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Ausgabe:

Mai/2006

Spalte:

529–532

Kategorie:

Kirchengeschichte: Alte Kirche, Christliche Archäologie

Autor/Hrsg.:

Mutschler, Bernhard

Titel/Untertitel:

Irenäus als johanneischer Theologe. Studien zur Schriftauslegung bei Irenäus von Lyon

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2004. XVI, 331 S. m. Abb. u. Tab. gr.8° = Studien und Texte zu Antike und Christentum, 21. Kart. Euro 59,00. ISBN 3-16-148284-0.

Rezensent:

Rolf Noormann

Die vorgelegte Untersuchung ist »die leicht gekürzte Fassung« (VI) einer von Christoph Markschies betreuten, im Sommersemester 2003 in Heidelberg angenommenen Dissertation. Sie wird vom Vf. in den Kontext der in den letzten Jahrzehnten erschienenen »Monographien zur Auslegungsgeschichte des zweiten Jahrhunderts« gestellt (5 f.), geht aber insofern ganz eigene Wege, als der Schwerpunkt entschieden auf den Schriftgebrauch des Irenäus gelegt wird; die im Untertitel annoncierte »Schriftauslegung« tritt demgegenüber weitestgehend in den Hintergrund. Die Darstellungsweise ist durch tabellarische Übersichten, statistische Untersuchungen und kurze Auswertungen geprägt. Fast alle Kapitel werden mit einer thesenartigen Zusammenfassung der wichtigsten Punkte beschlossen, die »insgesamt gut 30 Seiten« füllen (10).

Der erste, längere Hauptteil der Arbeit (13­132) mit dem Titel »Der Gebrauch der Heiligen Schrift und der klassischen griechischen Literatur bei Irenäus von Lyon ­ eine quantitative Analyse« (Hervorhebung R. N.) beschränkt sich nicht auf das Corpus Johanneum, sondern unternimmt es, erstmals die »Gesamtlandschaft des irenäischen Schriftgebrauchs« wahrzunehmen (9), d. h. alle biblischen Bezüge in den irenäischen Schriften zu erfassen, tabellarisch darzustellen und statistisch auszuwerten. Damit soll nicht nur »ein Desiderat bisheriger Forschung« erfüllt, sondern zugleich eine klarere Konturierung des irenäischen Umgangs mit der johanneischen Literatur erreicht werden (9).

Nach einer »Einführung« zur »Methodik« des ersten Hauptteils (15­31) informieren zwei Kapitel zu »Irenäus¹ Schriftgebrauch des Alten Testaments« bzw. »des Neuen Testaments« (32­60 bzw. 61­98) darüber, welche biblischen Schriften nicht aufgenommen werden, wie häufig und in welcher Intensität die einzelnen biblischen Schriften rezipiert werden und wie sich die Zitate und Anspielungen im irenäischen Werk verteilen. Mögliche Gründe für fehlende Bezugnahmen auf Phlm, 3Joh und Jud werden erörtert (61­70). Ein Vergleich des irenäischen Schriftgebrauchs »mit dem nachbiblischen Schriftgebrauch bis zur Zeit von Klemens von Alexandrien und Tertullian« (99­117) ergibt für das Alte Testament zum Teil frappierende Übereinstimmungen ­ »die sechs meistzitierten Bücher« sind dieselben­, die der Vf. als Hinweis »auf das Problem christlicher Testimoniensammlungen« versteht (105). Beim Neuen Testament ist das »Gesamtbild Š etwas inhomogener« (111). Ein Kapitel zum ausgesprochen zurückhaltenden »Gebrauch der klassischen griechischen Literatur« bei Irenäus beschließt den ersten Hauptteil (118­132).

