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Ausgabe:

Mai/2006

Spalte:

510–513

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Eisele, Wilfried

Titel/Untertitel:

Ein unerschütterliches Reich. Die mittelplatonische Umformung des Parusiegedankens im Hebräerbrief

Verlag:

Berlin-New York: de Gruyter 2003. XVIII, 547 S. gr.8° = Beihefte zur Zeitschrift für die neutestamentliche Wissenschaft und die Kunde der älteren Kirche, 116. Lw. Euro 128,00. ISBN 3-11-017595-9.

Rezensent:

Hermut Löhr

Das traditions- und religionsgeschichtliche Problem des Hebräerbriefes ist nach wie vor ungelöst. Ist die einst prominent von Ernst Käsemann vertretene gnostische Deutung auf Grund der Fortschritte in der Gnosis-Forschung selbst obsolet, so haben auch Vorschläge, den Hebr von hellenistisch-jüdischen oder jüdisch-apokalyptischen Vorstellungen her zu erklären, keine ungeteilte Zustimmung gefunden.

Die Arbeit von Wilfried Eisele, eine von Michael Theobald betreute Tübinger theologische Dissertation, geht die Fragestellung vom Thema der Eschatologie her an. Sie fragt genauer nach der Ausprägung und Funktion der Parusieerwartung im Hebr und nimmt damit eine Anregung auf, die Erich Gräßer in einem Aufsatz für die ZNW 1986 gegeben hatte. Mit ihrem Versuch, den Hebr in Beziehung zu mittelplatonischem Denken zu setzen, steht die Monographie im Kontext anderer neuer Untersuchungen zur deuteropaulinischen Literatur, welche religionsgeschichtlich in eine ähnliche Richtung weisen. Auch in der Exegese des Hebr wurde gelegentlich bereits auf den Mittelplatonismus hingewiesen.

Nach einer Einleitung (1­25), die neben Bemerkungen zum Forschungsstand und zur Methode eine Skizze des Horizonts der neutestamentlichen Parusieerwartung bietet, widmet sich der Vf. im ersten Hauptteil der Untersuchung (27­133) einer Analyse einschlägiger Passagen des Hebr. Voran steht ein Referat einiger Vorschläge zur Strukturierung des Textes, die mit der Anzeige von fünf hauptsächlichen »Streitpunkten« etwas aporetisch endet (47 f.). Die weitere Untersuchung zeigt aber deutlich, dass der Vf., wie er bereits eingangs erklärt (32), den Prinzipien und Ergebnissen der Strukturuntersuchungen A. Vanhoyes besonders verpflichtet ist. Es folgen detaillierte Exegesen zu Hebr 1,6; 9,27 f.; 10,25.36­39 sowie 12,25­29.

Unter Verweis auf 2,5 und den nach Vanhoyes Analyse symmetrisch entsprechenden Textabschnitt 12,26 f. wird die in 1,6 zum ersten Mal im Text erwähnte oikoumene als unerschütterliche Himmelswelt interpretiert; der Vers spricht also von der Einführung Christi in den Himmel »im Umfeld seiner Erhöhung«, nicht etwa seiner Inkarnation.

Die in einen Vergleich eingebettete Rede vom zweiten Erscheinen Christi in 9,27 f. lässt genauer nach der zu Grunde liegenden Motivik fragen. Der Vf. findet in V. 28 nicht die Parusieerwartung »in dieser sichtbaren Welt«, sondern die Erscheinung Christi gegenüber dem einzelnen Glaubenden nach dessen Tod. Begründet wird dies mit der Parallelität von Gerichts- und Erscheinungsaussage in V. 27 f. sowie der Tatsache, dass für den Hebr das Gericht »eine ewige und endgültige Größe« (85) sei, die stets im Himmel angesiedelt werde. Solche Argumentation setzt ein hohes, vielleicht zu hohes, Maß an semantischer und logischer Kohärenz und Stringenz für den Quellentext voraus.

Die schon erkennbare Tendenz, die Aussagen des Hebr von sonstiger frühchristlicher Parusieerwartung abzuheben, setzt sich auch in der Analyse von Hebr 10,25 fort. Die semantischen Konnotationen des absoluten »Tages« werden herausgestellt: Gericht und Licht im Gegensatz zu Nacht und Finsternis. Aber: »Damit ist freilich überhaupt nichts darüber gesagt, wie man sich diesen Tag vorzustellen hat, ob als Parusie Christi am Ende der Weltgeschichte oder als den persönlichen Todestag jedes einzelnen Menschen« (90).

