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Ausgabe:

Mai/2006

Spalte:

498–500

Kategorie:

Judaistik

Autor/Hrsg.:

Ehrlich, Uri

Titel/Untertitel:

The Nonverbal Language of Prayer. A New Approach to Jewish Liturgy

Verlag:

Transl. by D. Ordan. Tübingen: Mohr Siebeck 2004. XII, 303 S. gr.8° = Texts and Studies in Ancient Judaism, 105. Lw. Euro 89,00. ISBN 3-16-148150-X.

Rezensent:

Karl-Heinrich Ostmeyer

Kommunikation lässt sich nicht reduzieren auf das Mitteilen textlicher oder verbaler Inhalte. Die Form der Mitteilung ist selbst integraler Bestandteil der Botschaft und ihre Berücksichtigung notwendig, um das Geschehen zwischen den Kommunizierenden zu verstehen. Uri Ehrlich nimmt diese Grundeinsicht der Kommunikationswissenschaft ernst und wendet sie an auf das zentrale jüdische Gebet, die Amidah bzw. Tefillah. Nicht deren inhaltliche, sondern die gebetspraktischen Aspekte stellt E. ins Zentrum seiner Analyse.Bei der zu besprechenden Studie handelt es sich um die erweiterte, in Jerusalem 1999 auf Hebräisch erschienene Dissertation des in Beer Sheva lehrenden E. Er gliedert seine Untersuchung in 13 Kapitel. Die ersten neun thematisieren je für sich die wesentlichen nicht-inhaltlichen Elemente der Amidah. Im verbleibenden Drittel kommen diese Aspekte als System in den Blick, und es wird gefragt nach den konstituierenden Quellen (199­217), nach dem sich in dem System spiegelnden Verständnis der Gottesbeziehung (218­236) sowie nach der Lokalisierung Gottes im Akt des Betens (237­246). Das abschließende 13. Kapitel (247­254) zieht ein Gesamtfazit und bietet einen Ausblick auf das, was zukünftig auf dem eröffneten Weg zu leisten ist.

E.s Untersuchung basiert auf einer breiten Analyse vor allem der rabbinischen Schriften, nimmt als Quellen für jüdische Gebetsgestik jedoch auch das Neue Testament mit in den Blick. Die im ersten Teil separat betrachteten Merkmale der Amidah auf einen Begriff zu bringen, fällt nicht leicht. Mit Recht gibt E. seiner Studie den Titel »The Nonverbal Language of Prayer«, denn der mehrfach gewählte Terminus »gestures« trifft zwar die zu Beginn analysierte aufrechte Haltung des Beters (9­28) und die komplexen mit bestimmten Amidah-Bitten verknüpften Verbeugungsgesten (49­63). Auch die Ausrichtung des Gesichtes (64­98) und die davon unterschiedene Blickrichtung (99­109) sowie der Akt der Gebetsbeendigung (120­134) lassen sich im weitesten Sinne als Gesten auffassen. Nicht mehr in diese Kategorie im eigentlichen Sinne fallen dagegen Kleidung (135­156), Schuhe (157­173) und Stimmlage (174­198). Was die behandelten Gebetselemente verbindet, ist, dass sie unabhängig vom Gebetsinhalt Ausdruck der Beziehung sind, in der sich der Betende zu Gott sieht. Diese Beziehung des Beters der Amidah ist geprägt von Ehrfurcht auf der einen Seite, der z. B. eine nachlässige Kleidung nicht angemessen wäre, und Liebe auf der anderen (231­236).

Als ein Beispiel für Ursprung und Bedeutungshorizont der Amidah-Gestik sei die Handhaltung (110­119) angeführt. Obwohl von einigen Rabbinen praktiziert, hat sich kein spezifischer Handgestus durchgesetzt: weder ausgestreckte Hände noch Händefalten. Ineinander gelegte Hände hätten, so E., in der Zeit der Herausbildung des Gestensystems ein Sklave-Herr-Verhältnis zum Ausdruck gebracht. Ein solches Verständnis der Beziehung zwischen Beter und Gott hätte jedoch im Widerspruch zum Arsenal an Haltungen und Gesten im Ganzen gestanden, denn bei aller Vielfalt stimmten die nonverbalen Gebetselemente darin überein, dass sich in ihnen das Verhältnis des Beters als das eines Kindes zu seinen Eltern oder das eines Schülers zu seinem Lehrer/Rabbi manifestiert (218­236).

Für jedes der genannten Gebetselemente zeichnet E. differenziert die historisch und geographisch bedingten Entwicklungen nach. Auch wenn die Basis der Gestik insgesamt bereits bei den Tannaiten grundgelegt wurde, gab es auch in amoräischer Zeit noch wichtige Beiträge, die die bis heute übliche Praxis mit geformt haben (195­197). E. analysiert dabei jeweils die zum Teil gegenläufigen Entwicklungen im palästinischen und im babylonischen Bereich.

