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Ausgabe:

April/2006

Spalte:

363–365

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Lessing, R. Reed

Titel/Untertitel:

Interpreting Discontinuity. Isaiah¹s Tyre Oracle.

Verlag:

Winona Lake: Eisenbrauns 2004. X, 313 S. gr.8°. Geb. US$ 37,50. ISBN 1-57506-800-1.

Rezensent:

Peter Höffken

Bei dem anzuzeigenden Buch handelt es sich um die Dissertation von Lessing. Sie wurde am Concordia Seminary, St. Louis unter dem Advisor P. Raabe geschrieben bzw. 2001 verteidigt. Ihr Interesse ist es, die methodischen Ansätze der Redaktionskritik und des sog. »Rhetorical Criticism« miteinander vergleichend zu analysieren. Dabei ist das Tyros-Kapitel in der Völkerworte-Sammlung in Jes 23 das exegetische Testfeld. Das Unternehmen geschieht in zehn Kapiteln, wobei ein 11. Kapitel die Schlussfolgerungen zieht. Hierbei ist das im Haupttitel des Werkes angezeigte Problem ­ wie wird jeweils literarische Diskontinuität (also: Brüche, Wiederholungen, vor allem auch Stil- und Genrewechsel) interpretiert, bzw. was ist die adäquate Weise, diese Diskontinuität zu interpretieren ­ der Leitfaden, an dem sich die Darstellung orientiert.

Ich nehme das Ergebnis vorweg: Die Darstellung läuft darauf hinaus, dass die Rhetorische Kritik die Einheitlichkeit des Textes als einer satirischen Stadtklage mit Vorhersagecharakter voll wahren kann (208) und daher alle weitergehenden Operationen unnötig werden. Dieses Textstück aus dem Buch Jes sei in der Situation von 701 v. Ch. durch Jesaja am Hofe Jerusalems vorgetragen worden (dazu vor allem die Überlegungen 193­195), um politische Entscheidungen zu kanalisieren oder auch nur zu begleiten. Ausschlaggebend für diese geschichtliche Zuordnung sind die geographischen Namen in Jes 23 sowie die Interpretation der geschichtlichen Bezüge, die den Vf. auf Interaktionen am Ende des 8. Jh.s stoßen lassen (Kapitel 7). Demgegenüber erweisen sich redaktionsgeschichtliche Annahmen als unnötige und hochspekulative Vermutungswissenschaft.

Damit zeigt sich, dass sich die Waage im Gespräch der beiden Kritiken zu Gunsten der Rhetorischen Kritik gesenkt hat und die Redaktionskritik zu leicht befunden wurde.

Der Aufbau des Buches trägt diesem vergleichenden Interesse an den beiden Methoden der Auslegung Rechnung, wobei sich der Vf. bemüht, beide miteinander ins Gespräch zu bringen. Nach einer problemorientierten Einleitung (Kapitel 1) folgt ein zweites Kapitel, das eine Entfaltung der Prinzipien von Redaktionskritik auf dem Hintergrund der Formgeschichte beinhaltet. Ein drittes Kapitel stellt die redaktionsbezogenen Lesestrategien bei O. Kaiser, H. Wildberger und M. Sweeney dar, deren Kommentare Kapitel 4 anschließend zur Konkretisierung heranzieht. Ein Exkurs zieht hier noch J. Vermeylen heran (87 f.), und zum problematischen V. 13 werden noch mehr Stimmen aus der neueren Exegese aufgeboten (94 ff.). Die kompositionsbezogenen Befunde bei den drei bzw. vier Autoren werden dabei in handlichen Schemata erfasst (vgl. Kaiser, 73 f., Wildberger, 85 f., Vermeylen, 88 f., Sweeney, 93 f.). Mit Kapitel 5 beginnt die Darstellung der Rhetorischen Kritik, einsetzend mit historischen Daten. Eine Übersetzung mit Kommentar auf rhetorisch-kritischer Basis (Kapitel 6) setzt fort und wird in Kapitel 7 »rhetorisch-historisch« ausgearbeitet hin auf die genannte Situierung im Jahre 701. Mit dieser Wertung der historischen Dimension unterscheidet sich der Vf. durchaus positiv von anderen Versuchen rhetorischer Analyse, die ohne solche Dimensionen auszukommen meinen. Kapitel 8 versucht, Jes 23 als satirischen Text mit Zukunftsbedeutung zu erarbeiten, und Kapitel 9 stellt die Rhetorik im Text (Struktur, Bewegungen, Strategie und Technik) dar. Mit Kapitel 10 wird eine zusammenfassende Diskussion beider Ansätze, auch in Hinsicht auf mögliche Gemeinsamkeiten, unternommen. Kapitel 11 fasst zusammen, und eine ausführlichere Bibliographie schließt das Buch ab.

