Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Mai/2006

Spalte:

556–559

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Fischer, Johannes, Grotefeld, Stefan, u. Peter Schaber

Titel/Untertitel:

Moralischer Realismus. Theologische Beiträge zu einer philosophischen Debatte.



Verlag:

Stuttgart: Kohlhammer 2004. 184 S. gr.8° = Forum Systematik, 21. Kart. Euro 25,00. ISBN 3-17-018521-7.



Rezensent:

Wolfgang Nethöfel

Neben dem angegebenen Titel in dieser Rezension besprochen:

Laubach, Thomas [Hrsg.]: Angewandte Ethik und Religion. Tübingen-Basel: Francke 2003. XII, 366 S. kl.8° = UTB 2400. Kart. Euro 22,90. ISBN 3-7720-2995-7 (Francke); 3-8252-2400-7 (UTB).

Nass, Elmar: Der Mensch als Ziel der Wirtschaftsethik. Eine finalethische Positionierung im Spannungsfeld zwischen Ethik und Ökonomik. Paderborn-München-Wien-Zürich: Schöningh 2003. XVI, 343 S. m. Abb. gr.8° = Abhandlungen zur Sozialethik, 48. Kart. Euro 44,00. ISBN 3-506-70248-3.

Gibt es ein Proprium christlicher Ethik? Die vorzustellenden Bücher wollen darauf in einem neuen Kontext antworten.

Das Verhältnis von Religion und Theologie zu Moral und Ethik rückt umso mehr ins Blickfeld, je größer das Orientierungsbedürfnis der Gesellschaft wird und je mehr die Orientierung am einst umfassenden christlichen Traditionshorizont unserer Gesellschaft als eine von mehreren Optionen erscheint. Die Frage nach dem Inhalt christlicher Orientierung verbindet sich mit der Frage nach ihrem Proprium; gelegentlich verschwindet sie dahinter. Die Antworten werfen ein Licht auf eine alte Tradition in einem wieder einmal neuen Kontext.

Elmar Nass unternimmt in seiner von Wolfgang Ockenfels betreuten Dissertation »Der Mensch als Ziel der Wirtschaftsethik« »[e]ine finalethische Positionierung im Spannungsfeld zwischen Ethik und Ökonomik«. Die kritischen Analysen der wirtschaftsethischen Ansätze von Karl Homann und Peter Ulrich beanspruchen exemplarische Gültigkeit. Das ist deshalb brisant, weil hier einerseits die Ökonomik für das Effizienzprinzip, für eine verfahrensorientierte Ethik und für den neuzeitlichen Vorrang des Freiheitsprinzips vor der Gemeinschaftsverpflichtung in Haftung genommen wird: letztlich für alles, was die Orientierung an einem metaphysisch verankerten verpflichtenden Menschenbild relativieren könnte. Andererseits aber erweist sich jene Alternativorientierung je länger, je deutlicher als die Rückbindung an das, was unter Berufung auf das Naturrecht lehramtlich verkündet wird ­ und eben die Orientierung daran erweist sich dann als das in Erscheinung tretende christliche Proprium. Nass¹ Dialogvorschlag an die Ökonomen guten Willens reduziert sich darauf, in jene inhaltlich verpflichtende Orientierung an den anthropologischen und sozialen »Natur«-Vorgaben einen Effizienztest auf ökonomische Vernünftigkeit zu integrieren.

Wie ein Selbstanwendungstest der von Nass scharfsinnig entwickelten Kriterien auf dessen eigene Ausgangspositionen zeigt, ist das aber vermutlich aus anderen Gründen interessant, als sie ihm am Schluss seiner als solche äußerst lehrreichen wirtschaftsethischen Analysen vorschweben. In jenem Dialogmodell, das als Ergebniszusammenfassung präsentiert wird, müsste neben den inhaltlich tatsächlich regelmäßig verdrängten Grundannahmen auch die gelegentlich fruchtbare Heuristik der Ökonomik explizit gemacht und begründet werden. Aber das ist eben nicht mit jenem Leitbildgegensatz von Homo Oeconomicus und Moralischer Mensch identisch, den Nass aufzubauen versucht. Die Verdrängungen auf beiden Seiten dieses Gegensatzes entsprechen sich vielmehr, weil in der Auslegungspraxis des katholischen Naturrechts ebenso regelmäßig die Verfahrenskomponente verdrängt wird wie die Semantik in der Ökonomik.