Im Anschluss an die Darstellung der Einzelelemente widmet sich E. der Frage nach der Herkunft der Gebetsgestik (199­217). E. identifiziert u. a. den Tempelkult (203­207), den himmlischen Gottesdienst (207­211) und die jeweils gültigen allgemeinen Umgangsformen (122.215) als Traditionsspender. Auch die Bräuche der Nachbarreligionen werden auf ihre Relevanz hin untersucht, jedoch als kaum prägend erkannt (214­216). Die Analyse E.s zeigt, dass sich das Gestensystem in einem häufig nicht geradlinigen Prozess von Adaption und Abgrenzung herausbildete.

Zum Beispiel entspricht die aufrechte Gebetshaltung dem Tempelgebet; abweichend vom barfuß gesprochenen Tempelgebet jedoch wird die Amidah seit amoräischer Zeit allgemein in Schuhen gesprochen; durchgesetzt hat sich in dieser Frage die babylonische gegenüber der palästinischen Tradition (206).

Als wichtigste formierende Quelle der nonverbalen Elemente der Amidah macht E. den zwischenmenschlichen Umgang aus. Hier allein lässt sich an keiner Stelle eine Abgrenzung erkennen (216 f.). Das heißt, die einzelnen Gesten bringen in der Kommunikation mit Gott dasselbe zum Ausdruck wie in der Beziehung zwischen Menschen (218­221). Neben zahlreichen Übernahmen und Parallelen lassen sich auch einige allein der Amidah eignende innovative Elemente benennen. Dazu zählen z. B. die Verbeugungen (195) und die gedämpfte Stimmlage (188­190) beim Beten.

Abschließend weist E. darauf hin, dass er nur einen Bereich der Amidah, wenngleich einen konstitutiven, analysiert hat. In weiteren Untersuchungen seien z. B. die Gestik, der Inhalt der Amidah und die Umwelt des Beters umfassend zueinander in Beziehung zu setzen (254).

Über das von E. selbst Angesprochene hinaus bleibt noch einiges zu tun. Z. B. widmet sich E. in der Hauptsache dem Beten der Männer. Die Frage nach den Spezifika nonverbalen Betens von (jüdischen) Frauen und nach der Beziehung zu Gott, die darin ihren Ausdruck findet, verdient eine eigene ähnlich detaillierte Untersuchung.

Dass die Beschränkung auf die Amidah sinnvoll und geboten ist, belegen die Ergebnisse der Studie auf eindrucksvolle Weise. Das Beten der Amidah beschreibt E. als singuläre Form der Kommunikation des Betenden mit Gott und seines sich darin ausdrückenden Verhältnisses zu Gott. Augenfällig wird die Sonderrolle der Amidah im Vergleich mit der Rezitation des Schema Israel, dessen Adressat nicht primär Gott, sondern der Beter selbst ist (223­225). Entsprechend sind für das Schema die Anforderungen an das Äußere und die Haltung des Beters stark gelockert (11.138).

E. weist nach, dass die nonverbalen Elemente konstitutive Bestandteile der Amidah sind, und hat damit für ein ganzheitliches Verständnis des zentralen jüdischen Gebetes einen entscheidenden Beitrag geleistet. Zugleich wird deutlich, dass die verschiedenen Formen der Hinwendung zu Gott ­ sei es in der Amidah, in den Berakhot oder im Schema Israel etc. ­ für jeweils spezifische Kommunikationsakte stehen, in denen sich in je eigener Weise die Gottes- und Selbstauffassungen der Betenden spiegeln. Im Anschluss an die Untersuchung E.s lässt sich nicht mehr undifferenziert von dem jüdischen Beten sprechen, und ­ diese Folgerung drängt sich auf ­ von dem christlichen Beten ebenso wenig.

Ausführliche Register ermöglichen es, das Buch für konkrete Fragestellungen heranzuziehen. Hilfreich wäre gewesen, die verschiedenen strukturierenden Zwischenüberschriften in das numerische Gliederungssystem einzuarbeiten und in das Inhaltsverzeichnis aufzunehmen. Neben E. ist Dena Ordan als Übersetzerin, den Herausgebern der Reihe TSAJ und allen, die Anteil daran tragen, diese Studie einem breiteren Publikum zugänglich zu machen, Dank zu zollen.

E.s Untersuchung ist für die weitere jüdische und ebenso für die christliche Gebetsforschung paradigmatisch und bietet methodisch, wie es im Klappentext heißt, »a groundbreaking examination«.