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Ausgabe:

Mai/2006

Spalte:

518–520

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Stare, Mira

Titel/Untertitel:

Durch ihn leben. Die Lebensthematik in Joh 6.

Verlag:

Münster: Aschendorff 2004. VIII, 366 S. gr.8° = Neutestamentliche Abhandlungen. Neue Folge, 49. Lw. Euro 58,00. ISBN 3-402-04797-7.

Rezensent:

Enno Edzard Popkes

Diese Studie, die aus einer von Martin Hasitschka betreuten Dissertation hervorgegangen ist, widmet sich einem zentralen Thema johanneischer Theologie, nämlich dem Verständnis des Begriffsfeldes ðLebenÐ bzw. ðewiges LebenÐ. Sie konzentriert sich auf den Text Joh 6,1­71, der nicht nur für diesen Themenhorizont, sondern auch für die literarische Eigentümlichkeit des Johannesevangeliums von besonderer Bedeutung ist.

Die Untersuchung ist in fünf Hauptteile untergliedert. Zunächst skizziert die Vfn. in Teil I (1­13) Grundprobleme der Interpretation des johanneischen Lebensbegriffs und erläutert die Prinzipien ihres methodischen Zugriffs auf die Texte des vierten Evangeliums. Die Analyse basiert ­ wie es in weiten Teilen der derzeitigen Forschungsdiskussion der Fall ist ­ auf einer synchronen Textlektüre. Die Vfn. möchte vor allem die Erzählstruktur von Joh 6 herausarbeiten, wobei der Analyse der unterschiedlichen Kommunikationsstrategien besondere Aufmerksamkeit geschenkt wird. Zu diesem Zwecke unterscheidet sie zwischen fünf ðKommunikationsniveausÐ, auf denen unterschiedliche ðSenderÐ und ðEmpfängerÐ von Botschaften agieren (zur Arbeitsterminologie und deren methodischen bzw. forschungsgeschichtlichen Hintergründen vgl. 8­12). In den drei ersten Kategorien, die sich auf der textinternen Erzählebene abspielen, wird das Verhältnis zwischen den textinternen Personen (Kommunikationsniveau 1), zwischen dem fiktiven Erzähler und dem fiktiven Adressaten (Kommunikationsniveau 2) und zwischen dem impliziten Autor und den impliziten Adressaten reflektiert (Kommunikationsniveau 3). Darüber hinaus soll die Kommunikation zwischen dem realen Autor bzw. realen Leser (Kommunikationsniveau 4) und dem historischen Autor bzw. historischen Leser analysiert werden (Kommunikationsniveau 5), die sich auf einer textexternen Ebene ereignet. Vor diesem Hintergrund möchte die Vfn. schließlich auch analysieren, inwiefern »der Text zu einem ähnlichen Kommunikationsgeschehen sowohl bei seinen ersten als auch bei seinen heutigen und den künftigen Lesern führen kann« (12).

Nach diesen methodischen Vorüberlegungen wird in Teil II (14­31) die Textgrundlage der Analyse skizziert, indem die Stellung von Joh 6 in der Gesamtkomposition des Johannesevangeliums (14­18) und die Gestaltung der einzelnen »Äußerungseinheiten« erläutert werden (19­31). Den zentralen Abschnitt der Studie verkörpert Teil III (32­260), in welchem die einzelnen Texteinheiten von Joh 6 auf ihre Bedeutung für den Lebensbegriff hin analysiert werden. Die Untersuchung der erzählerischen Einleitungstexte (ðJesu Zeichen der wunderbaren SpeisungÐ [32­55], ðJesu Gang und Offenbarung auf dem SeeÐ [56­86] und das ðSuchen der Menge nach JesusÐ [87­99]) fällt dem methodischen Ansatz der Studie entsprechend verhältnismäßig kurz aus, da sie für eine Kommunikationsanalyse nicht derartig bedeutend sind wie die in Joh 6,25­71 narrativ inszenierten Konversationen Jesu mit unterschiedlichen Gesprächspartnern (die Vfn. unterscheidet hierbei die Gesprächseinheiten ðJesus und die MengeÐ [113­163], ðJesus und die JudenÐ [164­225], ðJesus und die JüngerÐ [226­248] und ðJesus und die ZwölfÐ [249­260]). Auf diesen textchronologisch vorgehenden Untersuchungsabschnitt folgt in Teil IV (261­315) eine thematisch-systematisierende Darlegung des johanneischen Lebensbegriffs, in welchem die zuvor herausgearbeiteten Ergebnisse im Gesamtzusammenhang johanneischer Theologie dargestellt werden. In einem Schlussteil werden schließlich wesentliche Schlussfolgerungen und Ausblicke skizziert (316­325).

Die Studie macht insgesamt einen soliden, gut strukturierten Eindruck. Die inhaltlichen Ausführungen werden zudem durch Tabellen und Abbildungen lesedidaktisch aufbereitet (vgl. die detaillierte Aufstellung 340­342). Ihr größtes Verdienst liegt ohne Zweifel in der Analyse der Erzähl- und Argumentationsstrategie von Joh 6, durch die der johanneische Lebensbegriff sukzessive entfaltet wird. Die Vfn. arbeitet eindrücklich heraus, in welcher Weise sich in diesem Kapitel das literarische und argumentative Geschick des Autors des vierten Evangeliums erkennen lässt.