Der Vf. bietet detaillierte quantitative Analysen, die in der Methodik der Untersuchung frühchristlichen Schriftgebrauchs ganz neue Wege beschreiten und zum Teil interessante Ergebnisse erbringen. Ein schwerwiegendes methodisches Problem besteht freilich in der Erhebung des zu Grunde gelegten Datenmaterials. Angesichts der großen Divergenzen in den Bibelstellenregistern der verschiedenen irenäischen Textausgaben entscheidet sich der Vf., die Register der Irenäus-Bände in den Sources Chrétiennes zur Basis seiner Untersuchung zu machen (19­22). Die Hoffnung, damit eine weitgehend zuverlässige, »durchgängig möglichst homogene« Datenbasis in die Hand zu bekommen (22), ist freilich trügerisch. Wie wenig zuverlässig die Angaben der SC-Bände sind, sobald das Feld der direkten Zitate verlassen wird, zeigt der Vf. selbst am Beispiel der Rezeption des Corpus Johanneum in Haer. III (201­210): Auf Grund eigener Analysen kommt er zu dem Ergebnis, dass von den in der SC-Ausgabe genannten 102 Belegen acht zu streichen, aber 94 (!) weitere Belege zu ergänzen sind; entsprechende Nachweise ließen sich unschwer auch für die Rezeption anderer biblischer Bücher führen. Dass damit die Zuverlässigkeit der Angaben in der SC-Ausgabe grundsätzlich in Frage gestellt ist, liegt auf der Hand. Auch die Aussage, die Verwendung allein der SC-Ausgabe gewährleiste eine »Vergleichbarkeit« der Daten (22), hält einer kritischen Überprüfung nicht stand; im Bereich impliziter Bezugnahmen verfahren die Herausgeber nicht selten willkürlich. Als Basis differenzierter statistischer Auswertungen können die Bibelstellenregister dieser Bände daher sicher nicht dienen. Eine erheblich bessere Datenbasis wäre relativ einfach erreichbar gewesen, wenn alle vorhandenen Textausgaben, Hilfsmittel, Kommentare und Untersuchungen ausgewertet und die so gewonnenen Hinweise mit nachvollziehbaren Kriterien selbständig überprüft, korrigiert und möglicherweise ergänzt worden wären.

Der zweite, kürzere Hauptteil (133­222; 10 versehentlich: »Der längere zweite Teil«) trägt den Titel »Die Auslegung johanneischer Schriften durch Irenäus von Lyon ­ eine qualitative Analyse« (Hervorhebung R. N.), ist aber de facto vor allem dem irenäischen Gebrauch des Corpus Johanneum gewidmet, vertieft also exemplarisch die Studien des ersten Teils. Weil die »Blickrichtung« der Untersuchung »rezeptionsgeschichtlich ist und damit das irenäische Verständnis johanneischer Schriften berücksichtigt« (7), wird die gesamte johanneische Literatur (JohEv, 1­3 Joh, Apk) einbezogen.

Die Einführung (135­153) erläutert ausführlich die »Methodik« dieses Hauptteils. Im Anschluss an D.-A. Koch, Die Schrift als Zeuge des Evangeliums (1986), W.-D. Köhler, Die Rezeption des Matthäusevangeliums in der Zeit vor Irenäus (1987), und R. Noormann, Irenäus als Paulusinterpret (1994), wird eine differenzierte Methodik zur Klassifizierung und Interpretation irenäischer Johannes-Bezüge entwickelt (144­150), die freilich überraschenderweise in der Fortsetzung praktisch keine Anwendung findet: Abgesehen von der »Johannesnotiz« in Haer. III 1,1 wird keine einzige Bezugnahme auf das Corpus Johanneum nach diesem Verfahren untersucht. (139 f. verwechselt der Vf. die paulinische Einführung alttestamentlicher Zitate mit der irenäischen Einführung von Paulus-Zitaten und kommt so zu falschen Schlussfolgerungen bzgl. der persönlichen Nähe des Irenäus zu Johannes und Paulus[151.245 wiederholt].)Nach einer sorgfältigen Analyse der »Johannesnotiz« in Haer. III,1,1 (154­161) wird die Verwendung des Ausdrucks »der Jünger des Herrn« untersucht, die bei Irenäus als exklusive Bezeichnung des Johannes erscheint (162­169). Das Schwergewicht dieses Hauptteils liegt auf dem Kapitel: »Überblick über die Johannesauslegung: Die Johannesbezüge im Einzelnen« (173­216). Da der Vf. der Meinung ist, »309 Johannesbezüge« könnten »im Rahmen einer Dissertation nicht ausführlich interpretiert und betrachtet werden« (173; vgl. dagegen etwa die erwähnte Untersuchung von W.-D. Köhler), er aber dennoch nicht darauf verzichten möchte, das Ganze der irenäischen Johannesrezeption in den Blick zu nehmen, entschließt er sich zu einer tabellarischen Darstellung (178­188: »Qualifiziertes Einzelverzeichnis der johanneischen Bezugnahmen«). Diese schließt sich in der Methodik der Darstellung und Klassifizierung an W.-D. Köhler an, erscheint hier aber anders als bei diesem nicht als Zusammenfassung entsprechender Einzeluntersuchungen (vgl. Köhler, a. a. O., 539­571), sondern als Ersatz dafür. Dass der Vf. damit keine »Ergebnisse«, sondern eher einen »Ausgangspunkt für weitere Untersuchungen« liefert, bemerkt er S. 191 selbst; er begnügt sich freilich im Weiteren damit, das gebotene Material »überblickshaft ersten Auswertungen« zu unterziehen, die sich erneut weitgehend auf statistische Beobachtungen beschränken (191­200). Es folgt der erwähnte Abschnitt zur Unzulänglichkeit der Angaben zu johanneischen Bezügen in der SC-Ausgabe zu Haer. III (201­210), der auf einem noch unveröffentlichen Kommentar zu den Johannesbezügen in Haer. III basiert (201; vgl. Vorwort VI), bevor abschließend mit einigen Strichen die Johannesrezeption in Haer. III 11,1­6, dem Passus mit der »größte[n] Verdichtung irenäischer Johannesauslegung«, thematisch skizziert wird (217­222). Auf eine nähere Untersuchung irenäischer Johannesauslegung wartet man auch hier vergebens.

