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Ausgabe:

Mai/2006

Spalte:

514–516

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Fenske,Wolfgang

Titel/Untertitel:

Die Argumentation des Paulus in ethischen Herausforderungen

Verlag:

Göttingen: V & R unipress 2004. 341 S. gr.8°. Kart. Euro 36,00. ISBN 3-89971-164-5.

Rezensent:

Johan S. Vos

In dieser Arbeit, die 1998 von der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität München als Habilitationsschrift angenommen wurde, untersucht F. die Argumente und die Argumentationsweise des Paulus hinsichtlich ethischer Fragestellungen. Besondere Aufmerksamkeit schenkt er dabei der Rezeption dieser Argumentation durch die Erstadressaten der paulinischen Briefe.

Im ersten Kapitel beleuchtet er das Thema ðArgumentationÐ aus der Perspektive antiker und gegenwärtiger Sprachwissenschaften. Er tut das, indem er einen Überblick gibt von Einsichten aus der Rhetorik, der Logik, der modernen Argumentationswissenschaft und der Kognitiven Linguistik. Während es der Rhetorik um die Wirksamkeit der Rede gehe, gehe es der Logik darum, wahre Sätze von falschen zu unterscheiden. Statt mathematischer Logik, so lautet die These von F., sei für die Untersuchung der Paulinischen Ethik der Maßstab situationsorientierter Logik angemessener. Aus der modernen Argumentationswissenschaft hebt F. die Einsicht hervor, dass Argumentation Teil des gesellschaftlichen Aushandlungsprozesses ist. Aus dieser Perspektive ist Argumentation die Kunst, einen Konsens in den Fragen herbeizuführen, die nicht mit strenger Beweisführung entschieden werden können. Bei den Einsichten der kognitiven Linguistik geht es F. besonders um die Frage, wie der Text von Rezipienten neu verarbeitet wird, wie dabei zum Beispiel Textlücken ausgefüllt werden.

Im zweiten Kapitel werden Texte untersucht, in denen Paulus auf konkrete Verhaltensweisen in den Gemeinden argumentativ reagiert. F. zieht dafür überwiegend Texte aus dem 1. Korintherbrief heran. Im dritten Kapitel werden Texte aus der Umwelt besprochen, in denen es um die Erziehung der Adressaten geht. Damit will F. die paulinische Argumentation in ihre Zeit einordnen. Das vierte Kapitel ist eine Zusammenfassung und Vertiefung des bisher Ausgeführten.

Die Erkenntnisse dieser Arbeit lassen sich wie folgt zusammenfassen:

1. Paulus kennt in ethischen Fragen keine festen Maßstäbe. Auch die Liebe funktioniert nicht als zentraler Maßstab. Gegenüber den Gruppen, die eindeutige Maßstäbe haben, reagiert er von Fall zu Fall. Seine Problemlösung ist an seine Person gebunden, und sie ist eigenwillig.

2. Zur Begründung seiner Weisungen reiht der Apostel Motive aneinander, die den unterschiedlichsten Motivkomplexen christlichen Glaubens entnommen werden: Ekklesiologie, Christologie, Soteriologie, Eschatologie und Pneumatologie. Er versucht oft in den Fragestellungen eine spezifisch ðchristlicheÐ Ebene zu erreichen. Er verwendet jedoch auch Motivkomplexe aus dem nichtchristlichen Bereich wie Natur, Sitte und Staatslehre. Auch spielt in seinen Argumenten die jüdische Tradition eine große Rolle. In der korinthischen Diskussion zum Beispiel können die Argumente derer, die Prostituierte aufsuchen oder die auf die Kopfbedeckung verzichten wollen, sehr gut in paulinischer Theologie begründet sein. Für Paulus sind jedoch in solchen Fällen Prämissen seiner jüdischen Tradition maßgeblich. Er hat das Gesetz verinnerlicht. Sicher lehnt er Teile davon ausdrücklich ab, aber ein Großteil bleibt für ihn weiter gültig. So werden einzelne Prämissen von ihm nachträglich christlich begründet, ohne selbst jedoch als solche begründet zu sein.

3. Man muss unterscheiden zwischen Argumenten, die paulinischer Theologie entsprechen, und argumentationsstrategischen Argumenten. Wesentlich zur Erhebung paulinischer Theologie ist es, den die Argumentation durchziehenden roten Faden zu erkennen.

