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Ausgabe:

April/1998

Spalte:

380 f

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Boismard, M.-É.

Titel/Untertitel:

L’Évangile de l’Enfance (Luc 1-2) selon le Proto-Luc.

Verlag:

Paris: Gabalda 1997. 280 S. gr.8° = Études Bibliques, N.S. 35. ISBN 2-85021-097-8.

Rezensent:

Wolfgang Wiefel

Der französische Dominikanertheologe M.-É. Boismard gehört zu den letzten Vertretern einer Exegetengeneration, die ein noch nahezu unbegrenztes Vertrauen in die Möglichkeiten der klassischen Literarkritik hat ­ freilich mit einer für ihn persönlich charakteristischen Variante der Rückversicherung seiner Hypothesen durch eigenwilligen Rückgriff auf Textgeschichte und Patristik. Seine vom Rez. bereits vorgestellte Rekonstruktion eines "präjohanneischen Evangeliums" (vgl. ThLZ 120, 1995, 518-520; 122, 1997, 563-564) legt von dieser Methode eindrucksvoll Zeugnis ab. In seiner jüngsten Arbeit wendet er sich einem Gegenstand zu, der ihn gleichfalls seit langem beschäftigt: der Frage eines "Protolukas" (vgl. RevBibl 69, 1962, 185-211).

Es ist naheliegend, daß er sein Hauptaugenmerk dabei zuerst auf die Kindheitsgeschichte bei Lukas richtet, wie es vor ihm von einer methodisch verwandten Position aus Paul Winter und Joachim Jeremias bereits getan haben. Die Behandlung von Lk 1,5-2,52 erscheint ihm deshalb besonders ergiebig, weil der von ihm postulierte Protolukas sich in diesem Komplex als Zwischenstadium darstellt, zwischen einer aus Täuferkreisen stammenden Quelle einerseits und dem vorliegenden Evangelium andererseits.

Daß in die lukanische Kindheitsgeschichte, in den Partien, wo sie von Johannes dem Täufer erzählt, täuferische Tradition eingegangen ist, wurde schon von M. Dibelius konstatiert. Die Verbindung dieser Einsicht mit der fast nur im außerdeutschen (vor allem im angelsächsischen Bereich) verbreiteten Protolukashypothese ist dagegen nur selten vollzogen worden. Bei B. begegnet sie nun in der Form, daß dem Autor des Protolukas eine durchgestaltete Kindheitsgeschichte des Johannes aus Kreisen seiner Anhänger vorlag, die von der typologischen Gegenüberstellung zu Hanna/Samuel bestimmt war. Diese sei von ihm zu einer Doppelerzählung umgeformt worden, in der die Überlegenheit Jesu gegenüber dem Täufer zur Darstellung kommen sollte. Verweisen wir auf die wichtigsten Stücke! Der Engelerscheinung im Tempel vor Zacharias 1,11-13 entspricht die vor den Hirten auf dem Felde 2,8-11; die Ankündigung an Maria 1,26-38 sei als Gegenstück zu der an Zacharias 1,12-23 dargeboten, wobei der Zweifel des Zacharias dem Glauben der Maria entgegengestellt wird. Die Nachrichten über Geburt (2,6-7/1,57), Beschneidung (2,21/1,59) und Heranwachsen (2,40/1,80) seien analog gestaltet. Der Kern der später ausgeformten Begegnung der beiden Mütter stelle ein in täuferischer Tradition erzähltes Bestätigungswunder für den Geistbesitz 1,40-41 dar.

Die durchgängige Christianisierung sei erst auf der folgenden, Luk II genannten Stufe unternommen. Hier erhalten Verkündigungs- und Weihnachtsgeschichte durch modifizierende Eintragungen ihr christologisches Profil; hier wird die Begegnungszene in mariologischer Tendenz erweitert und das Magnifikat zum Marienhymnus; hier werden die Beziehungen zu Gesetz und Tempel verstärkt und in allen Passagen die Darstellung durch Präzision verdeutlicht.

Bis dahin mag mancher, der der form- bzw. traditionsgeschichtlichen Methode kritisch gegenüber steht, dem Vf. folgen, und allenfalls Vorbehalte anmelden, die gegenüber literarischer Analytik überhaupt, zumal in den Evangelien, gelten. Das eigentliche Problem liegt (wie beim "präjohanneischen Evangelium") in der Heranziehung einer nachkanonischen Überlieferungsgeschichte. Was dort die Homilien des Johannes Chrysostomos leisten sollten, fällt hier einer Reihe von Varianten zu, in denen sich Spuren älterer Textformen erhalten haben könnten, an welchen gleichsam die Archäologie des Textes verfolgt wird, Grabungen, die diesmal von den Kirchenvätern und einer mittelalterlichen Evangelienharmonie aus angesetzt werden. Eine dominante Stellung nimmt dabei die in der Pepys Library des Magdalene College zu Cambridge erhaltene Evangelienharmonie aus dem englischen Hochmittelalter (ed. 1922 von M. Goates). Dieser Text, der durch mehrfache Übersetzungen über die lateinische auf eine griechische Gestalt rückführbar erscheint, sei mit seinen zahlreichen Lücken, Abweichungen und Umstellungen als Wegweiser zum postulierten Protolukas (in der Kindheitsgeschichte) zu gebrauchen (100-243).

Zwei Exkurse, die mit den übrigen Ausführungen nur locker verbunden sind, schließen das Werk ab. Über das Geburtsjahr Jesu (248-263), wo in eigenwilliger Interpretation des Augustusediktes für das späte Datum 3 p. Chr. plädiert wird und über die jungfräuliche Geburt (263-273), in der die für (Proto-)Lukas bestehende Schwierigkeit im Verhältnis von Geistverleihung bei der Taufe und geistgewirkter Lebensentstehung die Rede ist.

Hier wie in den analytischen Partien wird auch der im übrigen skeptisch gestimmte Leser wertvolle Anregungen erhalten und sich von dem greisen Gelehrten mit respektvollem Dank verabschieden.