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Ausgabe:

Mai/2006

Spalte:

541 f

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Jost, Renate, u. Marcel Nieden

Titel/Untertitel:

Hexenwahn. Eine theologische Selbstbesinnung

Verlag:

M. Beiträgen v. R. Jost, Ch. Strecker, G. Muschiol, S. Kleinöder-Strobel, T. Kleefeld, M. Nieden, H. Hegeler, D. Becker, I. Riedel u. J. Track. Stuttgart: Kohlhammer 2004. 223 S. m. Abb. gr.8° = Theologische Akzente, 5. Kart. Euro 20,00. ISBN 3-17-017894-6.

Rezensent:

Siegfried Bräuer

»Hexerei und Zauberei haben gegenwärtig Konjunktur«. Dieser erste Satz des Bandes ist ebenso zutreffend wie die weitere einleitende Feststellung, dass theologische Beiträge zur neueren interdisziplinären Hexenforschung immer noch selten sind. Der Band verfolgt das Ziel, Möglichkeiten für eine Beteiligung zu sondieren. Er kann auf das Rahmenprogramm zur Ausstellung »Hexenverfolgung in Franken« an der Augustana-Hochschule Neuendettelsau 1999 zurückgreifen und konzentiert sich auf die Verfolgungen in der frühen Neuzeit, insbesondere auf die Verwicklung von Geistlichen in Hexenprozesse.

Vom Ansatz der Frauenforschung aus gelangt Renate Jost im ersten Aufsatz »Zauberei und Gottesmacht. Überlegungen zu Gender, Magie und Hexenwahn im Zusammenhang von Ex 22, 17« zum Ergebnis, dass aus dem Alten Testament keine Begründung für die Todesstrafe bei vermeintlichem Schadenszauber zu gewinnen ist. Es gehe vielmehr um ein »Vertrauen in die Wirksamkeit der Gottesmacht, die Schadenszauber bekämpft« (32). Der stark hypothetischen Beweisführung wird vermutlich nicht jeder Exeget folgen. Der Neutestamentler Christian Strecker macht in seinem weit ausholenden Beitrag vor allem auf das weite janusköpfige Magieverständnis in der paganen und christlichen Antike aufmerksam, das auch von den Kirchenvätern nicht völlig aufgegeben worden ist. Selbst die Hexe besaß in der Antike als »liminale Figur Š eine Art Existenzrecht« (70). Mit dem Forschungsüberblick (bis 1991) »Zeugen, Opfer, Gegner oder Täter? Die Rollen geistlicher Frauen und Männer in Hexenprozessen« von Gisela Muschiol wird der kirchengeschichtliche Teil des Bandes eingeleitet.