Dies zeigt sich nicht nur an der grundsätzlichen theologischen Gedankenführung, in welcher der Leser von einer Erzählung über die Taten Jesu zur Reflexion über seinen Hoheits- bzw. Sendungsanspruch geführt wird (vgl. z. B. die narrative Überleitung vom Motiv lebensnotwendiger Nahrung zum Motiv des lebensspendenden Wortes Jesu), sondern auch an erzählerischen Details, durch welche die christologischen Aussageabsichten subtil hervorgehoben werden (während z. B. zunächst alle Aussagen über das Leben in Joh 6 als Aussagen Jesu gestaltet sind, begegnet die letzte thematische Reminiszenz ausgerechnet in der johanneischen Modifikation des Petrusbekenntnisses [Joh 6,69 f.]). Durch die kommunikationsanalytische Zugangsperspektive wird hervorgehoben, in welcher Weise der Verfasser des vierten Evangeliums unterschiedliche Adressantenkreise zu erreichen versucht. Die Aussagen über das Leben werden bewusst so formuliert, dass sie nicht nur auf die textinternen Gesprächspartner Jesu zielen, sondern auch auf jedem weiteren Kommunikationsniveau in unterschiedlicher Weise rezipiert werden können (316). Die kommunikative Kompetenz des Verfassers des vierten Evangeliums zeigt sich nicht zuletzt darin, dass zentrale Aspekte des johanneischen Lebensbegriffs zwar vor einem alttestamentlich-frühjüdischen Traditionshintergrund entfaltet werden, aber auch für jene Leser verständlich sind, die diese Vorgaben nicht kennen (vgl. die instruktiven Darstellungen zu den traditionsgeschichtlichen Hintergründen des Manna bzw. Himmelsbrots und zum Lebensbegriff [147­159 bzw. 290­298]).

Diese Aspekte veranschaulichen einen Paradigmenwechsel, der sich in den letzten Jahren in der Johannesforschung abzeichnete. Während gerade in der Exegese von Joh 6 immer wieder versucht wurde, unterschiedliche Redaktionsstufen voneinander zu differenzieren, betont die Vfn., dass die Einsichten einer kommunikationsanalytischen Lektüre »stark für die literarische Einheit des gesamten sechsten Kapitels« sprechen (321). In diesem Sinne ist die Studie ein positives Beispiel dafür, wie das klassische Instrumentarium neutestamentlicher Exegese durch interdisziplinäre Methodendiskurse bereichert werden kann.

Zugleich zeigt sich bei dieser Studie jedoch auch die Gefahr, dass durch einen solchen Methodentransfer die religionsgeschichtliche Eigentümlichkeit neutestamentlicher Texte unzureichend zur Geltung gebracht wird. Gerade bei den johanneischen Schriften fällt es ausgesprochen schwer, die von der Vfn. differenzierten Kommunikationsniveaus konkreten Personen bzw. Personenkreisen zuzuordnen. So stellt sich z. B. die Frage, inwieweit in den Kontroversen zwischen Jesus und ðden JudenÐ ein schwieriger bzw. gescheiterter Kommunikationsprozess zwischen dem Autor bzw. den Trägerkreisen des Johannesevangeliums und ihren jüdischen Mitmenschen reflektiert wird. Ebenso wird nicht thematisiert, auf welche konkrete Gruppierung des zeitgenössischen Judentums diese Aussagen zielen könnten. Noch erstaunlicher ist es, dass eine Konfliktsituation, die für das kommunikative Interesse und die Entwicklungsgeschichte der johanneischen Schriften eine zentrale Bedeutung hat, nur unangemessen zur Geltung gebracht wird: Gerade in Joh 6 spiegeln sich in dem Dialog zwischen Jesus und seinen Jüngern die Spannungen bzw. der Zerbruch der johanneischen Gemeinde. Die antidoketischen Züge der Lebensbrotrede und ihrer Auslegung in Joh 6 können wiederum nicht unabhängig von den johanneischen Briefen analysiert werden. Und eine stärkere Berücksichtigung der johanneischen Briefe wäre auch für den kommunikationsanalytischen Ansatz der Studie ein Gewinn gewesen, da sich hier ­ im Gegensatz zum Johannesevangelium ­ eine direkte Kommunikation zwischen dem (bzw. den) Autor(en) und den Adressaten erkennen lässt.

Dass die Vfn. die problematischen bzw. gescheiterten Kommunikationsprozesse des johanneischen Gemeindeschismas zu wenig beleuchtet, korrespondiert auch dem Sachverhalt, dass sie die prädestinatianischen Züge johanneischen Denkens marginalisiert. Angesichts der heilsuniversalistischen Tendenzen in Joh 6 folgert sie, dass »der Zugang zum ewigen Leben universal ­ für jeden Einzelnen und für alle Menschen ­ offen« steht (323). Sie bringt jedoch nur unangemessen zur Geltung, dass sowohl im Dialog mit jüdischen Gesprächspartnern (Joh 6,44) als auch in der Kommunikation zwischen Jesus und seinen Jüngern (Joh 6,65) auch die prädestinatianischen Züge johanneischer Theologie zu Tage treten. Gerade bei dem gewählten methodischen Ansatz wäre es jedoch ausgesprochen sinnvoll, die kommunikative Funktion der Dialektik heilsuniversaler und prädestinatianischer Züge im johanneischen Denken herauszuarbeiten.

Gleichwohl kann resümiert werden, dass es sich bei dieser Studie um einen wertvollen Beitrag für die Interpretation von Joh 6 handelt. Die Vfn. bringt die narrative Kunstfertigkeit des Johannesevangeliums zur Geltung und regt dazu an, eine kommunikationsanalytische Zugangsperspektive auch an weiteren Texten des vierten Evangeliums zu erproben. Und auch die kritischen Anmerkungen sollen als Ermutigung verstanden werden, auf dem eingeschlagenen Weg weiter voranzuschreiten.