In der Analyse von Hebr 10,36­39 widmet sich der Vf. zunächst ausführlich und im Anschluss an Dietrich-Alex Koch der Textgestalt des Habakuk-Zitates, besonders in der Septuaginta. Im Vergleich tritt die Intention der Textgestalt im Hebr deutlich hervor; sie erklärt auch die Zufügung von Jes 26,20: Es geht um die Mahnung zu Ausdauer und Glauben, nicht um die spannungsvolle Erwartung der nahen Parusie. Die in V. 36 angedeutete Heilshoffnung bestehe auch nicht in der Parusie, sondern im Eintritt der Glaubenden ins himmlische Heiligtum.

Anders als die zuvor untersuchten Textpassagen drückt sich Hebr 12,25­29 nach Ansicht des Vf.s hinsichtlich der Positionierung der beschriebenen Ereignisse in Raum und Zeit deutlich aus. Der Text operiert mit der Unterscheidung zweier »ontologisch gegensätzlich« (124) definierter Bereiche: Dem Erschütterlichen stehe das Unerschütterliche gegenüber, dem Ungeschaffenen (ein Begriff, den Hebr allerdings vermeidet!) das Geschaffene, dem Irdischen das Himmlische. Das sind nicht bloß gleichsam kosmisch-geographische Ortsbestimmungen, sondern gleichzeitig Qualifikationen von Wirklichkeiten, die soteriologisch entscheidend sind: »Aus soteriologischer Perspektive hängt das Heil des Menschen dementsprechend davon ab, welchem der beiden Wirklichkeitsbereiche er zugeordnet ist« (125). Ist damit das Fundament der Ontologie des Hebr erreicht, in welcher als Vermittler zwischen Transzendenz und Immanenz nur Jesus Christus wirken kann, so ergibt sich fast zwangsläufig, dass die Erwartung von Parusie und Weltende sowie die Frage nach dem »Wann?« dieser Ereignisse für die Theologie des Hebr nicht prägend sein können.

Damit ist ein wesentlicher Aspekt der in Hebr zur Anwendung kommenden Wertigkeiten richtig erfasst. Freilich wirkt die Interpretation manchmal etwas zu sehr interessiert an dem Ziel, den Parusiegedanken zu eskamotieren (so zu 9,28) oder dem angedeuteten endzeitlichen Geschehen seine gleichsam »apokalyptische« Dramatik zu nehmen (vgl. S. 133 zu 12,27­29). Vor allem aber vermisst man die entscheidende Gegenprobe zur vorgebrachten These, nämlich eine Interpretation von Hebr 3,7­4,13, dem Text, der für Otfried Hofius bekanntlich der Ausgangspunkt seiner apokalyptischen Deutung des Hebr war.

Ein großer zweiter Teil der Darstellung (135­368) widmet sich der Rekonstruktion eines möglichen motiv- und religionsgeschichtlichen Bezugsfeldes des Hebr, dem Mittelplatonismus. Nachdem der Vf. die Problematik der Bezeichnung »Mittelplatonismus« durch einen Einblick in die Forschung aufgezeigt und als grundlegendes Kennzeichen die Wahrnehmung eines unüberwindlichen qualitativen Unterschieds zwischen Transzendenz und Immanenz, zwischen Sein und Werden bzw. Vergehen benannt hat, stellt er als seinen Zugang die von ihm so genannte »Zeitgeistesgeschichte« heraus, die praktisch die vorrangige Berücksichtigung von Quellen bedeutet, die dem Hebr (den der Vf. auf die Zeit um das Jahr 85 n. Chr. datiert) zeitlich nahe stehen, also etwa zwischen 50 und 100 n. Chr. verfasst wurden (doxographische Nachrichten aus späterer Zeit werden von der Analyse ausgeschlossen).

Im Hinblick auf »mittelplatonische Verdachtsmomente« werden daraufhin Philo, Plutarch, Seneca und Alkinoos ausführlich untersucht.

Eine Auswahl aus dem Schrifttum ist nur in Bezug auf die beiden zuerst genannten Autoren erforderlich, denn Mittelplatonisches ist bei Seneca, hierin folgt der Vf. den Einsichten Willy Theilers, nur in den epistulae 58 und 65 ad Lucilium zu erwarten. Von Alkinoos ist nur eine Schrift, der Didaskalikos, überliefert. Aus Philos reichem ‘uvre wählt der Vf. unter verschiedenen Gesichtspunkten aus: Passagen aus Praem, die eine Art futurischer Eschatologie erkennen lassen, wichtige Texte zur Schöpfungsvorstellung (Opif; Aet), Aussagen zu Engeln und Dämonen (Somn I; Gig; Plant) und als »Querschnitt philonischen Denkens« (157) ein Ausschnitt aus Conf. Ausgangspunkt für die Untersuchung Plutarchs bildet seine Schrift »De E apud Delphos«; hinzu treten die drei weiteren sog. pythischen Dialoge »De defectu oraculorum«, »De genio Socratis« und »De facie in orbe lunae«, die Schrift über Isis und Osiris, Plutarchs Interpretation des Timaios und Ausschnitte aus den »Platonicae Quaestiones«.