Der lange Einfluss konfessionalistischer Vorurteile wird genauso vorgeführt wie der lange Weg der Gegner der Verfolgung von der Vergeblichkeit zum Erfolg. Nach wie vor hat jedoch die Feststellung der Autorin Gültigkeit: »Es gibt mehr Fragen als Antworten auf der Suche nach der Geistlichkeit in Hexenprozessen« (88). Die Ergebnisse ihrer Dissertation referiert Susanne Kleinöder-Strobel in dem Aufsatz über die Rolle der evangelischen Geistlichkeit in den Hexenprozessen der Markgrafentümer Ansbach und Kulmbach/Bayreuth im 16. Jh. Die Mitwirkung der protestantischen Pfarrer hat sich auf »eine passiv-unterstützende und damit fördernde« Rolle beschränkt (106). Die behördliche Dezentralisierung und die prinzipielle Scheidung zwischen geistlicher und weltlicher Gewalt haben sich prozesshemmend ausgewirkt. Auf der Grundlage der Aktenüberlieferung stellt Traudl Kleefeld den Fall einer jungen Bediensteten im Gebiet der Freiherren von Seckendorff-Aberdar vor. Pfarrer Hieronimus Lucius in Ezelheim bringt die Hexenverdächtige aus geistlichem Pflichtbewusstsein 1611 zur Anzeige. Der Protest der Eltern gegen das Vorgehen des Pfarrers und die Ortsausweisung der Beschuldigten bleiben wirkungslos. Einen besonderen Eindruck hinterlässt die Rekonstruktion des Prozesses der wegen Schadenszauber beschuldigten Martha Engel in Menteroda im Herzogtum Sachsen-Gotha durch Marcel Nieden. Sie wurde 1654 hingerichtet, nachdem sie vergeblich versucht hatte, ihre Seelsorger zu überzeugen, dass ihr Folterbekenntnis nicht der Wahrheit entspreche. Bekannter ist der ungewöhnlich mutige Protest gegen die Anwendung der Folter in einem Hexenprozess 1597 durch den Isenburg-Birsteiner Hofprediger Anton Praetorius, der 1598 als Pfarrer von Laudenbach/Kurpfalz auch schriftlich gegen die Hexenprozesse zu Felde zog. Hartmut Hegeler erneuert das Gedenken an sein singuläres Wirken. Nach einem Beitrag aus sozialanthropologischer Perspektive von Dieter Becker und einem aus psychologischer Sicht (Projektionen verdrängter Sexualität und Spiritualität als Hintergrund von Hexenhysterie) von Ingrid Riedel geht Joachim Track abschließend auf den Umgang mit der Schuld in Kirche und Theologie im Blick auf die Hexenverfolgung ein. Als Ausschussvorsitzender der bayerischen Landessynode war er 1994 genötigt, sich gründlicher mit der Thematik zu beschäftigen. Angesichts der erschreckenden Wahrnehmungen postuliert er, dass zunächst einmal über das ungeheuerliche und in der kirchengeschichtlichen Forschung weithin marginalisierte Phänomen, für das sich viele Gründe und Motive aufzeigen lassen, aufzuklären ist. Es ist zur Kenntnis zu nehmen, dass auch die Reformation für die Hexenverfolgung keine Alternative brachte, da Luthers Rechtfertigungsverständnis zwar neue Einsichten eröffnete, aber teilweise auch der theologischen und mentalen Tradition verhaftet blieb. Die Mehrdeutigkeit in Luthers theologischen Argumentationen (Geschöpflichkeit, Sünde, Leiblichkeit, politische Ethik) spiegelt sich auch in seiner Hexendeutung wider. Das offene Problem von Luthers Rechtfertigungseinsicht, »wie man mit dem menschlichen Bedürfnis nach Selbstvergewisserung, nach konkreter Bewahrung in den Gefährdungen des Lebens, nach spiritueller Erfahrung in Symbolen und Riten umgeht« (215 f.), illustriert ebenfalls diesen Zusammenhang. Track hält die Zeit für gekommen, dass sich die Kirche auch hinsichtlich der Hexenverfolgung der Anerkennung und Übernahme der Schuld stellt. Zugleich weist er auf die Verpflichtung hin, im Verständnis und in der Praxis des Rechtfertigungsglaubens neue Wege zu gehen, die den lebenszerstörerischen Umgang mit anderen Menschen vermeiden helfen.

Die vorgelegten Untersuchungen sind nicht völlig frei von ungeschichtlichen Urteilen. Außerdem wäre die traditionelle Sicht der Hexenverfolgung als Wahn anzufragen. Nur Track problematisiert sie, da sie entschuldigend wirken könne. Seine Umschreibung, »eine Art Bann« habe sich auf das Geschehen, eine »Machtsphäre des Bösen, Š [des] Dämonischen« habe »sich über die Menschen und ihr Tun gelegt« (207), ist aus kirchengeschichtlicher Sicht gleichfalls nicht unproblematisch. Das haben frühe Versuche, die NS-Zeit theologisch zu interpretieren, gezeigt. Hier wäre theologisch weiterzuarbeiten, wie auch kirchengeschichtlich noch einiges zu tun ist (z. B. enthalten chronikalische Überlieferungen bislang kaum beachtete Notate über Hexen- bzw. Zaubereiprozesse). Für den Weg, der noch zurückzulegen ist, bis die Thematik auch in der kirchengeschichtlichen Forschung ihren normalen Platz erhält, vermittelt der Band wichtige Impulse.