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Ausgabe:

Mai/2006

Spalte:

546 f

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

B>Balle, Johannes D.

Titel/Untertitel:

Gedanken in Bewegung. Zur Phänomenologie dynamischen Sachbezugs.

Verlag:

Würzburg: Königshausen & Neumann 2003. 217 S. gr.8° = Epistemata, 340. Kart. Euro 32,00. ISBN 3-8260-2464-8.

Rezensent:

Christof Ellsiepen

Balles Berliner philosophische Dissertation ist einem intrikaten Problem der Kognitionspsychologie und Sprachphilosophie gewidmet. Welche psychischen Vorgänge spielen sich ab, wenn ein Mensch »über eine[n] Zeitraum hinweg, in wechselnden Kontexten und Perspektiven, auf denselben Gegenstand Bezug nimmt« (75)? Phänomenologisch ist die Studie deshalb, weil ­ ausgehend von Husserl ­ von der Existenz externer Gegenstände weitestgehend abgesehen und das Referenzproblem ganz im Zusammenhang innermentaler Vorgänge erörtert wird. B. will das Problem des Sachbezugs aus der methodischen Engführung nur synchroner und zumeist auf sprachliche Vorgänge fixierter Betrachtung herausführen. Sachbezug könne erst dann angemessen erfasst werden, wenn zeitliche Dynamik prinzipielle Berücksichtigung findet. Seine Überlegungen sind durchgängig systematisch motiviert. Statt die einschlägigen Theorien etwa Freges, Gareth Evans¹ oder John Perrys »nur« zu rekonstruieren, sucht B. in kritischem Anschluss an diese Theorien nach eigenen Ansätzen.

Kapitel 1­2 sind Grundüberlegungen (noch in synchroner Betrachtung) gewidmet: dem Zusammenhang von Gedanken und Gegenstand bzw. der Singularität von Gedanken. Gegen Freges semantischen Gedankenbegriff argumentiert B. für eine psychologische (»kognitive«) Fassung von Gedankeninhalten (Kapitel 1). Kognitive Kontexte sollen erklären, wie ein Subjekt einen Gegenstand »im Sinn hat« (32). Besonderes Gewicht erhält die Kontextualität bei demonstrativen Ausdrücken (Kapitel 2). Sie sind, wie B. im Anschluss an Perry darlegt, niemals »indikatorenfrei« zu spezifizieren (36). Die hier einschlägige Theorie »direkter Referenz« bei indexikalischen Ausdrücken ist nach B. so zu modifizieren, dass nicht semantische Wahrheitsbedingungen, sondern kognitive Erfüllungsbedingungen die singuläre Bezugnahme ausmachen. Entsprechend ist auch die subjektive Akzeptanz an psychologische, nicht an sprachlich indizierte Kontexte gebunden. Für das Weitere grundlegend ist B.s Fassung des Vorstellungsbegriffs. Vorstellungen sind »aktuale Kontextrepräsentationen« (65) und bestehen 1. aus sprachlicher Bedeutungsfunktion (»Rolle«), 2. perzeptiven Inhalten aktualer Informationszustände (»Perzept«) und 3. einem inaktualen, gegenstandsbezogenen und kontextübergreifenden Informationsspeicher (»Vorstellungsdossier«). Vorstellungen in diesem Sinne weisen kontextrelative Differenzen des Wahrheitswertes, der kognitiven Repräsentation sowie der persönlichen Akzeptanz auf. B. versucht auch hier die sprachphilosophische Engführung des Problems zu erweitern, indem er in seinem Vorstellungsbegriff Sprache, Kognition und Verhaltensdisposition (»behaviorale Signifikanz«) verbindet.

Kapitel 3­5 widmen sich nun den Problemen kognitiver Dynamik, die B. jeweils durch das Modell spezifischer »Gedankenmodi« zu lösen sucht. Das Problem einer zeitkontextübergreifenden Bezugnahme wird erklärt durch den »apprehensiven Modus« (Kapitel 3), das der Konvertibilität von perzeptiven und begrifflichen Momenten durch den »transformativen Modus« (Kapitel 4), und schließlich erklärt der »personale Modus« die intrapersonale Zusammenführung von Kontexten zu einer subjektiven Ich-Perspektive (Kapitel 5). Auf allen drei Feldern erklärt B. die Möglichkeit dynamischen Sachbezugs aus subjektiven Fähigkeiten. Er grenzt sich so doppelt ab. Dass wir uns auf dieselben Gegenstände über wechselnde Zeitpunkte, Gegebenheitsweisen und Kontexte hinweg beziehen können, ist weder in der Permanenz von Gegenständen noch in der semantischen Rigidität einer sprachlichen Repräsentation begründet, sondern in operativen Fähigkeiten des Subjekts. B. votiert für ein Konzept basaler psychischer Funktionen, die zwar selbst keine Gedanken sind, als deren Modi aber gedanklichen Sachbezug ermöglichen. So bildet die »Apprehension« (122 ff.) Basiskontexte und Folgekontexte aufeinander ab und ermöglicht damit (vorsprachliche) Rekognition und die Bildung von Vorstellungsdossiers als »dynamischer Rollen« (141). Das Problem der Anwendbarkeit von Begriffen auf Erfahrung versiert sprachphilosophisch als das der Konvertibilität von Perzept und sprachlicher Rolle. Nach B. ist es die (leider nicht näher erläuterte) Funktion des »transformativen Modus«, kontextsensible Perzepte und relativ kontextunabhängige Begriffe mental aufeinander abzubilden und somit Harmonie von Wahrnehmungs- und Begriffskomponenten im Resultat der »Gestaltung« (161) zu ermöglichen. Der »personale Modus« schließlich steht für die Funktion der Abbildung von Kontexten auf Kontextperioden oder »personale Zonen«. Er ermöglicht die egozentrische Perspektivierung von Bezugnahmen in einem individuellen »Erzählkontext« (205).

Trotz bisweilen hermetischer Terminologie und einer Vorliebe für Formalisierungen, die es dem Leser nicht immer leicht machen, hat B.s Studie ihren Wert darin, die Notwendigkeit der Berücksichtigung kontextueller und temporaler Dynamik bei der Formulierung einer Phänomenologie intentionaler Gehalte aufgezeigt zu haben. Gleichwohl bleibt die Frage, inwiefern in der Fluchtlinie einer solchen konsequenten Dynamisierung und Kontextualisierung von einer Theorie des Gedankens noch gesprochen werden kann.