Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Mai/2006

Spalte:

547–549

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Bernhardt, Reinhold, u. Georg Pfleiderer

Titel/Untertitel:

Christlicher Wahrheitsanspruch ­ historische Relativität. Auseinandersetzungen mit Ernst Troeltschs Absolutheitsschrift im Kontext heutiger Religionstheologie.

Verlag:

Zürich: Theologischer Verlag Zürich 2004. 340 S. 8° = Christentum und Kultur, 4. Kart. Euro 30,00. ISBN 3-290-17308-9.

Rezensent:

Joachim Weinhardt

Den Band eröffnet F. W. Grafs Studie über Die historistische Dauerreflexion der (Post-)Moderne und die Geltungsansprüche der Christentümer (15­45). G. fordert eine »entschieden gegenwartsbezogen« betriebene Beschäftigung mit Troeltsch, denn 100 Jahre nach der Absolutheitsschrift seien wir noch immer mit dem seither noch gesteigerten religiösen Pluralismus konfrontiert (20). G. plädiert für einen liberalen Kulturprotestantismus (24), der die Vielfalt der postmodernen religiösen Phänomene (38­40) anhand normativer Kriterien beurteilt (21. 43­45). Dabei sind heute die Gegner jeglicher Normativität stärker aufgestellt als zu Troeltschs Zeiten. Insbesondere beim radikalen Konstruktivismus im unerwünschten Gefolge P. L. Bergers und Th. Luckmanns finde sich eine völlige Subjektivierung der historischen Wirklichkeit, einhergehend mit einem Verzicht auf Bewertungen. Ähnliches gelte für Derridas Dekonstruktionismus. Ein Blick auf das besonders harte Faktum des Holocausts zeige jedoch, dass es objektive Realitäten gebe, die nicht in beliebig viele, einander ausschließende Geschichten aufgelöst werden können (33 f.). Zur Überwindung der postmodernen Modeerscheinung, auf einen Allgemeinbegriff von Religion zu verzichten, da dieser ja sowieso nur ein europäisch-christentumsgeschichtliches Konstrukt sei, empfiehlt G. eine Intensivierung der Begriffsgeschichte (31 f.) ­ also eine Steigerung des Historismus, um die Relativität des Historismus zu bewältigen.

Liest man die weiteren Beiträge des Bandes, beschleicht eine(n) allerdings der Verdacht, als sei auf der Suche nach dem Weg durch das Historische zum Normativen gerade bei Troeltsch keine Orientierung zu erwarten. B. W. Sockness drückt sein Urteil schon im Titel drastisch aus (Brilliant misslungen: Die historistische Apologetik der Absolutheitsschrift, 169­187) und schlägt als Alternative zu Troeltsch die Religionstheologie Schubert M. Ogdens vor: Dieser präjudiziere nicht wie Troeltsch einen theistischen Religionsbegriff, sondern definiere Religion als das existenzielle Verhalten zu einer letzten Wirklichkeit, das diese so entwirft, »dass sie ein Verständnis unserer Selbst als eigentlich autorisiert« (179). Jede Religion impliziere metaphysische und ethische Urteile, die a posteriori mit wissenschaftlichen Methoden verifiziert werden können. Am Ende dieser Untersuchung könne dann das Ergebnis stehen, »dass de facto mehr als eine Religion wahr sei« (180). S. beurteilt diesen Weg als eine »vierte Option« neben den exklusiven, inklusiven und pluralistischen Religionstheorien der Gegenwart (der Unterschied zu Hicks pluralistischem Entwurf dürfte aber nicht zu hoch veranschlagt werden).

Auch andere Beiträge beurteilen Troeltschs religionstheoretisches Vermächtnis als aufgebraucht und wollen lieber an neueren Ansätzen anknüpfen, so F. Nüssel (Die Absolutheitsschrift als Fundamentaldogmatik?, 67­84, vgl. 82­84 zu H.-M. Barth), P. Schmidt-Leukel (Die Herausforderung der Religionsgeschichte für die Theologie. Zur Aktualität von Ernst Troeltsch, 111­128, vgl. 124­126 zu W. Cantwell Smith). R. Bernhardt (ðVor dem Richterstuhl der ReligionsgeschichteÐ. Zur Problematik der Versuche, Religionen zu evaluieren, 209­232) erarbeitet im Anschluss an die Kriterien der Claremont Philosophy of Religion Conference von 1992 und an die Kriteriologie von Wolfgang Pfüller eigene Thesen zur »Möglichkeit und Notwendigkeit, Religionskulturen zu beurteilen«. Die Notwendigkeit bestehe vor allem darin, dass sich religiöse Ansprüche immer wieder als »Verblendungszusammenhänge mit unheilvollen Folgen erwiesen haben« (228). Die Kriterien zur Beurteilung von religiösen Phänomenen ergäben sich aus der Reflexion auf die »pragmatischen Erfordernisse des menschlichen Weltbezugs (etwa der Imperativ zur Friedensschaffung und -erhaltung, der Bewahrung der natürlichen Lebensgrundlagen usw.), aus moralischen Setzungen der praktischen Vernunft (etwa das Gegenseitigkeitspostulat) und aus den Offenbarungen der Religionen und ihrer Auslegungsgeschichte« (229). Diese Kriterien lassen aber keine Globalbeurteilungen einer Religion zu (eine solche könne nach Hick nur eschatologisch erfolgen), sondern nur einzelner konkreter Phänomene im Wirkungskreis einer Religion (228 ­ dass die genannten Kriterien letztendlich der jüdisch-christlichen Tradition entstammen, zeigt das Schlusszitat des Autors).

