den Prüfstand gestellt werden. Insbesondere hat sie dabei die Kategorien »Orthodoxie« und »Häresie« und deren ideologische Funktion für die Sicht auf die Christentumsgeschichte im Blick.

Die Basis für diesen Ansatz liefert die gegenwärtige Diskussionslage. Das frühe Christentum erweise sich durch neue Schriftenfunde und veränderte Fragestellungen zunehmend als ein überaus komplexes Phänomen. In den Blick treten zahlreiche Richtungen, die in Kontroversen über so zentrale Fragen wie die Interpretation der Lehre Jesu, die Bedeutung seines Todes, die Rolle von Frauen und Sexualität oder die anzustrebende Gestalt christlicher Gemeinschaften verwickelt waren.

Konkretisiert wird das Programm anhand des Begriffs »Gnosis«. Dieser spielt in Rekonstruktionen der Geschichte des frühen Christentums gängigerweise eine zentrale Rolle. Was aber wird mit diesem Begriff genau bezeichnet? Seit der Entdeckung der Nag Hammadi-Codizes im Jahr 1945 wurde diese Frage zunehmend virulent. Ist »Gnosis« eine frühchristliche Häresie? Handelt es sich um eine Richtung spätantiker Religionsphilosophie, deren Ursprünge in vorchristlicher Zeit liegen? Ist »Gnosis« eher eine Gestimmtheit des spätantiken Geistes, die gegenwärtig in der New Age-Bewegung ein Pendant besitzt? Oder handelt es sich um eine neuzeitliche Kategorie, die dazu erfunden wurde, in theologischen Auseinandersetzungen Ketzerhüte an unliebsame Gegner zu verteilen?

K. geht der Frage nach Inhalt und Verwendung des Begriffs »Gnosis« in mehreren Schritten nach. Problematisiert wird zunächst die Auffassung von »Gnosis« als frühchristlicher Häresie. Die antihäresiologischen Traktate der frühen Kirchenväter ließen sich hierfür nicht heranziehen, denn sie verwendeten den Begriff »Gnosis« gar nicht und lieferten auch kein eindeutiges Bild einer »häretischen« Gruppe von »Gnostikern«. Klemens von Alexandria kann »Gnostiker« sogar in positivem Sinn für Christen mit fortgeschrittener Erkenntnis verwenden. Die polemischen Äußerungen bei Irenäus, der ein einheitliches Christentum einer Zersplitterung der Häresien in verschiedene Richtungen und Lehren gegenüberstellte, ließen sich gleichfalls nicht ohne weiteres auf den historischen Befund abbilden, schon gar nicht einer Definition von »Gnosis« zu Grunde legen.Vorgestellt werden sodann zwei Erklärungsmodelle der kritischen Forschung. Adolf von Harnack hatte die Gnosis bekanntlich als »akute Hellenisierung des Christentums« verstanden und sie mit Hilfe von elf Merkmalen definiert. Er entwarf auf diese Weise ein facettenreiches Bild der Gnosis als spätantiker synkretistischer Strömung, die er nicht als »Häresie« bezeichnete, sondern als eine Ausprägung des Christentums neben die frühkatholische Kirche stellte. Hinter beiden läge das »reine«, noch nicht durch pagane Elemente »kontaminierte« Urchristentum. Diese Vorstellung eines »reinen Kerns« des Christentums, der von seiner historischen »Schale« ­ sei es Gnosis oder Katholizismus ­ zu unterscheiden sei, wird von K. einer Kritik unterzogen.

Die Religionsgeschichtliche Schule hatte die Gnosis dagegen als vorchristliche Bewegung mit Wurzeln in iranischer, babylonischer und sogar indischer Mythologie verstanden. Der positive Beitrag dieses Zugangs bestehe in der Einbindung der Erforschung des Urchristentums in die spätantike Religionsgeschichte. Allerdings hatte die Religionsgeschichtliche Schule die Forschung vor allem mit ihrer These vom »Erlösermythos« in die Irre geführt.

In einem weiteren Kapitel legt K. die Notwendigkeit eines Überdenkens der Kategorie »Gnosis« anhand der Entwürfe von Walter Bauer und Hans Jonas dar. Bauer hatte die These vom zeitlichen Vorrang der Orthodoxie vor der Häresie in ihr Gegenteil verkehrt, blieb dabei aber der Problematik einer solchen Gegenüberstellung verhaftet, von der sich eine Rekonstruktion der Anfänge des Christentums freimachen sollte. Jonas hatte wichtige religionsphilosophische Aspekte zur Erforschung der antiken Gnosis beigesteuert, war dabei aber von einem einheitlichen Bild »der« Gnosis geleitet, das sich empirisch nur schwer verifizieren lasse.Nach dieser Aufbereitung der Diskussionslage wendet sich K. in zwei Kapiteln den Nag Hammadi-Texten und deren Bedeutung für ein Bild des frühen Christentums zu. Bemerkenswert sei zunächst, dass sich aus diesen Texten keineswegs das Bild einer einheitlichen »häretischen« Gruppe ergebe. Vielmehr ließen sich vier Strömungen erkennen: Valentinianismus, Sethianismus, Hermetik und ein »Thomas-Christentum«. Weitere Texte ließen sich keiner dieser Gruppen zuordnen. Man treffe hier also auf eine Vielfalt frühchristlicher Strömungen, die sich gelegentlich überschneiden und an Punkten voneinander abweichen, wo man es nicht unbedingt erwarten würde.

