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Ausgabe:

Juni/2006

Spalte:

692 f

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Dietrich, Walter, u. Wolfgang Lienemann

Titel/Untertitel:

Gewalt wahrnehmen ­ von Gewalt heilen Theologische und religionswissenschaftliche Perspektiven.

Verlag:

M. Beiträgen v. U. von Arx, S. Bretfeld, R. Dellsperger, W. Dietrich, C. Führer, M. George, J. C. Janowski, K. Kollmar-Paulenz, M. Konradt, H. P. Lichtenberger, C. Lienemann-Perrin, W. Lienemann, M. Mayordomo, C. Morgenthaler, C. Müller, M. Parmentier, S. Schroer, M. van Wijnkoop Lüthi. Stuttgart: Kohlhammer 2004. 247 S. m. Abb. gr.8°. Kart. Euro 18,00. ISBN 3-17-018523-3.

Rezensent:

Wolfgang Ratzmann

Die alltägliche Gewalt mit ihren unterschiedlichen Gesichtern von Terrorismus und Krieg, von Mord und Grausamkeiten bedarf auch einer sachkundigen theologischen und religionswissenschaftlichen Reflexion, um hintergründige Zusammenhänge zwischen Religion und Gewalt aufzeigen und um Wege zur Überwindung von Gewalt erkennen zu können. Mehrere Theologische Fakultäten haben seit 2001 Ringvorlesungen zum Gewaltphänomen veranstaltet, u. a. auch Mitglieder der Christkatholischen und Evangelischen Theologischen Fakultät in Bern, unterstützt vom dortigen Institut für Religionswissenschaft. Die überarbeiteten Berner Vorträge, ergänzt u. a. durch ausführliche Anmerkungen, liegen nun vor.

Die Herausgeber haben die ausgewählten Themen unter fünf Rubriken eingeordnet: 1. »Die Gewalt wahrnehmen« ­ mit einer äußerst differenzierten Analyse des Phänomens der Gewalt und einer exemplarischen Einführung in dessen wissenschaftliche Erarbeitung (W. Lienemann); mit zwei religionswissenschaftlichen Beiträgen, die die populäre Vorstellung korrigieren, dass der Buddhismus prinzipiell auf Gewaltlosigkeit setze (K. Kollmar-Paulenz und S. Bretfeld), und mit einem theologiegeschichtlichen Beitrag zum Ursprung des Bösen in der Theologie Augustins und der Manichäer (M. Parmentier). 2. »Auf Gewalt verzichten« ­ mit zwei neutestamentlichen Beiträgen zu Gewaltverzicht und Feindesliebe (M. Konradt und U. v. Arx) und einem kirchenhistorischen Aufsatz zu den drei »Friedenskirchen« der Täufer, der Quäker und der Brüder (Brethren) (R. Dellsperger/M. v. Wijnkoop Lüthi). Dabei imponiert mir am meisten der außerordentlich ergiebige exegetische Beitrag »Š damit ihr Söhne eures Vaters im Himmel werdet« zu Mt 5,38­48 von M. Konradt mit seiner Einordnung der Jesusworte in den damaligen geistigen Kontext, mit seiner präzisen Textinterpretation und mit seinen hermeneutischen Konsequenzen. 3. »Die Gewalt eindämmen« ­ mit einem überraschenden Essay zur Gewalt gegenüber Tieren nach der biblischen Tradition, in dem Gott als »grosse Tierliebhaberin« (sic!) vorgestellt und bestimmte alttestamentliche Tierschutzregeln herausgearbeitet werden (S. Schroer), und zwei historischen Beiträgen zu Pazifismus und militärischer Gewalt in den ersten christlichen Jahrhunderten (M. George) und zur Gewalt bei Luther (C. Führer). M. George würdigt dabei sowohl den altkirchlichen Pazifismus in seinen unterschiedlichen Nuancierungen wie auch die Entstehung einer christlicher Bejahung des Militärdienstes. 4. »Der Gewalt vorbeugen« ­ mit einem bibelwissenschaftlichen Beitrag (W. Dietrich/M. Mayordomo), der alttestamentliche und neutestamentliche Texte unter den drei Stichwörtern »Vertrauen schaffen«, »Sanftmut üben« und »Gerechtigkeit suchen« auf ihre Potenzen zur Gewaltprävention absucht. Durch das hier angewandte hermeneutische Prinzip der Analogie zwischen biblischen und heutigen pädagogischen Einsichten werden neue biblische Texte für den friedensethischen und friedenspädagogischen Diskurs gewonnen. 5. »Von Gewalt heilen« ­ mit recht unterschiedlichen Beiträgen zum Verständnis des Todes Jesu (J. C. Janowski/H. P. Lichtenberger), zur heilenden religiösen Erinnerungskultur in Korea (C. Lienemann-Perrin) und einem zur Ambivalenz der Familie als Ort der Liebe und Ort der Gewalt zugleich (C. Morgenthaler/C. Müller), in dem theologisch in überraschender Weise von der Kindertaufe her für eine präventive Kinder- und Elternarbeit am Lernort Kirche plädiert wird und dazu konkrete Vorschläge unterbreitet werden.

Wer sich mit dem Themenbündel Religion-Gewalt-Gewaltvermeidung beschäftigt, findet in dem vorgelegten Band eine Fülle zuverlässiger Informationen und Reflexionen. Besonders hilfreich finde ich einzelne exegetische Beiträge (Gewaltfreiheit, Feindesliebe, Gewaltprävention in der Bibel?), hinter die die künftige friedensethische Diskussion nicht zurückfallen sollte. Vermisst habe ich einen direkteren Einbezug gegenwärtiger politischer Entwicklungen, die auch religionswissenschaftliche und theologische Klärungen dringlich machen würden ­ zum gewaltbereiten Islamismus ebenso wie zum christlichen Fundamentalismus in den USA. Der systematische Beitrag zum Tod Jesu bezieht in seiner umständlich-langen Einleitung zu wenig die systematischen Klärungen des Eröffnungsartikels mit ein, und er entfaltet dann sein eigentliches Thema eher thesenartig-knapp. Ein auf aktuelle Themen ausgerichteter systematisch-ethischer Artikel fehlt.

Der Verlag hat sich bei der Edition für eine sehr kleine Schrifttype entschieden, die die Schönheit des Schriftbildes und die Lesbarkeit der Artikel leider etwas beeinträchtigt.