Der Vf. hat zweifellos Recht darin, dass er vor einer unbekümmerten Anwendung von textkritischen und anderen Eingriffen Zurückhaltung bewahrt ­ aber wer tut das eigentlich heute nicht?! Auf der anderen Seite muss ich sagen, dass der von ihm angenommene Text, für einen mündlichen Vortrag berechnet, doch an verschiedenen Stellen für jeden judäischen Hörer um 701 schlicht (sprachlich wie sachlich, z. B. in V. 13) unverständlich gewesen sein muss. Ein Text wie V. 13 dürfte mündlich nicht möglich, sondern nur für wiederholtes literarisches Meditieren verfasst worden sein. Auch die Auflistung dessen, was für die rhetorische Analyse wichtige Kriterien abgibt, scheint mir problematisch. Um nur ein Beispiel (aus sieben Kategorien, 242) zu geben: Auch ein Literarkritiker oder Redaktionsgeschichtler kann (zumindest heute) nicht mehr bestreiten, dass ein »original oracle might be long«. Aber das heißt eigentlich nur, dass es möglicherweise so ist. Ob man diese Annahme übernehmen kann und gar muss, heißt es noch nicht.

Kritisch ist zu sagen: Das entwickelte Bild von Redaktionsgeschichte bleibt unzureichend. Wie die Ausführungen zu Kapitel 23 zeigen, wird kompositionskritisch verfahren, und die Außenbezüge der Texte/Textstraten des Kapitels auf das Buchganze werden ausgeblendet. Es wäre dabei auch möglich, die Verwendung von Jes 23 als für redaktionskritische Arbeit exemplarisches Kapitel zu problematisieren. Bei O. Kaiser bleibt durchaus offen, ob Jes 23 nicht erst sekundär ins Buch Jes eingefügt wurde; nur V. 17 f. wird deutlicher mit buchredaktionellen Fragen korreliert (ATD 18, 1973, 139), wobei freilich weit über das Buch Jes hinausgegangen wird. H. Wildberger verfährt etwas anders (BK X/3, 1982): Vermutungsweise will er V. 15 f. einer Gerichtsrezension, mit deutlicher Klarheit V. 17 f. einer Heilsrezension zuordnen. D. h., alle drei genannten Autoren beziehen redaktionskritische Überlegungen nur auf das Ende des Kapitels (was andere Autoren ähnlich tun). Beim Vf. gewinnt man den Eindruck, dass die Redaktionsgeschichte wesentlich Literarkritik als »Compositional History« ist. ­ Beachtet man die Formulierung der Sinndimension der rhetorischen Analyse zu Jes 23 mit den Augen des Vf.s, so fällt auf, dass diese sich auf die Verse 1­14 bezieht und 15­18 ausblendet: »The speech is designed to persuade the Judahite court not to emulate the pride of Tyre in the latter¹s rebellion against Assyria« (240). D. h., auch die rhetorische Analyse kann (oder gar muss hier) auf den gesamten Text und die Annahme einer kohärenten Botschaft verzichten. Auch der ergänzende Gedanke, dass die Einheit von Jes 23 nicht nur situativ, sondern zudem sachlich (dem göttlichen opus alienum entsprechen V. 1­4, dem opus proprium V. 15­18, ebenfalls 240) begründet sei, muss wohl nicht zufällig mit Kategorien arbeiten, die im Textduktus von 23 nicht, wohl aber im Buche Jes anderwärts angelegt sind. Das dürfte negativ zeigen, dass zumindest die Zuweisung von V. 15­18 zu einem späteren Text- und zugleich Buchstadium sinnvoll ist und bleibt.

Auch wenn mich also die Arbeit nicht vom durchgängigen Wert rhetorischer Analyse und ihrer Überlegenheit über redaktionskritisches Fragen und Arbeiten überzeugt, bleibt das Fazit, dass hier ein recht brauchbarer Versuch vorgelegt wird, zwei unterschiedliche methodische Auslegungsansätze miteinander vergleichend ins Spiel zu bringen.