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Ausgabe:

April/1998

Spalte:

379 f

Kategorie:

Judaistik

Autor/Hrsg.:

Nikiprowetzky, Valentin

Titel/Untertitel:

Études philoniennes.

Verlag:

Paris: Cerf 1996 332 S. gr.8° = Patrimoines: Judaïsme. ISBN 2-204-05235-3.

Rezensent:

Folker Siegert

Durch seine Wiederentdeckung Philons als Exegeten hat Valentin Nikiprowetzky, einst professeur de langues û am Lycée Maïmonide in Boulogne, später û am Collège de France und professeur d’hébreu an der Universität Paris III, der modernen Philon-Forschung schon vor einem Vierteljahrhundert eine neue Richtung gegeben. Es war Karl Heinrich Rengstorf, der die schon 1970 angefertigte, 1974 als Diss. masch. in Lille erschienene Pariser Doktorarbeit Le commentaire de l’Ecriture chez Philon d’Alexandrie, son caractère et sa portée ­ observations philologiques in den "Arbeiten zur Literatur und Geschichte des Hellenistischen Judentums" (Bd. 11, 1977) der Forschergemeinde bekannt machte. Nunmehr liegt eine Auswahl aus den übrigen Philon-Arbeiten desselben Vf.s vor in einem sauber neu gesetzten Sammelband, der nichts vermissen läßt als eine Bibliographie des Autors.

Die chronologisch angeordneten Beiträge erstrecken sich von 1963 bis 1989. In diese Zeit fällt die große griechisch-französische Philon-Ausgabe (Paris: Cerf), zu der N. 1965 den Band De decalogo beigesteuert hat. Auf dem Philon-Kongreß von Lyon 1966 war er mit vertreten; der bei jener Gelegenheit gehaltene Vortrag, zugänglich in dem noch immer aktuellen Kongreßband (Philon d’Alexandrie, Colloques Nationaux du CNRS, Paris 1967, 255-275), ist hier nicht wiederholt. Aufgenommen sind vielmehr einige Zeitschriftenaufsätze und viele andere Beiträge aus Festschriften, die in Deutschland kaum bekannt geworden sein dürften. Jean Riaud, Mitorganisator des Pariser Philon-Kongresses von 1996, hat die Neuveröffentlichung betreut, André Caquot das Vorwort beigesteuert.

Als Einstieg in die Lektüre empfiehlt sich der programmatische Beitrag «L’exégèse de Philon d’Alexandrie» (1973) auf S. 111-131, der sich von der damals noch üblichen Synkretismus-Forschung auf angenehme Weise absetzt. Zur Erinnerung: die Religionsgeschichtliche Schule ­ in diesem Fall ist sogar der große André-Jean Festugière hier mit einzuschließen ­ hatte Philon nicht als eigenständigen Denker gelten lassen, weil sie die Achse, um die sich bei ihm alles dreht, nicht sah: es ist die Tora in ihrer griechischen Fassung. Zwar hatte Harry Austryn Wolfson gerade in seiner Würdigung Philons als Philosophen (Philo, 2 Bde., Cambridge, Mass. 1948) dies bereits geltend gemacht; doch standen ihm die Arbeiten des weit modischeren Erwin Ramsdall Goodenough entgegen, der Philon als Mysterientheologen von einem psychologischen Standpunkt aus zu erschließen meinte (vgl. 119 ff.). Dem hält der Autor entgegen: "Nur das korrekte Ins-Auge-Fassen seiner Exegese liefert uns die notwendigen Mittel, um den Schriftsteller und sein Werk hinreichend zu verstehen" (111, Übers. d. Rez.). Seine Forschungsübersicht illustriert, in welcher Weise "die Mißverständnisse betreffs Sinn und Absicht der philonischen Schriften" Reflex sind auf "das Verkennen des Platzes, den dort die Schriftexegese einnimmt" (114).

