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Ausgabe:

Mai/2006

Spalte:

553–555

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Richter, Cornelia

Titel/Untertitel:

Die Religion in der Sprache der Kultur. Schleiermacher und Cassirer ­ Kulturphilosophische Symmetrien und Divergenzen

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2004. X, 325 S. gr.8° = Religion in Philosophy and Theology, 7. Kart. Euro 54,00. ISBN 3-16-148160-7.

Rezensent:

Andreas Kubik

Zwischen der bangen Sorge, die moderne Kultur könnte wenigstens mittelfristig ohne Religion auskommen, und der Behauptung einer ðWiederkehr der ReligionÐ liegt die Frage nach einer sachgemäßen Verortung der Religion im Ganzen der Kultur. Die Beantwortung dieser Frage wenigstens vorzubereiten, ist das Anliegen dieser bei Dietrich Korsch in Marburg verfassten Dissertation. Zu diesem Zweck sucht sie das Gespräch mit zwei Klassikern der Kulturphilosophie, nämlich Friedrich Schleiermacher und Ernst Cassirer, wobei Letzterem deutlich mehr Raum und Gewicht eingeräumt wird. Ins Gespräch will R. die beiden auch miteinander bringen: Cassirer und Schleiermacher sollen sich gegenseitig interpretieren und ergänzen, wobei Werkgeschichte und Einflussforschung allenfalls am Rande eine Rolle spielen. Letztlich verfolgt die Arbeit ein systematisch-theologisches Interesse und will ein Prolegomenon »zu einer ausgeführten kulturtheoretisch-orientierten Dogmatik« (8) sein. Auch eine solche Dogmatik kann nach Meinung von R. nur noch im »Gespräch« (282) realisiert werden ­ die Zeit der monolithischen dogmatischen Entwürfe ist abgelaufen, an die Stelle autarker Autorsubjekte treten (religions-)philosophische Gesprächsnetze und dogmatische Kommunikationszusammenhänge.

Ihrem Leitproblem nähert sich R. über die Frage, ob der Kulturbegriff wiederum im Gefüge einer systematischen Transzendentalphilosophie zu stehen kommt. Deshalb referiert R. im zweiten Hauptteil eher idealtypisch einige Stationen dieser Einordnung (Kant, Hegel, Cohen, Natorp). Cassirers innovative Leistung besteht nach R. gegenüber diesen Entwürfen darin, die »verschiedenen Formen des Selbst- und Weltumgangs« (52) nicht mehr allein »in einer logischen Einheit« (ebd.) zu suchen, sondern im ständigen Gespräch mit den materialen kulturwissenschaftlichen Disziplinen erst zu entwickeln. Erst Cassirer habe die Faktizität der Kultur als eine echte Voraussetzung der Philosophie, also die »Apriorität der Kultur« (52) begriffen.

Mit dieser These ist in gewisser Weise bereits das Urteil über Schleiermacher gesprochen, bevor dessen eigentliche Darstellung (59­121) beginnt. Das Verhältnis von Transzendental- und Kulturphilosophie stellt sich ­ buchtechnisch gesehen ­ als Zuordnungsproblem von »Dialektik« und »Philosophischer Ethik« (genauer: deren Güterlehre) dar. Und hier erweise sich, dass Schleiermacher trotz aller Beachtung der konkreten Kultursphären diese lediglich als Anwendungsfall eines schematischen transzendentalphilosophischen Entwurfs denken könne, ihrer Eigenständigkeit also letztlich nicht gerecht werde: »Im Entwurf und in der Anwendung wird die unhintergehbare Interdependenz von Idealem und Realem zur Prämisse gemacht, aber im Verfahren bleiben sie letztlich doch durch die Asymmetrie von gedachter Struktur und konkretem Anwendungsfeld getrennt.« (115)

Die Triftigkeit dieses Vorwurfs wird die Fachforschung zu beurteilen haben. Die »Dialektik« führt bei R. darüber hinaus allerdings auch auf das Feld der Religion. Indem Schleiermachers philosophisches Hauptwerk den Gottesgedanken als Grenzbegriff der Konvergenz von Denken und Sein und das Absolute im Gefühl als dessen Darstellung präsent sein lässt, würden die philosophischen Strukturen »religiös transformiert« (120). Im Effekt bedeute dies, dass die Religion bei Schleiermacher angeblich »die absolute Grundlage der kulturellen Einheit« (121) darstelle ­ und dies sei sein zweites Manko. Ich denke aber, solche Gründungspostulate lagen diesem Denker, der spätestens seit den »Reden« wusste, dass sich die moderne Kultur um eine vermeintliche Gründung ihrer selbst durch die Religion nicht schert, ganz fern. Im Lichte dieses gesprächswürdigen Urteils stellt sich die Frage, ob R. nicht den Religionsbegriff der Glaubenslehre in die »Dialektik« einträgt. In der »Glaubenslehre« sind die entsprechenden Paragraphen (2. Aufl., §§ 3 ff.) als »Lehnsätze aus der Ethik« überschrieben, stammen also aus der Kulturphilosophie und gerade nicht aus der »Dialektik«. Diese hat es ausschließlich mit der philosophischen Wissenskonstruktion zu tun, ist also keine Religionsphilosophie.