Als Indiz für das Misslingen von Troeltschs Programm der Begründung einer wenigstens relativen Höchstgeltung des Christentums führen einige Autoren seinen postum gedruckten Vortrag von 1922 über Die Stellung des Christentums unter den Weltreligionen an (H. Ruddies, Ernst Troeltschs Absolutheitsschrift im Rahmen seines Gesamtwerks, 49­66, 65; Schmidt-Leukel, 113; M. Hüttenhoff, Kritik religionstheologischer Kriterien, 191­208; 198­202; G. Pfleiderer 282 f.). Hier hat Troeltsch bekanntlich die Absolutheitsschrift so korrigiert, dass das Christentum nur für die europäischen Völker eine relative Höchstgeltung beanspruchen könne, da Religionen nur anhand ihrer je eigenen, kulturkreisspezifischen Maßstäbe bewertet werden können.

Aber nicht alle Autoren erweisen Troeltsch eine nur historische Reverenz und gehen dann zum aktuellen religionstheologischen Geschäft über. Es gibt auch den Versuch, die Absolutheitsschrift neu so zu lesen, dass Troeltschs Scheitern an der selbst aufgestellten Aufgabe einer evolutionären Religionsphilosophie (»Hegel ohne die Logik«, Sockness, 173) ein Missverständnis sei. An erster Stelle ist hier Georg Pfleiderers Aufsatz über Die Glaubensgewissheit im Zeitalter der Wissensgesellschaft. Die individualtheoretische Religionstheorie der Absolutheitsschrift von Ernst Troeltsch (281­330) zu nennen. Die Grundfrage Troeltschs sei das »Verhältnis von wissenschaftlich reflektierter und alltagspraktisch gelebter« christlicher Religion (286). Die gemeinsame Thematik von gelebter Religion und Wissenschaft sei »die Individualität des Lebens« (292). Dieses werde sich seiner Individualität und Freiheit darin bewusst, dass es sich religiös einen Lebens- bzw. Werthorizont entwirft, innerhalb dessen es seine Erfahrungen reflektiert (295). Damit wird Troeltsch zum Vorläufer einer Religionstheorie, für die das Normative der Religion nur noch in ihrem individuierenden Charakter besteht.

Träfe dies zu, dann wären die Reflexionen, die sonst bei Troeltsch moniert werden, weil sie argumentativ die Höchstgeltung des Christentums nicht begründen, die sie angeblich intendieren, tatsächlich nur die noch nicht abgestoßenen Eierschalen eines spekulativen Idealisten, die die eigentliche Theorie nur stören. Die Aussage, »das Christentum ist die relativ höchste Religion«, wäre dann zu überführen in den Satz: »Ich entwerfe meinen Werthorizont in meiner konkreten historischen Situation, die wesentlich durch die Geschichte des Christentums bestimmt ist« (vgl. 304). P. bemerkt selbst, dass Troeltschs Text sich einer derartigen relecture gegenüber als sperrig verhält (»individuell« bleibt durchgehend ein pejorativer Begriff im Gegenüber zum gesuchten Absoluten, vgl. z. B. 299 f.320.325.327).

Michael Bongardt (Gottes Selbstoffenbarung in der Vielfalt der Religionen, 233­247) entfaltet eine inklusive Religionstheorie, in deren Rahmen er einen »längst nicht ermessenen Spielraum« erblickt, »die vielfältigen Gestalten von Gottes Gegenwart in der Geschichte zu entdecken« (247). Dies erfordert einen christozentrischen Standpunkt, der nach Troeltsch ja veraltet, weil wissenschaftlich nicht zu begründen sei. Wenn aber, wie es aussieht, der Verzicht auf einen christologischen Ansatz auch nicht auf eine wissenschaftlich verallgemeinerbare Religionstheologie (denn von bloßer Religionswissenschaft ist hier nicht die Rede) führt, wem und warum sollte man dieses Opfer dann überhaupt darbringen?