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Ausgabe:

April/1998

Spalte:

387–390

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Theißen, Gerd u. Annette Merz(1)Becker, Jürgen(2)Grelot, Pierre(3)

Titel/Untertitel:

Der historische Jesus. Ein Lehrbuch. (1)Jesus von Nazaret. (2)Jésus de Nazareth, Christ et Seigneur. Une lecture de l’Évangile. Tome I. (3)

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1996. 557 S. gr.8°. Kart. DM 58,­. ISBN 3-525-52143-X.(1)Berlin-New York: de Gruyter 1996. XI, 460 S., 1 Kte 8° = de Gruyter Lehrbuch. Kart. DM 38,­. ISBN 3-11-014882-X. (2)Paris: Cerf; Montreal: Novalis 1997. 473 S. 8° = Lectio Divina, 167. fFr 220.­. ISBN 2-204-95493-3 u. 2-89088-877-0.(3)

Rezensent:

René Kieffer

Gerd Theißen und Annette Merz haben ein praktisches Lehrbuch über den historischen Jesus verfaßt. Sie wollen nicht nur die Ergebnisse der wissenschaftlichen Jesusforschung, sondern auch den Prozeß des Wissenserwerbs vermitteln. Dieses ist ihnen überaus gut gelungen, denn die ganze Darstellung ist von Wissenschaftsdidaktik geprägt. Gerd Theißen hat den größten Teil des Lehrbuches, das in vielen Hinsichten seine eigene Lokalkoloritforschung widerspiegelt, geschrieben. Annette Merz hat den ausführlichen Teil über die Quellen (mit Ausnahme der Auswertung) sowie einzelne Abschnitte in den übrigen Kapiteln verfaßt. Sie hat auch die originellen Aufgaben zu allen Kapiteln mit den entsprechenden Lösungen zusammengestellt (497-528).

Der Plan des Buches ist dem Stoff angemessen: Nach einem kurzen Paragraphen über die fünf Phasen der Leben-Jesu-Forschung folgt ein erster Teil über die Quellen und ein zweiter über den Rahmen der Geschichte Jesu (ein zeit- und religionsgeschichtlicher Rahmen; ein chronologischer Rahmen; ein geographischer und sozialer Rahmen). Der dritte Teil ist dem Wirken und der Verkündigung Jesu gewidmet (Jesus als Charismatiker: Jesus und seine sozialen Beziehungen; Jesus als Prophet: die Eschatologie Jesu; Jesus als Heiler: die Wunder Jesu; Jesus als Dichter: die Gleichnisse Jesu; Jesus als Lehrer: die Ethik Jesu). Der abschließende vierte Teil behandelt Jesu Passion und Ostern (Jesus als Kultstifter; Jesus als Märtyrer; Jesus als Auferstandener; der historische Jesus und die Anfänge der Christologie). Im letzten Paragraphen wird gut herausgearbeitet, wie Jesus selbst mit Messiasvorstellungen konfrontiert wurde und wie es kam, daß sich Jesus selbst als der kommende Menschensohn auffassen konnte. Das ausführliche Stellenregister und ein Personen- und Sachregister in Auswahl sind dem Leser hilfreich.

Einige Fragen an die Autoren: Warum wird die jüdische Jesusforschung auf S. 27-28 als Exkurs, und nicht als eine eigene Phase der Leben-Jesu-Forschung angeführt? Ist es so sicher, daß Lukas kaum eine genuine paulinische Theologie gekannt hat (haben die Autoren die Arbeiten von L. Aejmelaeus berücksichtigt?). Auf S. 49 wird die Reihenfolge Joh 4; 6; 5; 7,15-24; 7,1-24.25 ff. befürwortet. Sind sich die Autoren der Schwierigkeiten, die eine solche Umstellung hervorbringt, bewußt? Warum wird auf derselben Seite p 75 nicht erwähnt? Natürlich kann man leicht Fragezeichen zu einem so umfassenden Werk anhäufen, aber das würde den Wert dieses Lehrbuches nur nebensächlich vermindern.

Ganz anders wird das Leben Jesu bei Jürgen Becker dargestellt. Deutlich will der Vf. eine Synthese seiner eigenen Forschung bieten. Was andere Forscher über Jesus geschrieben haben, kommt nur in kurzen Hinweisen im Text oder in den Fußnoten zum Ausdruck. Becker verleugnet nicht, daß die Methodik, das Darstellungskonzept und die These des Werkes aus seiner vieljährigen Lehrtätigkeit erwachsen ist, will jedoch die engen Grenzen akademischer Lehre überschreiten, um einen größeren Leserkreis zu erreichen. Das ist ihm nur zum Teil gelungen, besonders wenn man sein Buch mit der pädagogisch ausgezeichneten Arbeit von Theißen/Merz vergleicht. Becker ist zu sehr von seinem eigenen Jesusbild eingenommen, um anderen Bildern gerecht zu werden. Bezeichnend ist seine scharfe Abfertigung der Thesen von B. Gerhardsson und R. Riesner auf S. 16.