In der späten Neuzeit ist das klassische Naturrecht genauso wie der protestantische Fundamentalismus im Abwehrreflex gegen den Siegeszug der Naturwissenschaften zugleich einem positivistischen Naturbegriff verfallen wie einer dezisionistischen Auslegungspraxis der eigenen Tradition. Das weiß man vielleicht nirgendwo besser als unter den Vertretern der »autonomen Moral«, die zusammen mit ihren Schülern am Sammelband »Angewandte Ethik und Religion« mitgewirkt haben. Dem Herausgeber Thomas Laubach ist das Kunststück gelungen, anstehende Festschriftbeiträge von Hunold-Schülern, Freunden und Kollegen in eine Lehrbuchkonzeption einzupassen. Die »Grundlegung« thematisiert klassische Fragen der Fundamentalmoral, die das Eigentümliche einer christlichen Ethik im Kontext anderer Traditionen hervortreten lassen. Sie werden hier interdisziplinär in aktuellen Bezügen neu durchdacht. Auch die den »Sachbereichen« gewidmeten Beiträge in der zweiten Hälfte des Bandes stehen unter dem Anspruch, aktuell orientierendes Überblickswissen zu vermitteln ­ was allerdings in einer solchen Konzeption nicht gleichmäßig gelingen kann. Die Beiträge sind von Kurzzusammenfassungen eingeleitet und geben, auch hier gelegentlich von einem sehr speziellen Zugriff geprägt, einen Überblick über die aktuelle Literatur zum jeweiligen Themenfeld.

Anders als der Protestantismus in einem breiten philosophischen Traditionsstrom stehend und doch gewissermaßen durch Schaden klug geworden, fragt der Herausgeber in seiner Antwort zunächst vorsichtig: »Was hat die Religion in der Angewandten Ethik verloren?« Seine Antwort entfaltet er selbst exemplarisch zu Beginn des materialethischen Teils für die Bioethik. Er zeigt auf, wie religiöse Fragen und Traditionen in der institutionellen, wissenschaftlich-technischen und begrifflichen Konstruktion dieses wie jeden anderen Feldes gegenwärtig sind. Er analysiert die hier lediglich besonders greifbare Bedeutung von religiösen, quasi-religiösen und ideologischen Leitbildern und verweist auf deren konkrete Ausprägung in unterschiedlichen, heute koexistenten Traditionsgemeinschaften, von denen die christliche eine ist. Daraus ergeben sich ­ ganz in der Tradition der lehramtskritischen »autonomen Moral« ­ in einer pluralen Gesellschaft allerdings zunächst und vor allem »Grenzen theologischen Sprechens« (201). In den anderen Beiträgen wechseln interessante, system- und verfahrensethisch orientierte Ansätze jüngerer Beiträger mit denen einer älteren Generation, die sich phänomenologisch oder transzendentaltheologisch orientiert an den naturrechtlichen Vorgaben des Lehramtes abkämpfen ­ oder die Freiräume emergenter Problemkonstellationen nutzen.

Ist hier endlich die Neuzeit ins Zentrum des Dialogs zwischen Kirche und Welt eingedrungen ­ oder geht es in der Nachmoderne schon wieder um etwas Neues? Dass diese Frage auch von ökumenischem Interesse ist, belegt der dritte hier zu besprechende Band. »Moralischer Realismus« ist Ergebnis eines mehrsemestrigen Forschungsseminars am Zürcher Institut für Sozialethik. Die Herausgeber Johannes Fischer, Stefan Grotefeld und Peter Schaber greifen ein moralphilosophisches Thema auf, dessen analytische Prägung im deutschsprachigen Raum seine theologische Brisanz übersehen ließ. Beziehen sich moralische Aussagen auf objektive Tatsachen? In welchem Sinne »gibt« es die Würde des Menschen? Ist Folter verwerflich, ist Gott »gut«­ unabhängig davon, ob Menschen dies erkennen, anerkennen oder sich ihren Erkenntnissen entsprechend verhalten? Und welchen Status haben umgekehrt die so schrecklich leicht zu berechnenden, verallgemeinerbaren, als Kalkül naturwissenschaftlich bestätigten Nutzenmodelle des Homo Oeconomicus, mit denen sich ja nicht nur die theologische Wirtschaftethik auseinander zu setzen hat?

