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Ausgabe:

Mai/2006

Spalte:

536–539

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Frank, Günter, u. Herman J. Selderhuis

Titel/Untertitel:

Melanchthon und der Calvinismus

Verlag:

Hrsg. unter Mitarbeit v. S. Lalla. Stuttgart-Bad Cannstatt: Frommann-Holzboog 2005. 375 S. m. Abb. gr.8° = Melanchthon-Schriften der Stadt Bretten, 9. Geb. Euro 48,00. ISBN 3-7728-2236-3.

Rezensent:

Martin H. Jung

Das Melanchthonhaus in Bretten unter seinem rührigen Kustos Günter Frank ist in den vergangenen Jahren mehrfach mit Forschungskolloquien und daraus hervorgegangenen Sammelbänden zu speziellen Fragen der Melanchthonforschung hervorgetreten, so z. B. zu den Themen »Melanchthon und die Neuzeit« und »Melanchthon und die Naturwissenschaften seiner Zeit«. »Melanchthon und der Calvinismus« ist ein weiteres Spezialthema, das Bretten 2001 aufgegriffen hat. Eine Nähe Melanchthons zu Calvin ­ oder umgekehrt ­ wurde und wird oft behauptet, vielfach früher und auch noch heute in polemischen Kontexten. Auch dass Melanchthon Einfluss auf den Calvinismus hatte beziehungsweise der Calvinismus Melanchthon rezipiert hat, ist bekannt. Doch abgesehen von engen theologischen und theologiegeschichtlichen Fragestellungen wurden die Zusammenhänge bislang im Einzelnen erst wenig erörtert. Die Brettener Tagung wollte der Fragestellung dezidiert in »einem weitergehenden kultur- und wissenschaftshistorischen Kontext« nachgehen (7).

Der Tagungsband vereint 13 gehaltvolle Aufsätze von Melanchthon- und Calvinismus-Experten aus Deutschland, Belgien, den Niederlanden und den USA, teilweise in deutscher, teilweise in englischer Sprache. Einleitend vergleicht Riemer Faber (University of Waterloo) den Humanismus der beiden Reformatoren und stellt deutliche Unterschiede fest. Während Melanchthon »sought to restore the value of the studia humanitatis by developing a universal system of knowledge«, habe Calvin den Humanismus in sein theologisches System absorbiert und die Wissenschaften dem Primat des Glaubens und der Norm der Schrift unterworfen. Wichtig ist die dem Beitrag beigegebene Bibliographie, die den Leser mit der englischsprachigen Humanismus-Literatur bekannt macht. Lyle D. Bierma (Calvin Theological Seminary, Grand Rapids) untersucht die Struktur des Heidelberger Katechismus unter der in der älteren Literatur beliebten Frage, ob er eher als melanchthonisch oder calvinisch aufgefasst werden muss, und kommt zu dem Ergebnis, dass diese Zuordnungen für die Interpretation des Textes »not very helpful« seien (42). Zu Recht wird an seinen Entstehungshintergrund erinnert: Friedrich III. habe ja gerade das Ziel verfolgt, Melanchthonianer, Calvinisten und Zwinglianer zusammenzubringen. Daran anschließend wendet sich Herman J. Selderhuis (Universität Apeldoorn) Melanchthons Einfluss auf den »Heidelberger Calvinismus« in den Jahren 1583 bis 1622 zu und bricht ebenfalls mit traditionellen Klischees, wenn er herausstellt, die Heidelberger Theologieprofessoren jenes Zeitraums seien nicht als Calvinisten und nicht als Philippisten zu bezeichnen, sondern »eher noch als Lutheraner« (59).

In mehreren Beiträgen werden Melanchthon und Calvin unter bestimmten Fragestellungen konkret miteinander verglichen. Karin Maag (Calvin Theological Seminary, Grand Rapids) untersucht in einem kurzen und weniger ertragreichen Beitrag vergleichend Melanchthons und Calvins Engagement für die höhere Bildung. Günter Frank (Melanchthonhaus Bretten) untersucht die Gottes- und Trinitätslehre Melanchthons und Calvins und wiederholt seine ­ in der Melanchthonforschung umstrittene ­ Theorie vom platonischen Hintergrund der melanchthonschen Gotteslehre. Der Aufsatz setzt sich kritisch aus philosophischer und systematisch-theologischer Perspektive mit den Auffassungen beider Reformatoren auseinander und führt keinen eigentlichen Vergleich durch. Melanchthons und Calvins Auffassungen vom Konzil vergleicht Michael Becht (Universität Freiburg i. Br.) und stellt »weitgehende Übereinstimmungen« fest, die sich vor allem in einer hohen Wertschätzung dieser Einrichtung, aber auch in der Ablehnung der Theorie der konziliaren Repräsentation konkretisieren.

Jan Rohls (Universität München) wendet sich einer philosophiegeschichtlichen Thematik zu und untersucht den Weg der protestantischen, insbesondere der lutherischen Schultheologie von der melanchthonschen Aristotelesrezeption über Ramus zu Zabarella. Dabei stellt er den Unterschied zwischen der reformierten und der lutherischen Dogmatik in der Anwendung der synthetisch-kompositiven Methode durch die Reformierten (von wenigen Ausnahmen abgesehen) und der analytisch-resolutiven Methode durch die Lutheraner heraus und sieht in letzterer Positionierung eine späte Wirkung Melanchthons. Zu Recht könnten sich »die Anhänger der neuaristotelischen Methodenlehre Zabarellas als die wahren Erben Melanchthons betrachten« (105).