Den Abschluss der Arbeit bildet ein ausführliches Resümee (223­275). Nach einer mit Schaubildern illustrierten Zusammenfassung des ersten Hauptteils (223­242), die einige weiterführende Bemerkungen zu vermuteten Kriterien des irenäischen Schriftgebrauchs enthält (237­240), folgt ein zweiter, längerer Abschnitt zu »Irenäus als Johannesausleger« (242­266). Hier werden nicht nur die Ergebnisse des zweiten Hauptteils zusammengefasst und vertiefend weitergeführt (242­256), es wird auch die Frage thematisiert, »welche Rolle johanneische Sätze, Gedanken, Sprache oder Begriffe in der theologischen Argumentation des Irenäus einnehmen« (257­266). Auch hier ist der Ausgangspunkt eine statistische Beobachtung ­ eine zehnmal begegnende Zitatkombination aus dem Johannesprolog (258) ­, aber diese wird nun erstmals zum Anlass längerer inhaltlicher Ausführungen genommen. Die abschließende Frage: »Ist Irenäus ein johanneischer Theologe?« beantwortet der Vf. mit nuancierten Ausführungen (266­273), die freilich nur zum Teil auf den vorangehenden Studien basieren (zur behaupteten weitgehenden Sachgemäßheit irenäischer Johannesrezeption etwa wird erneut auf den unveröffentlichen »Kommentar« verwiesen [266 f.]). Sein Ergebnis lautet, Johannes komme »aufgrund seiner axiomatischen Bedeutung für zentrale Bereiche irenäischer Theologie ­ Joh 1,14a ist der neutestamentliche Satz, auf den sich Irenäus nicht nur am häufigsten, sondern wohl auch am intensivsten bezieht ­ die Rolle der Tonika zu« (272).

Die Stärken der Studien liegen in der Untersuchung des irenäischen Schriftgebrauchs. Hier geht der Vf. entschieden eigene Wege und vermeidet damit, in der auslegungsgeschichtlichen Literatur zum 2. Jh. bereits mehrfach beschrittene Wege ein weiteres Mal zu gehen. In der statistischen Auswertung von Datenmaterial und in der Konzipierung von Tabellen und Schautafeln bietet der Vf. viele neue Ansätze, die für die weitere Forschung hilfreich sein können. Auf eine Untersuchung zur irenäischen Auslegung der johanneischen Schriften und damit zu »Irenäus als johanneische[m] Theologe[n]«, bleibt freilich weiter zu warten. Das Resümee lässt ahnen, dass der Vf. dazu erheblich mehr zu bieten hat, als hier vorgelegt wird. Die Entscheidung, die ­ offenbar auf Haer. III beschränkte ­ Einzeluntersuchung der irenäischen Johannesrezeption komplett auszugliedern, ist schwer nachvollziehbar. Darüber hinaus vermisst man eine intensivere Beschäftigung mit der irenäischen Theologie im Gespräch mit der einschlägigen Sekundärliteratur. Möglicherweise füllt der versprochene »Kommentar« auch diese Lücke.