Das zweite Kapitel zu Nag Hammadi untersucht drei gängige Kategorien zur Definition von Gnosis: Dualismus, asketische bzw. libertinistische Ethik und Doketismus. K. zeigt, dass sich mit Hilfe dieser Kategorien kein Bild einer antiken Richtung erstellen lasse, der der Name »Gnosis« beigelegt werden könne. Auch unter denjenigen Schriften, die gängigerweise als »gnostisch« eingestuft würden ­ wie etwa die Schriften der »valentinianischen« und der »sethianischen« Gnosis ­, ließen sich Beispiele anführen, auf die sich eine oder mehrere der genannten Kategorien nicht anwenden ließen, wie etwa das Evangelium der Wahrheit, Marsanes oder Allogenes.

Das Fazit lautet, die Kategorie »Gnosis« sei, jedenfalls in ihrer bisherigen Verwendung, unbrauchbar und deshalb zu verabschieden. Damit einher geht das Plädoyer, die Geschichte des frühen Christentums nicht länger in den Kategorien von »Orthodoxie« und »Häresie« zu rekonstruieren, da es sich hierbei um ein für historische Arbeit untaugliches Instrumentarium handle. Auch die Vorstellung eines reinen Ursprungs des Christentums sei aufzugeben, da religiöse Identität stets ein in Veränderung begriffenes soziales Konstrukt sei. Es gehe deshalb um »Kontinuität in der Differenz«. Die Geschichte des frühen Christentums sei zudem künftig nicht mehr als diejenige einer Gesamtbewegung, sondern eher in Form untereinander nur locker verbundener Episoden zu schreiben.

K. liefert eine überzeugende Analyse der mit der Verwendung des Begriffs »Gnosis« verbundenen ideologischen Implikationen. Die Infragestellung der Kategorie ist nicht zuletzt deshalb berechtigt, weil es sich um ein Konstrukt handelt, dessen Inhalt um so fragwürdiger wird, je genauer die Texte bzw. die hinter diesen vermuteten frühchristlichen Gruppen analysiert werden. Es steht in der Tat in Frage, ob mit dem Begriff eine historische Größe ­ sei es als Zusammenstellung inhaltlich miteinander verbundener Texte, als eine Art »Interpretationsmilieu« für philosophische und biblische Schriften oder als eine bzw. mehrere soziologisch identifizierbare Gruppe(n) im Umfeld des frühen Christentums ­ erfasst wird. Sollte dem nicht so sein, läge es in der Tat nahe, auf den Begriff zumindest vorläufig zu verzichten. Der wichtigste Ertrag der Studie liegt deshalb darin, darauf aufmerksam zu machen, wie die Wahrnehmung von Geschichte und Identität durch Deutungskategorien gesteuert wird. Die Angemessenheit dieser Kategorien ist deshalb immer wieder kritisch zu überprüfen, wie sich anhand des Begriffs »Gnosis« sehr gut demonstrieren lässt.

An anderer Stelle erscheinen die aufgebauten Alternativen weniger überzeugend. Die Geschichte des frühen Christentums wird heute kaum irgendwo nach dem Modell von Orthodoxie und Häresie bzw. der einen reinen Lehre am Anfang geschrieben. Dass die frühen Kirchenväter hier verallgemeinert und polemisch verzerrt haben, ist keine neue Einsicht. Ob K.s eigener Vorschlag, auf eine übergreifende Geschichte des Christentums zu Gunsten einer Vielzahl von Geschichten nebeneinander existierender frühchristlicher Gruppen zu verzichten, zu überzeugen vermag, sei zudem dahingestellt. Immerhin zeichnen sich bereits um die Mitte des 2. Jh.s recht eindeutige Kriterien dessen ab, was innerhalb des Christentums als verbindlich und für christliche Identität unverzichtbar beurteilt wird. Dass die Grenzen zu denjenigen Gruppen, die dabei bekämpft und schließlich aus der Kirche ausgeschlossen wurden, fließender waren, als es altkirchliche Polemik und darauf aufbauende Geschichtsschreibung oftmals wahrhaben wollten, bleibt dabei unbenommen.