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Ausgabe:

Mai/2006

Spalte:

568 f

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Klessmann, Michael

Titel/Untertitel:

B>Pastoralpsychologie. Ein Lehrbuch

Verlag:

2. Aufl. 2004. Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlag 2004. 702 S. 8°. Geb. Euro 49,90. ISBN 3-7887-2050-6.

Rezensent:

Hans-Jürgen Fraas

M. Klessmann möchte mit seinem »Lehrbuch« die »Grundlagen pastoralpsychologischer Theoriebildung zusammenfassend und überblicksartig« darstellen und zugleich ­ ein erfreuliches evangelisches Pendant zu der katholischen Pastoralpsychologie von I. Baumgartner aus dem Jahr 1990, auf die er als Lese-Empfehlung verweist ­ eine »knappe Einführung in die verschiedenen psychologischen Schulen und ihre Methoden« geben (7). Das ist ein begrüßenswertes Vorhaben, nachdem die psychologischen Kenntnisse unter Theologen in der Regel leider noch immer zu wünschen übrig lassen.

Die Arbeit besteht aus 16 Kapiteln. Die drei ersten widmen sich der theoretischen Grundlegung: der Definition von Pastoralpsychologie (Kap. 1), ihrer Entstehung und Entwicklung (Kap. 3) und ihrem gesellschaftlichen Kontext (Kap. 2). Kapitel 4 und 5 beschäftigen sich mit Menschen- und Gottesbild und enthalten die angekündigte Einführung in die diversen psychologischen Schulen, jeweils durch »Zusammenfassung, Kritik und Konsequenzen« abgerundet.

Kapitel 6­12 stellen dann die verschiedenen Arbeitsfelder der Pastoralpsychologie dar: Kirche und Kirchenleitung; Gottesdienst; Kasualien; Predigt; Seelsorge; Entwicklungs- und Lernprozesse; Diakonie. Abschnitte über den Beruf des Pfarrers bzw. der Pfarrerin (Kap. 13), über Gruppe und Gruppendynamik (Kap. 14), über Erfahrungsfelder aus pastoralpsychologischer Sicht (Schuld/Sünde und Vergebung/Rechtfertigung; Kap. 15) und über Fort- und Weiterbildung (Kap. 16) schließen sich an. Knappe Literatur-Empfehlungen, in denen man nicht ertrinkt (meist drei Titel), stehen jeweils am Ende der Kapitel.

K. setzt mit dem dialektischen Verhältnis von Glaube und Religion und dem kommunikativen Charakter Letzterer (18) ein. Damit ist das Verhältnis zur Religionspsychologie berührt, die »die ganze Breite religiöser Ausdrucksformen« untersucht, während sich die Pastoralpsychologie auf »kirchliche Kommunikationsprozesse« konzentriert (20). Angesichts der offenen Grenze zwischen beiden Disziplinen und der Forderung K.s, die Reflexion der kirchlichen Praxis auf die der »religiösen Praxis schlechthin« zu erweitern (27), bleibt die Religionspsychologie allerdings auffallend unberücksichtigt.

Die Pastoralpsychologie zielt auf das Verstehen von Menschen und Texten (51); sie muss der innerpsychischen Dynamik menschlicher Kommunikation entsprechen und sich damit als »Konfliktpsychologie« erweisen. K. entspricht dem mit der Intention, durch (mittels der Psychologie gewonnene) genauere Wahrnehmung der Situation kirchliches Krisenmanagement zu betreiben (84). Das Kapitel über die Kirche zeigt die Leitungsstile und die Leitungspersönlichkeit anhand der Typologie von F. Riemann (257 ff.), die Angst vor der Macht und den Umgang mit der Macht, die nach M. Foucault als »Macht in Beziehung« zu gestalten ist. So werden die Konflikte in der Kirche nach Entstehung und Bearbeitung sehr plausibel, übersichtlich, hilfreich behandelt. ­ Mit dem »fragmentierten Ich in der Postmoderne« (58 ff.) und den »Strategien der Selbstvergewisserung« befindet sich K. voll im aktuellen Gespräch. Die »Kontextabhängigkeit und -verflochtenheit allen seelsorgerlichen oder therapeutischen Handelns« (87) führt zum systemischen Ansatz als »strukturelle Dimension individuellen Leidens« (86).

