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Ausgabe:

Mai/2006

Spalte:

488 f

Kategorie:

Allgemeines

Autor/Hrsg.:

Lienemann, Wolfgang:

Titel/Untertitel:

»Was ist der Mensch?«Theologische Anthropologie im interdisziplinären Kontext. Wolfgang Lienemann zum 60. Geburtstag.

Verlag:

Hrsg. v. M. Graf, F. Mathwig u. M. Zeindler. Stuttgart: Kohlhammer 2004. 459 S. m. 1 Porträt. gr.8° = Forum Systematik, 22. Kart. Euro 40,00. ISBN 3-17-018522-5.

Rezensent:

Harald Jung

Eine der charakteristischen Tendenzen der gegenwärtigen Ethik ist die erneute Zuwendung zu den anthropologischen Ressourcen der ethischen Reflexion. Auch wenn diese Zuwendung von nicht wenigen Autoren (z. B. L. Siep, E. Herms) in Richtung auf ein Wirklichkeitsverständnis insgesamt erweitert wird, bleibt doch die anthropologische Fragestellung ein besonders fruchtbares und vielfältiges Arbeitsfeld. In der konkreten Arbeit, gerade auch im Gespräch mit den »Life Sciences«, wird immer wieder deutlich, was die Herausgeber in ihrer Einleitung festhalten: »Bei der Suche nach einer Antwort darauf, was wir tun sollen, stoßen wir unvermeidbar auf die Frage, was wir sind« (11).

Es ist deshalb eine gute Wahl, dass die dem Berner Ethiker Wolfgang Lienemann zum seinem 60. Geburtstag zugedachte, 2004 bei Kohlhammer erschienene Festschrift anthropologischen Fragen gewidmet ist. Der Sammelband mit einem Geleitwort von Wolfgang Huber vereinigt unter dem weiten Titel »Was ist der Mensch?« ein vielfarbiges Spektrum von insgesamt 24 Beiträgen zu unterschiedlichen ethisch-anthropologischen Fragestellungen. Die drei Herausgeber, Lienemann über ihre Arbeit am Berner systematisch-theologischen Institut verbunden, gliedern die vielfältigen Texte im interdisziplinären Gespräch nach dem einleitenden Beitrag von Frank Mathwig in die fünf Bereiche interkulturelle, historische, philosophische, theologische sowie ethische und praktische Perspektiven. Der Bogen ist weit gespannt. Er umfasst ebenso eine literaturwissenschaftliche Studie des Germanisten Hubert Herkommer über Wolfram von Eschenbachs Parzival als »zerrissenen Helden« und das Motiv der Heilung seines Zweifelns und seiner Gespaltenheit in der Einkehr und dem seelsorglichen Gespräch in der Einsiedelei Trevrizents wie eine Predigt von Christine Janowski über das Auge als das Licht des Leibes (Mt 5,22 ff.) und die Verwandlung des Menschen durch seinen Blick.

Der Bogen reicht von Annemarie Piepers philosophischer Untersuchung über das Menschenbild der Existenzphilosophie mit besonderem Blick auf Kierkegaard und Nietzsche und deren Nachwirkung bis zu der aus reicher persönlicher Erfahrung schöpfenden Skizze des Mediziners und Chefarztes einer geriatrischen Klinik, Charles Chappuis, über den Menschen im Alter. Er umfasst außerdem etwa einen Beitrag von Konrad Raiser, der über theologische Anthropologie in der ökumenischen Diskussion in der Arbeit des ÖRK in Genf berichtet, und einen Aufsatz von Christian Link über das Menschenbild Calvins. Anhand von Texten aus der Institutio, dem Genesiskommentar und mehreren Predigten Calvins untersucht Link dessen Verständnis von imago Dei und arbeitet besonders Calvins teleologische Akzentuierung heraus (169 f.). In der Diskussion um die Auslegung der spannungsreichen, ja widerstreitenden Äußerungen Calvins sieht er den Schlüssel zu ihrem Verständnis mit Blick auf die Abgrenzungen Calvins und seine Betonung der Zielbezogenheit des Menschen (Institutio I,15,3; I,15,4) in der Bestimmung und dem Auftrag des Menschen, der in rechter Ausrichtung (rectitudo), in sanitas und integritas Gott widerspiegeln soll. Calvins konträre Aussagen wären demnach vom »wozu« der göttlichen Berufung des Menschen her zu verstehen, ohne die Spannungen seiner Äußerungen damit ganz auflösen zu wollen.

Für eine Wiederentdeckung der Anthropologie Karl Barths in seiner Kirchlichen Dogmatik plädiert Matthias Zeindler in seinem engagierten Beitrag. Ein weiterer Höhepunkt ist der Aufsatz von Dietmar Mieth. Er setzt sich unter dem Titel »Anthropologie und Ethik« mit dem für die »autonome Moral« seines Lehrers Alfons Auer charakteristischen Dreischritt von humanwissenschaftlicher Grundlegung, philosophisch-anthropologischer Integrierung und »autonom« aus ihr gewonnener ethischer Normierung angesichts anhaltender philosophisch-anthropologischer Kontroversen auseinander und bringt sie unter anderem mit Positionen der Tübinger Schule um J. S. Drey ins Gespräch. Johannes Fischer plädiert im Gegenüber zum Theologie- bzw. Ethikverständnis von Wilfried Härle und Eilert Herms und gegen deren nicht-perspektivische wissenschaftliche Theologie für eine Theologie aus der Perspektive des Glaubens. Ihr sollen christlicher Glaube und christliches Ethos allein Gegenstand sein, dem sie sich im Horizont einer säkularen Kultur widmen soll, »etsi Deus non daretur« (344). Nicht recht deutlich wird bei seinem Ansatz allerdings, inwiefern und von woher es ihr dabei gelingen kann, ihrer orientierenden Absicht in ausdrücklich vorgenommener Abgrenzung zu den Religionswissenschaften (344) gerecht zu werden.

Insgesamt ist es mit der vorliegenden Festschrift gelungen, einen vielseitigen und anregenden Band zusammenzustellen, der zur weiteren Diskussion einlädt und für den an anthropologischen Fragen Interessierten in hohem Maße lohnend ist.