Der hermeneutische Schlüssel zu Philon besteht infolgedessen darin, von den Quaestiones auszugehen: "Die Traktate Philons sind eine gewollte Abwandlung der Quaestiones ins Literarische. Die Quaestio ist sozusagen die Grundeinheit, selbst in den ausgeführten Traktaten, deren Aufbau nur da willkürlich, ja unverständlich erscheinen kann, wo man die Art nicht bemerkt, wie im Verlauf des exegetischen Suchens die verschiedenen quaestiones, als roter Faden der Entwicklung, aufeinander folgen und sich miteinander verketten. Dahingegen tritt die Logik zutage, sobald man darauf aus ist, nicht die ’Vorstellungen’ Philons zu resümieren, sondern die exegetischen Aporien voneinander abzuteilen, zu denen Philons Text eine Lösung liefern möchte ­ kurz, den Traktat auf die quaestiones zurückzuführen, die er ergründet" (125 f.). Diese berechtigte Mahnung läßt den deutschsprachigen Leser freilich das Fehlen einer deutschen Quaestiones-Ausgabe schmerzlich verspüren.

Hören wir weiter den Autor:

"Um den verborgenen Sinn der Schrift zu erreichen ­ jenes Bemühen, das, wie gesagt, das einzige und wahre ’Mysterium’ ist, dessen Vorhandensein in den exegetischen Traktaten Philons aufgewiesen werden kann ­, wird der gesamte Reichtum der griechischen Philosophie aufgeboten. Die allegorische Exegese unterwirft und akkommodiert ihn dem Bibeltext. Sie verwandelt ihn in eine Art Vernunftsprache, wo [lies ] der Philosoph die passendsten Begriffe findet, um das Wort Gottes ins Universelle zu übersetzen" (126). Darum ist Philons philosophische Haltung durchaus kein Lehrbuch-Dogmatismus, sondern oft "zweifelnd und konjektural" (127).

"Es wäre ein Verrat an Philon, wenn man von dem exegetischen Rahmen absähe, in dem sich jede Seite befindet, die er schreibt. Da reduziert man dann gewaltsam auf ein Mischmasch von Schulmeinungen, die er doch gerade hinter sich lassen wollte, indem er sie nur als Werkzeuge der Weisheit benützt, als Mittel, sich der Schrift zu nähern. Man führt ihn vom Umgang mit Sara zurück auf den mit Hagar" (ebd., mit Bezug auf Festugière). Und ferner: "Man kann das philosophische Streben Philons nicht mit dem Platons vergleichen. Platon ist bemüht, sich bis zur Schau des Seins zu erheben mittels einer freien Dialektik. Bei Philon handelt es sich um inspirierte, dabei auch stets auf Apologetik bedachte, Exegese von Schriftabschnitten. Philosophie nimmt notwendig den Durchgang durch Philologie". So scheint es dem Autor unerläßlich, das Werk Philons zu ’demystifizieren’, um nicht zu sagen zu ’entmythologisieren’ (131; das 2. Wort ist démythifié zu lesen). In diesem Rahmen finden sich nun im einzelnen diskutiert die Wiedergaben der Schöpfungsgeschichte bei Philon (45-78), die Spiritualisierung des Opferkultes (79-96), Literalsinn und Angelologie (133-143), Rebekka als Tugend der Ausdauer (145-169), Hannas Unfruchtbarkeit in 1Sam 2,5 (171-197) und die Dämonologie von De gigantibus 6-18 (217-242).

Daneben besteht noch ein deutlicher thematischer Schwerpunkt. Der Band beginnt und endet mit historischen Untersuchungen über die von Philon in De vita contemplativa beschriebene Therapeutengemeinde (11-43; 293-308), deren "Wüste" durchaus näher bei der Zivilisation lag als diejenige der späteren christlichen Eremiten. Diesen Therapeuten und ihrer losen Parallele, den Essenern, sind auch die Beiträge über die Nicht-identität beider (199-216) und die ihnen immerhin gemeinsame Ablehnung der Sklaverei (243-291) gewidmet. ­ Ein Stellenregister (309-330) rundet den Band ab.