Becker weiß genau, wie man die Weichen stellen soll. Er will nicht der Skepsis von Bultmann verfallen, ist jedoch so von der Form- und Redaktionsgeschichte geprägt, daß ihm neuere literarische Methoden nur wenig ergiebig erscheinen. Anmerkungswert ist seine nuancierte Auffassung der historischen Bedeutung des Johannesevangeliums den Synoptikern gegenüber. In seinen chronologischen Angaben über Jesu Verbindung mit dem Täufer, über den Beginn der Tätigkeit Jesu und über das Datum seines Todes folgt Becker gerne Johannes, ist ihm gegenüber jedoch abweisend hinsichtlich eines mehrjährigen Wirkens Jesu, mit abwechselnd Galiläa und Judäa als Schauplatz. Becker bejaht also nur teilweise die Aufwertung des vierten Evangeliums, die heute von einigen Exegeten vorgenommen wird.

Der Plan der Ausführungen ist persönlich durchdacht. Nach den traditionellen methodischen Fragen, wo die Differenz- und Kohärenzkriterien durch den gestalterisch neuen Willen der Rezeption im Einzelfall überprüft werden sollen, folgen kurze biographische Angaben, in denen Bethlehem als Geburtsstadt Jesu m. E. allzu unproblematisch abgefertigt wird. Beckers persönliches Anliegen wird in den folgenden Kapiteln klar: Die Verlorenheit Israels, die nach Kapitel 3 von dem Täufer und von Jesus auf verschiedene Weise betont wird, bildet den Hintergrund für die Auslegungen in Kapitel 4 und 5, nach denen Jesus die nahende Gottesherrschaft als gegenwärtigen Heilsbeginn für das verlorene Israel und daher als ein Lebensverständnis und eine Lebensgestaltung angesichts dieser Gottesherrschaft vermittelt. Die ungeteilte Nachfolge wird zum Ausdruck der Dankbarkeit, während Jesu autoritative Verkündigung des Willens Gottes die kultische Tora abwertet. Becker unterstreicht hier m. E. allzu scharf, mit Hilfe von paulinischer Antithetik, die Diskontinuität zwischen Jesus und der Tora.

In den Kapiteln 3 bis 5 werden sehr geschickt gründliche Analysen von den wichtigsten synoptischen und einigen johanneischen Texten eingebaut. Becker ist wenig an rhetorischen und strukturellen Methoden interessiert, sondern arbeitet traditionell mit form- und redaktionsgeschichtlichen Fragen. Er führt oft gute Argumente für seine Stellungsnahme an, aber historisch könnte sich auch manches anders verhalten als Becker annimmt.

Die zwei letzten Kapitel behandeln ausführlich Jesu Tage in Jerusalem und seine Kreuzigung, dagegen etwas kürzer den Glauben an den Auferstandenen. Becker zeigt schön, wie die Passionsberichte theologisch überarbeitete Geschichtsschreibung sind. Zusammenfassend zeichnet Becker ein geschlossenes Bild, das er von seiner vieljährigen Forschung aus belegen kann, hat jedoch schon vieles einseitig in dem methodischen Kapitel bestimmt.

Von Pierre Grelot können wir hier nur den ersten Band eines groß angelegten Werkes über "Jesus von Nazareth, Christus und Herr" besprechen. Dieser Band beginnt mit einer ausführlichen Einleitung über die Quellen und das Lebensmilieu, die man an vielen Punkten mit der Darstellung in Theißen/Merz vergleichen kann. Grelot ist angesichts der radikalen Fragestellung über Jesus als historische Person in Populärschriften, die in verschiedenen Ländern in der Nachfolge von G. A. Wells erschienen sind, mehr als Theißen/Merz daran interessiert, die positive Information in nichtbiblischen Quellen über Jesus zu unterstreichen. Seine prinzipielle Abstandsnahme gegenüber extremen Entwicklungen der historisch-kritischen Methode macht seine Darstellung widersprüchlich: auf der einen Seite unterstreicht er Jesu historische Verankerung, auf der anderern Seite will er den Evangelien treu sein in ihrem ungeteilten Glauben an Jesus von Nazareth als den Christus und Herrn.

Im ersten Teil zeichnet er in neun Kapiteln: das "Präludium zum Evangelium" (Jesus und der Täufer), Jesu Mission, das erste Osterfest (hier werden die johanneischen Traditionen in die synoptischen eingefügt), das Lebensprogramm im Gottesreich (= besonders die Bergpredigt), Jesus als Wundertäter, die Mission der Jünger, Jerusalem, die Gleichnisse. Im Vergleich zu Theißen/Merz und Becker ist das Buch mehr theologisch als historisch durchdacht.