Einen originellen Einblick in die nachtridentinische antireformatorische Polemik gibt Max Engammare (Verlag Droz). Sein Beitrag, der etwas außerhalb der Reihe steht und eigentlich nichts direkt mit dem Thema »Melanchthon und der Calvinismus« zu tun hat, berichtet von den 1605 veröffentlichten, Calvin, Melanchthon und Luther als Ketzer identifizierenden Horoskopen des französischen Astrologen Florimond de Raemond.

Ein großer Teil der Aufsätze behandelt rezeptions- und wirkungsgeschichtliche Fragestellungen. Christoph Strohm (Universität Heidelberg) wendet sich der Melanchthonrezeption in der Ethik des frühen Calvinismus zu. Er geht von der hohen Wertschätzung Melanchthons im frühen Calvinismus aus und zeigt, wie Melanchthon »nicht zuletzt durch einzelne seiner Schüler zum wichtigsten Anreger ethischer Theorie im frühen Calvinismus geworden« ist (139). Mit diesen Anregungen hatte es dann aber auch sein Bewenden. »Grundlegende [theologische] Differenzen« haben eine »umfassendere Wirkungsgeschichte« Melanchthons »in der späteren calvinischen Ethik verhindert« (149). Melanchthons Naturrechtslehre wurde dagegen von deutschen Calvinisten des 17. Jh.s sehr stark rezipiert. Der Beitrag von Wim Janse (Freie Universität Amsterdam) wendet sich dem wenig bekannten »Nonkonformisten« Wilhelm Klebitz und seiner Melanchthonrezeption zu. Der zeitweise in Heidelberg wirkende ehemalige brandenburgische Diakon versuchte u. a., Melanchthon für seine Idee eines »konfessionellen und staatlichen Irenismus« einzunehmen (282).

Einer besonders heiklen Frage widmet sich Theodor Mahlmann (Universität Marburg), wenn er mit der ihm eigenen Akribie Melanchthon als »Vorläufer« des Wittenberger Kryptocalvinismus untersucht; mit 58 Seiten handelt es sich um den mit Abstand längsten Aufsatz des Bandes. In einem ersten Teil klärt Mahlmann ­ erstmals überhaupt ­ die Frage, wann und wie die Rede von den Kryptocalvinisten aufgekommen ist. Anschließend wendet er sich auf eigene Weise den ­ schon mehrfach dargestellten und diskutierten ­ persönlichen Beziehungen der beiden Reformatoren und der von beiden bekundeten angeblichen Übereinstimmung in Sachfragen zu. Darauf folgt ein inhaltlicher, systematischer Vergleich der theologischen Positionen der beiden Denker vor allem im Bereich der Prädestinationslehre. Mahlmann kommt zu dem ­ überraschenden und die Forschung herausfordernden ­ Ergebnis, dass Melanchthon gerade hinsichtlich der Prädestinationsauffassung nicht nur als »Vorläufer des Wittenberger Kryptocalvinismus« gesehen werden kann, sondern sogar »muß« (230).

Willem van¹t Spijker (Universität Apeldoorn) vergleicht die theologische Methode Melanchthons mit der Calvins und diskutiert »beider Auswirkungen auf die reformierte Scholastik« (291). Er kommt nach einem Vergleich der Loci mit der Institutio zu dem Ergebnis, »Ansatz, Weg und Ziel der Theologie« seien bei den beiden Reformatoren »wesensmäßig gleich« gewesen (303). Unterschiede hätten sich in der Rechtfertigungs- und Willenslehre ergeben und natürlich beim Thema der Prädestination. Erneut wird auch das persönliche Verhältnis der beiden Reformatoren beleuchtet und positiv gewürdigt. Hinsichtlich der »reformierten Scholastik« kommt van¹t Spijker zu dem Ergebnis, dass sie inhaltlich auf Calvin, aber methodisch in einem stärkeren Maß auf Melanchthon aufgebaut habe. Interessant ist die Information, dass Gisbert Voetius Calvins Werk »nur noch mit geübten Studenten« gelesen habe (315). In einem abschließenden Aufsatz wendet sich Andreas J. Beck (Universität Leuven) der Rezeption Melanchthons bei dem eben genannten Utrechter Theologen zu. Während in der Gotteslehre, für die sich Beck vor allem interessiert, von einer direkten Rezeption Melanchthons durch Voetius nicht die Rede sein kann, allenfalls von einer indirekten z. B. durch »Traditionslinien über seine Lehrer und wiederum deren Lehrer«, schließt der Beitrag und damit das Buch mit einer frömmigkeitsgeschichtlich interessanten Mitteilung. Voetius kannte und zitierte den berühmten so genannten Trostzettel Melanchthons, auf dem der im Sterben liegende Reformator die Gründe notiert hatte, warum er den Tod nicht fürchte, darunter das Argument: »Liberaberis Š a rabie Theologorum« (342).

Bleibt noch zu bemerken, dass der Band wie alle »Melanchthon-Schriften« aufwendig und sorgfältig gestaltet und mit Namen- und Sachregister ausgestattet wurde. Dass die Melanchthonforschung in Bretten blüht und fruchtbare Ergebnisse aufzuweisen hat, ist nicht zuletzt auch dem Gemeinderat der »Melanchthonstadt Bretten« und ihrem Oberbürgermeister Paul Metzger zu verdanken. In seltener, aber vorbildlicher Weise fördert Bretten aus kommunalen Mitteln seit vielen Jahren die Melanchthonforschung in einem erheblichen Maße. In einer Zeit, wo die geisteswissenschaftliche, speziell auch die theologische Forschung gesellschaftlich immer weiter an den Rand gedrängt zu werden droht, ist es angebracht, ein solches lobenswertes Beispiel auch in einer Rezension einmal zu erwähnen.