4. Die Argumente des Apostels sind in unseren Augen oft unlogisch und widersprüchlich. Die Einsicht jedoch, dass Paulus und seine Adressaten nicht weniger als wir von bestimmten Sprach- und Überzeugungssystemen abhängig sind, sollte uns vor einer oberflächlichen Kritik an der Unlogik des Apostels bewahren. Wenn zudem die konkrete Situation berücksichtigt wird, dann erledigen sich bestimmte Vorwürfe von selbst.

5. Paulinische Ethik ist Gemeindeethik, und zwar kommunikationsorientierte Gemeindeethik. In seiner Art zu argumentieren werden Aushandlungsprozesse erkennbar. Zwar betont der Apostel seine Autorität, und er fordert den Gehorsam der Gemeinde ein, zugleich jedoch mahnt er die Gemeinde zu prüfen und zu überlegen. Auch flicht er die Ansichten seiner Adressaten in seine Argumentation ein. Die Aneinanderreihung unterschiedlicher Motive aus den Motivkomplexen bedeutet eine Argumentenkonzentration, die zur Diskussion in der Gemeinde führt. Letztendlich ist für Paulus Ethik eine Frage der Argumentation in der Gemeinde.

6. Die Argumente, die der Apostel anführt, können akzeptiert werden, insofern die Person des Paulus anerkannt ist. Unabhängig von der Gesamtrelation Paulus ­ Gemeinde kann das einzelne Argument nicht recht eingeordnet werden.

Auf überzeugende Weise zeigt F. in dieser Arbeit, wie komplex die Argumentation des Paulus ist. Er verweist selbst darauf, dass er in manchem Punkt Altbekanntes formuliert (246). Mit Recht fügt er jedoch hinzu, dass die von ihm dargestellten Aspekte der Argumentation in exegetischer Literatur nicht immer konsequent berücksichtigt werden. Meiner Ansicht nach hätte manches schärfer herausgestellt werden können. Als Beispiel weise ich auf das Thema Logik hin. Mehrfach sagt F., dass Paulus unlogisch und widersprüchlich argumentiert. Zugleich jedoch warnt er davor, ihm daraus einen Vorwurf zu machen, vielmehr müsse man die Situation und die unterschiedlichen Überzeugungssysteme beachten. Diese Hinweise bleiben jedoch relativ abstrakt. Es ist richtig, dass man in einem Aushandlungsprozess zu einem Konsens kommen kann. Die Geschichte der paulinischen Argumentation ist jedoch auch eine Geschichte von Dissensen, bei denen nicht nur die Frage nach den Prämissen, sondern auch die nach der verwendeten Logik akut wird. Auch schon aus antiker Perspektive konnte man dem Apostel Unlogik und Widersprüchlichkeit vorwerfen. Auch in seiner Zeit gab es Diskussionen über die Kriterien für wahre und falsche Schlüsse. Es hätte zur Klarheit beigetragen, wenn F., statt sich allgemein auf unterschiedliche Situationen und Überzeugungssysteme zu berufen, diesen Punkt aus historischer Perspektive konkret beleuchtet hätte.

Es war ein Ziel von F., die Rolle der Adressaten der paulinischen Briefe stärker in den Blick zu rücken. Leider hat er zu wenig an die Adressaten seines eigenen Buches gedacht. Der Leser muss viel dafür tun, die Hauptlinien des Buches in den Griff zu bekommen. Wenn F. zum Beispiel am Schluss von Kapitel 2 eine Zusammenfassung der Ergebnisse der Exegese gibt, tut er das in 37 Punkten, die weder nach Thema noch nach Relevanz geordnet sind. Anschließend entschuldigt er sich mit dem Argument, dass es in seiner Arbeit nicht um ein Gesamtkonzept gegangen sei, sondern um Details. Sogar im Fazit am Schluss des Buches gelingt es F. nicht, dem Leser die erhoffte Klarheit zu verschaffen. So sagt er, dass Paulus die Argumentation nicht allein rational, sondern auch emotional vorgebe. Es folgt ein aus 76 Wörtern bestehender Satz, der nicht nur in seiner Syntax, sondern auch in seiner Logik beim Leser schwere Probleme verursacht (313). Es ist schade, dass durch diese Art der Präsentation manche der richtigen Einsichten verloren zu gehen drohen.