Peter Schaber führt systematisch, William Schweiker gewissermaßen historisch in das Thema ein, indem er die Auslöser und den Verlauf der Debatte in der nordamerikanischen philosophischen und theologischen Ethik nachzeichnet. Die traditionelle Orientierung an transzendent bzw. von Gott vorgegebenen und als »realistisch« erfahrenen Gegebenheiten ist gefährdet durch die Erfahrung, ebenso Objekt fremder Wahlhandlungen wie mitverantwortlicher Konstrukteur gemeinsamer Wirklichkeit zu sein. Beides bedarf institutioneller Regelungen, deren Funktionieren sich abkoppeln lässt von individuellen Begründungen. In der starken (kognitivistischen und internalistischen) Form des Realismus begegnet die für ein heutiges Wirklichkeitsverständnis in der Tat »absonderliche«, jedenfalls partikular gewordene Behauptung, es gebe Tatsachen, die allen der Einsicht fähigen Wesen sagen, was sie zu tun hätten, und sie gleichsam von innen heraus zu den entsprechenden Handlungen motivieren würden. Es ist klar, dass dies im Gegensatz zum neuzeitlichen »Naturalismus« steht: jenem Denkansatz, der sich am Vorbild naturwissenschaftlicher Tatsachenbehauptungen orientiert.

Vielleicht ist es kein Zufall, dass in Zürich auch sonst, gegen den Mainstream christlicher Theologie, nach dritten Wegen gesucht oder gleich antirealistisch argumentiert wurde. Wenn ein Christ also nicht moralischer Realist sein muss ­ sollte er dann nicht doch Kommunitarist sein? Der Mitherausgeber Stefan Grotefeld ist jedenfalls skeptisch gegenüber dem liberalen Vorrang des Rechten vor dem Guten, der nach dem konfessionalistischen Gemetzel zu Beginn der Neuzeit pluralistische Orientierungsroutinen kennzeichnet. Gegen John Rawls wendet er ein, dass die immanenten Grenzen der Vernunft ebenso zur Vorsicht bei der Vermittlung von Begründungen mahnen wie zur Behauptung, im Unterschied zu Verfahrensfragen seien moralische Erkenntnisfragen prinzipiell unentscheidbar. Der angemessene Ort des theologischen Realismus sei freilich nicht ein Begründungsdiskurs, sondern die Bezeugung im Glauben.

Blicken wir zurück auf die wirtschaftsethische Veröffentlichung von Elmar Nass, so zeigt sich, auf welch schwankendem Boden der Versuch steht, die Frage nach dem Proprium christlicher Ethik durch einen Rekurs auf das alte Naturrecht zu beantworten. Beim »moralischen Realismus« steht in Frage, ob es moralische Tatsachen gibt, worauf sie sich beziehen, wie sie erkannt werden und ob diese Erkenntnis wirksam verpflichtet. Das Gegenbild, das diese Fragen jeweils aufwerfen, ist die in unserer Erfahrung immer wieder evident werdende Unbeliebigkeit dessen, worauf sich Naturwissenschaft und Technik beziehen. Das ist die unhintergehbare Neuzeitkonstellation unseres Weltbildes. Die klassische, in deutscher Tradition modernisierte Lösung bestand darin, Verfügungs- und Orientierungswissen als Natur- und Geisteswissenschaft, System und Lebenswelt einander gegenüberzustellen. Faktisch beschreiben alle Beiträger das Proprium christlicher Orientierung als einen dritten Bereich: von nicht beliebigen Verhaltensweisen, geprägten Routinen, institutionellen Konstellationen, narrativ und szenisch vermittelten individualisierten Mustern ­ und von verantworteter Kreativität, die allein die Kontinuität christlicher Orientierung gewährleisten kann. Es geht in einem globalisierten und pluralen Kontext erneut um jene notwendige Kontingenz des Kosmos, der Schöpfung, die gerade in der durch Liebe gebundenen Freiheit christlicher Ethik immer wieder Paradigmen sprengend gewirkt hat. Die tiefgreifende Vielfalt der vorgestellten ethischen Ansätze würde dann auf das Ende einer neuzeitlichen Theologiekonstellation verweisen, die auch systematisch-theologisch reflektiert werden müsste. Auch hierzu finden sich Ansätze in der Zürcher Veröffentlichung, weil sie wenigstens verunsichert auf den »linguistic turn« gegen Ende des vergangenen Jahrtausends reagiert hat.