Wir möchten hier einige persönliche Reflexionen anbringen. Die textorientierten Studien haben, neben der möglichen Unterschätzung der historischen Wirklichkeit, auch ein neues Verständnis für das Material, mit dem der Historiker arbeitet, geschaffen. Früher behandelten Historiker überwiegend die Auswahl von Quellen, ihre Zuverlässigkeit und ihre Auslegung. Die eigene schriftliche Zusammenstellung der Resultate wurde als nebensächliche Aufgabe der eigentlichen Forschung angesehen. Heute sind sich Historiker stärker darüber bewußt, daß sie selbst durch ihre Darstellung eine eigene narrative Struktur ausarbeiten und mit Hilfe von Zeit- und Ortsbestimmungen, in denen sie ihre historischen Daten einbetten, einen eigenen Diskurs führen.

Die Vielzahl von Jesusbüchern, die in letzter Zeit produziert wurde, hat es nötig gemacht, Quellenkritik mit neuen literaturwisssenschaftlichen Fragestellungen zu verbinden, um willkürliche Jesusbilder zu vermeiden. Die drei Bücher, die wir hier besprechen, haben gemeinsam, daß sie Abstand nehmen von Extrempositionen, die ein Teil der sogenannten "dritten Welle" der Jesusforschung, besonders im angelsächsischen Sprachraum, hervorgebracht hat (siehe "the third quest" in S. Neill-T. Wright, "Interpretations of the New Testament 1891-1986", Oxford 1988, 379 ff.). Quellenkritik, die früher die überwiegende Zuverlässigkeit der synoptischen Tradition gegenüber den Apokryphen wie Thomasevangelium, Petrusevangelium oder Egerton-Evangelium verteidigte, wird heute von H. Köster, B. L. Mack und J. D. Crossan in Frage gestellt. Jesus wird demnach mehr als Weisheitslehrer denn als Verkündiger des eschatologischen Gottesreiches angesehen.

Gegenüber dieser Umwertung unserer Quellen sind sich die Autoren der drei besprochenen Bücher einig in ihrer Abstandsnahme, Becker und Grelot indem sie sie in ihrer Darstellung vernachlässigen, Theißen/Merz indem sie ihnen kritisch gegenüberstehen. Alle wollen einen historisch-kritisch "gesunden" Mittelweg gehen. Dabei leiten Becker und Grelot ihre Werke mit hermeneutischen Überlegungen ein, die mehr oder weniger diametral entgegengesetzt sind.

Becker bejaht die historisch-kritische Wissenschaft gänzlich und ist den modernen Texttheorien gegenüber zurückhaltend. Er nimmt eine für den deutschen Raum typische Stellung ein, die über Bultmanns Skepsis hinausführen will, ohne die form- und redaktionsgeschichtlichen Errungenschaften aufzugeben. Grelot hingegen weist streng durchgeführte historisch-kritische Studien ab, sobald sie Jesus von Nazareth vom Christus und Herrn der Evangelien trennen wollen. Er stellt nur begrenzt-kritische Fragen an die kanonischen Evangelien. Er erkennt z. B. , daß das Wunder in Kana im Johannesevangelium eine bildliche Symbolsprache benutzt, will ihm jedoch kein darunterliegendes historisches Faktum absprechen. Er ist "kritisch", wenn er die gewöhnlichen Theorien über die Datierung unserer Evangelien bespricht, weigert sich jedoch, die Jesusgeschichte als eine "kleine menschliche Geschichte" zu schildern. Jesus von Nazareth ist für ihn schon immer der Christus des Glaubens. Darum ist sein Buch weder eine Lebensgeschichte Jesu noch eine Geschichte Jesu, die diesen in einen geographischen und chronologischen Rahmen einreihen will. Grelot geht von der Hypothese aus, daß unsere Evangelien verschiedene Relektüren des Lebens Jesu im Lichte der Auferstehung sind, meint jedoch, daß es in ihnen viele Indizien für ihre historische Verankerung gibt. Die Hauptsache für ihn ist zu zeigen, wie die Texte den Leser von der Darstellung über Jesus von Nazareth zum Glauben an den auferstandenen Christus führen will.

Theißen/Merz sind "neutraler" als Becker und Grelot. Sie schreiben ein Handbuch, in dem unterschiedliche Stellungnahmen angegeben und diskutiert werden. Sogar extreme Positionen, wie die von G. A. Wells, werden mit beiden Argumenten und Gegenargumenten dargestellt. Theißen/Merz wagen auch, wie andere moderne Historiker, die Resultate ihrer Diskussionen am Ende des Buches in narrativer Form kurz zusammenzufassen. Dabei fällt auf, daß diese knappe Darstellung wahrscheinlich den Positionen einer Mehrheit von Exegeten entspricht. Aber das Problem des historischen Jesus wird wohl nie endgültig gelöst werden können, da es nicht gänzlich von Grundauffassungen über den Christus des Glaubens getrennt werden kann, wie auch Grelot mit Recht hervorhebt.

Abschließend möchten wir betonen, daß die drei Bücher Jesu Verankerung im Judentum unterstreichen. Becker tut das in einer paradoxalen Weise, die heutigen Juden wohl unangenehm erscheinen könnte. Ist Israel in den Augen des Täufers und Jesu so verloren, daß es keine alternative Lösung hat, als Jesu Botschaft über die nahende Gottesherrschaft als gegenwärtigen Heilsbeginn anzunehmen?