Demgegenüber zeichnet sich nach R. Cassirer gerade dadurch aus, dass ihm die Wechselbedingtheit von kategorialem Verstehensapparat und empirischer Kulturforschung durchzuhalten wirklich gelingt: »Cassirers Analyse enthält damit eine wissenschaftstheoretische Einsicht, die bis in die Gegenwart nichts an Brisanz verloren hat.« (183) Ist von daher Cassirer dem Berliner Theologen vorzuziehen, so stellt sich aber umgekehrt die Frage, wie es um den Ansatz von Cassirers Religionsphilosophie bestellt ist. Ihn zu rekonstruieren ist das eigentliche Ziel der ausführlichen Cassirer-Darstellung (122­247). Man darf R. bescheinigen, dass ihr eine luzide, die Schwächen Cassirers dabei nicht beschönigende Darstellung des zweiten Bandes der »Philosophie der symbolischen Formen« im Kontext des Gesamtansatzes gelungen ist.

Allenfalls hätte man sich einen Hinweis darauf gewünscht, dass Cassirers Mythosbegriff, der sich weitgehend der englischen ethnologischen Forschung des späten 19. Jh.s verdankt, den Blick verstellt für das, was dem späten 18. Jh. (Heyne, Eichhorn) sachgemäßerweise Mythos hieß, nämlich die großen Erzählungen der Hochkulturen.

Es erweist sich, dass Cassirers Religionsverständnis unbefriedigend bleibt. Nach Cassirer ist die Religion einem unausrottbaren Bedürfnis nach Realismus verfallen, der es ihr verwehrt, die moderne Einsicht in die Symbolizität aller Geistestätigkeit zu erreichen: Die Religion »sehe sich immer mit dem Problem der Existenz [scil. dessen, worauf sie sich richtet] konfrontiert« (246). Damit ist, wie R. zu Recht anmerkt, der Religionsbegriff der neuzeitlichen Theologie weit unterschätzt ­ wie man nun gerade wieder an Schleiermacher lernen kann.

Warum aber hat Cassirer dies nicht gesehen oder sehen wollen, und aus welchen Quellen speist sich statt dessen sein Religionsverständnis? Mit diesen Fragen leitet R. ihren umfangreichen Schlussteil (248­297) ein. William James, Cohen und Goethe werden als die für Cassirer maßgeblichen Religionstheoretiker traktiert. Schleiermacher liest Cassirer hingegen lediglich in der Perspektive Rudolf Ottos, dessen epochemachende Edition der »Reden« von 1899 ihm aber gerade ein adäquates Schleiermacher-Verständnis verstellt zu haben scheint: Denn Otto habe das religiöse Gefühl als das »Gefühl von etwas wirklich Vorhandenem« (274) interpretiert. Für Cassirer war Ottos Schleiermacher-Kritik offenbar paradigmatisch hinsichtlich jeden theologischen Religionsbegriffs.

Es stellt sich allerdings die Frage, ob Ottos eigener Religionsbegriff damit schon hinreichend charakterisiert ist. R. verweist etwa gar nicht auf die »Kantisch-Friesische Religionsphilosophie«. Aber auch in »Das Heilige« dürfte sich zeigen lassen, dass der religiöse Realismus bei Otto stets durch einen Idealismus gebändigt bleibt.

Was ist der erstrebte dogmatische Ertrag, den R. nach der Behandlung der beiden Großen im abschließenden Gespräch mit verschiedenen Theologen der Gegenwart (Jörg Dierken, Wilhelm Gräb, Michael Bongardt, Hans-Martin Barth) erzielt? Zunächst hat die Theologie alle kulturellen Vormachtsansprüche fahren zu lassen. In eins damit sind zweitens »die dogmatischen Gehalte selbst als kulturelle Deutungssysteme zu verstehen« (295). Diese beiden Punkte geben noch die neuprotestantische Normaltheologie wieder. Drittens geht es aber auch darum, jene Gehalte »in ihrer Stärke zum Ausdruck zu bringen« (295). Das könnte allerdings nur die eingangs erwähnte ausgeführte kulturtheologische Dogmatik.

Dass diese in ihrer Erschließungskraft hinsichtlich der gelebten Religion ­ also auch und gerade in materialdogmatischer Hinsicht ­ der traditionellen Dogmatik überlegen ist, ist das große neuprotestantische Versprechen seit langem. Eingelöst ist es indes bislang noch nicht. Dass dieses große Versprechen seine Glaubwürdigkeit behält, dazu hat diese Studie aber das Ihrige beigetragen.