Das Seelsorge-Kapitel fällt naheliegenderweise am ausführlichsten aus, recht knapp dagegen das Kapitel über religiöse Entwicklungs- und Lernprozesse, wo ein Eingehen auf die (religiöse) Sozialisation(sforschung) völlig fehlt. Die Abschnitte über Gottesdienst, Kasualien und Predigt sind, durchaus überzeugend, schwerpunktmäßig an der Psychoanalyse orientiert. Konkret und lebensnah ist K. durchgängig in den praktischen Beispielen; hilfreich sind die jeweils anschließenden »Grundfragen, die sich aus der Beschäftigung mit psychoanalytischen Ansätzen zum Phänomen der Religion ergeben«, etwa der Frage, wie Theologie »zugleich konstruktiv und kritisch mit der Selbstwertproblematik umgehen« kann.

Die psychologischen Schulen haben bei K. ein sehr unterschiedliches Gewicht. Er möchte das »Deutungsmonopol der Psychoanalyse« durchbrechen, wobei aber, zwar aus durchaus gutem Grund, der »psychoanalytische Ansatz dominant« bleibt (28). Dennoch, die Kognitionspsychologie, die Gestalttherapie, der Behaviorismus geraten demgegenüber allzu kurz. Auch im Detail fehlen zumindest Hinweise auf naheliegende Stichworte wie Magie(forschung), der Lebenszyklus der Familie fällt sehr kurz aus, hier wie auch etwa beim Feminismus fehlen Literaturangaben; das Stichwort »Leidbewältigung« lässt H. Schuchardts Arbeiten vermissen usw. Demgegenüber versucht K., die nordamerikanische Diskussion seit den 80er Jahren in das Bewusstsein des deutschen Lesers zu bringen (9).

Gegen diese Einwände hat sich K. allerdings selbst abgesichert, wenn er sagt, er beabsichtige (nur) einen »Teil« der pastoralpsychologischen Erkenntnisse zusammenzuführen in (nicht systematischer, sondern) pragmatischer Vorgehensweise (29), indem er in den einzelnen Tätigkeitsbereichen nach jeweils typischen Schnittstellen zwischen Psychologie und Theologie suche. Damit ist auch (im Gegensatz zum genannten katholischen Pendant) der Verzicht auf einen systematischen Ansatz verbunden: »Das vorliegende Lehrbuch stellt keinen einheitlichen und geschlossenen Entwurf von Pastoralpsychologie dar« (8), was angesichts der Situation auch weder möglich noch wünschenswert sei.

Wenn einer der »Lehrer« K.s, K. Winkler in seiner »Seelsorge« auf S. 14 schreibt, dass Theologie als kritisches Prinzip gegenüber den säkularen Anthropologien (und umgekehrt) gegenwärtig am deutlichsten durch die Pastoralpsychologie vertreten werde, so leistet das Buch von K. dazu einen wichtigen Beitrag. Sehr richtig verweist K. auf die Anthropologie als den Schauplatz der Auseinandersetzung zwischen Theologie und Psychologie (212). Andererseits liegt gerade hier eine gewisse systematisch-theologische Schwäche des Buches. Die Reflexion der Kompatibilität der in der Theologie geltenden anthropologischen Leitannahmen mit denen der jeweiligen psychologischen Schule bleibt sporadisch. So wird etwa die theologische Reflexion des Freudschen Ansatzes durch E. Herms u. a. ausgespart, werden C. G. Jungs Nähe zur Gnosis bzw. zum Neuplatonismus, seine Stellung zur Frau, seine systembedingte zumindest anfängliche Haltung gegenüber dem Nationalsozialismus nicht oder kaum erwähnt ­ da ist die Diskussion doch weit über W. Uhsadel hinaus (225)! Der Gedanke, dass der schuldige Mensch durch den tragischen Menschen abgelöst werde (33), bedürfte einer genaueren Darstellung. Und der spezifisch theologische Beitrag zum Identitätsverständnis bleibt bei der »Zeitdiagnose« offen (77), wird allerdings an anderer Stelle (147 im Zusammenhang der Psychoanalyse) berührt.

Insgesamt ist das Buch von K. ebenso brauchbar als Überblick wie punktuell als Nachschlagewerk; es kann demjenigen viel Gewinn bringen, der auf der Basis eines soliden Hintergrund-Wissens in theologischer Anthropologie sich nun der pastoralen Praxis zuwendet, eine Einführung in die Disziplin sucht, eine grundlegende Orientierung als Prüfungsvorbereitung oder Handlungsanweisung.