Es werden kenntnisreiche, detaillierte und einfühlsame Textexegesen zu einer ganzen Reihe von Texten im Kontext des jeweiligen Gesamtwerkes geboten, die einen tiefen Einblick in das platonische Denken im 1. Jh. vermitteln. Die Arbeit geht hier weit über das hinaus, was man in und von einer neutestamentlichen Dissertation erwarten darf. Aber nur auf diesem Wege ist solider traditions- und religionsgeschichtlicher Grund zu erreichen. Zur leichteren Orientierung bietet der Anhang (429­502) die relevanten Quellentexte in einer eigenen Übersetzung des Vf.s. Dabei ergeben sich bei aller Differenzierung im Einzelnen (etwa in Hinsicht auf die Unterscheidung Gottes vom kosmos noëtos bzw. den Ideen) motivliche Berührungen mit Hebr vor allem für Philo, Plutarch und Alkinoos, während der Blick auf Seneca unergiebiger bleibt. Die Vermutung mittelplatonischen Denkens in Hebr wird so zur Gewissheit.

Im dritten Teil der Monographie (369­428) wird der Bezug des Hebr auf mittelplatonisches Denken konkretisiert. Zu Recht weist der Vf. auf die Mängel bisheriger Untersuchungen zum Thema hin, die durch ihre ganz selektive Bezugnahme auf Vergleichstexte den Hebr in verzerrender Vergrößerung gegenüber dem angenommenen gedanklichen Umfeld erscheinen ließen. Ob aber historisch der Bezug von Hebr zu Philo nicht doch die größte Wahrscheinlichkeit für sich hat?

Ein erneuter Durchgang durch den Hebr »im Licht der mittelplatonischen Quellen« (375) bleibt nicht auf das Thema der Parusie beschränkt, sondern würdigt die Eschatologie des frühchristlichen Textes in umfassenderer Weise (wiederum aber ohne Bezug auf Kapitel 3 f.). Hier finden sich neben etlichen zutreffenden und bedenkenswerten Einsichten auch Deutungen, denen man nicht folgen mag.

So wird der apokalyptische Ursprung des Urbild-Abbild-Denkens in Hebr 8 f. zwar nicht geleugnet (377), aber die etwa im (vom Vf. nicht benutzten) Hebr-Kommentar von Craig R. Koester von 2001 deutlich herausgestellten terminologischen Differenzen zwischen Hebr und platonischem Denken werden überspielt. Hier wäre die vorgebrachte These von der »mittelplatonischen Umformung« im Detail nachzuweisen. Das Problem, dass der Hebr nirgends von den Ideen, vom kosmos noëtos oder auch vom Verstand (nous) spricht, sieht der Vf. (391); er versucht diesem Mangel aber durch eine forcierte Interpretation von Hebr 11,3 (es wird das Verb noein gebraucht) abzuhelfen.

Die Interpretation gerät zu einseitig, wenn von »ontologisch fundierter Soteriologie« (394) gesprochen und dabei das für den Hebr so wesentliche, keinesfalls bloß traditionelle, Motivfeld von Sünden und Sühne durchs Blut zwar nicht übersehen wird, aber ganz in den Hintergrund tritt. Gleiches gilt für das im Hebr doch nachweisbare Denken in (heils-)geschichtlichen Dimensionen und die Kategorie der Verheißung, wenn auch der fundamentale Unterschied zwischen Hebr und den analysierten mittelplatonischen Quellen in Hinsicht auf die Zeitvorstellung klar benannt wird (421). Wenn der Vf. als Zusammenfassung der eschatologischen Erwartung des Hebr feststellt: »Die Glaubenden werden also nicht dadurch endgültig gerettet, daß Gott ein letztes Mal in die Geschichte eingreift, sondern dadurch, daß sie in eine fundamental andere ontologische Wirklichkeit überwechseln«, ist damit nicht nur theologisch Bedenkliches ausgesprochen, sondern zugleich auch als Gegensatz formuliert, was der auctor ad Hebraeos zusammendenken konnte. Das Verhältnis von Theo-Logie (bzw. Theozentrik) und Ontologie im Hebr müsste noch genauer in den Blick genommen werden.

Auch wenn damit die Studie der Gefahr neuer Einseitigkeiten der Interpretation und der religionsgeschichtlichen Einordnung von Hebr nicht immer entgeht, stellt sie einen sehr wertvollen und anregenden Beitrag zur Exegese des bedeutenden frühchristlichen Textes dar. Sie erfasst und dokumentiert einen zweifellos wesentlichen Aspekt der Gedankenwelt des Hebr. Die Klarheit der Formulierung und die vorherrschende Sorgfalt der Analysen und Argumentationen sind eine Freude. Während eine reiche Bibliographie sowie Stellen- und Autorenregister beigegeben sind, wird auf Sach- und griechisches Wortregister leider verzichtet.