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Ausgabe:

April/2006

Spalte:

448–450

Kategorie:

Religionspädagogik, Katechetik

Autor/Hrsg.:

Piroth, Nicole

Titel/Untertitel:

Gemeindepädagogische Möglichkeitsräume biographischen LernensEine empirische Studie zur Rolle der Gemeindepädagogik im Lebenslauf

Verlag:

Münster: LIT 2004. 328 S. m. Abb. gr.8° = Schriften aus dem Comenius-Institut, 11. Kart. Euro 24,90. ISBN 3-8258-7818-X.

Rezensent:

Roland Degen

Wenn in der Multioptionsgesellschaft vorgegebene kirchliche Lebensmuster kaum mehr unhinterfragte Fortführungen erfahren, sondern zur kritischen Reflexion und individuellen Wahl anstehen, wird das Verhältnis von Lebenswelt, Biographie und Religion zum eigenständigen Bildungsthema. Nicht nur in schulbezogener Religionspädagogik ist die damit verbundene Frage subjekt- und biographieorientierten Lernens keineswegs neu. Dass sie in der vorliegenden überarbeiteten Dissertation (Heidelberg 2003) aufgegriffen und gemeindepädagogisch entfaltet wird, ist dennoch verdienstvoll, besteht doch in den Kirchen die Gefahr, dass unter dem Eindruck vorgegebener Inhalte die individuellen Lebenslagen und pluralen Biographiemuster mit ihren lebensgeschichtlichen Veränderungen noch immer ­ auch hinsichtlich gemeindlicher Kommunikationsformen ­ zu wenig Beachtung finden.

Eingangs beschreibt P. die individuelle Biographiegestaltung als generelle Herausforderung für eine lebenslaufbegleitende pädagogische Profession. Nach dem weitgehenden Verlust religiöser Fragestellungen in der neueren Erziehungswissenschaft konstatiert P. Ansätze eines Wandels. Die erkennbare »Wiederkehr des Religiösen« ins allgemeine Bewusstsein als individuelle Sinnsuche ist hierbei nicht mit einer Rückkehr in traditionelle Kirchlichkeit zu verwechseln. Angesichts ambivalenter Grunderfahrungen im Lebensalltag werden jedoch für das Individuum wesentliche Kommunikationsmilieus und -orte keineswegs überflüssig, auch weil andernfalls Reflexionsverzicht und Sprachunfähigkeit die Folge wären. Zutreffend skizziert P. unter dieser Voraussetzung die 30-jährige Begriffsgeschichte von Gemeindepädagogik als einer »Pädagogik der Ermöglichung und Begleitung« und so als »Möglichkeitsraum biographischen und religiösen Lernens« (41). Hier sind christliche Gemeinden gefragt, weil Individualisierung im Pluralismus frei gewählte Solidargemeinschaften ­ zumindest »auf Zeit« ­ wichtig macht und dabei nach Hilfen gesucht wird, in der »Welt der Optionen« zu bestehen und Orientierungen zu finden. ­ Als eine bloße Eingemeindungsstrategie in herkömmliche Kirchlichkeit ist Gemeindepädagogik daher nicht zu verstehen. Deshalb werden im zweiten Teil der Arbeit Stichworte aus der neueren Kirchenmitgliedschaftsdiskussion wie Milieuverengung, Bildungskrise, Kirche als intermediäre Institution und ritueller Spielraum, Gemeinde als kommunitäres Netz und sozialräumliches Feld u.a. themabezogen aufgegriffen. Unterschiedliche Lebenslagen und Kirchenerfahrungen der religiösen Milieus nötigen zu flexiblen und verschiedenartigen Kommunikationsmustern der Institution Kirche. Daraus folgt beispielsweise, auch das kirchliche »Ehrenamt« nicht lediglich nach Eigeninteressen der Institution Kirche zu beurteilen oder gar als billigen Ersatz für nicht mehr bezahlbare hauptberufliche Professionen anzusehen.

Auch wenn P. bewusst ist, dass Gemeindepädagogik als Dimension gemeindlicher Kommunikation insgesamt nicht sektoral verengt und auf eine spezielle Berufstheorie reduziert werden darf, hat dieser Leitbegriff für sie primär Konsequenzen für die Profilierung einer Berufsgruppe. Deren Spezifik mit ihren Abgrenzungen gegenüber Sozialpädagogik einerseits und Pfarramt andererseits ist in den Landeskirchen weithin diffus geblieben. Dennoch stimmen die Entwicklungen ­ auch im Vergleich west- und ostdeutscher Berufstraditionen ­ darin überein, dass für das gemeindepädagogische Berufsbild die kommunikative Kompetenz und Dialogfähigkeit zentrale Bedeutung besitzen.

Im Anschluss an die intentionalen Überlegungen zu biographieorientierter Gemeindepädagogik beschreibt P. ausführlich die Kriterien für die folgende empirische Untersuchung, den Hauptteil der Arbeit. Aus einer größeren Anzahl von Befragungen ­ ausschließlich aus dem Raum der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau ­ werden 21 qualitative Interviews mitgeteilt, die zeigen, welche Bedeutung die meist evangelischen Befragten der gemeindlichen Praxis für ihren Lebensalltag und der Arbeit von Gemeindepädagoginnen und -pädagogen beimessen. Fünf »Nutzungstypen gemeindepädagogischer Arbeit« werden hierbei unterschieden. Von der gemeindlich engagierten Pfarrfrau bis zum Kirchendistanzierten äußern sich die Befragten nuancenreich zu gemeindlichen Angeboten, die sich besonders dort als relevant erweisen, wo sie soziale Kontakte herstellen, binnenkirchliche Verengungen aufbrechen und vielgestaltige Mitgestaltung ermöglichen. Hier kommt das spezifische Interesse P.s zum Tragen: Trotz aller Überlappungen mit anderen kirchlichen Diensten möchte sie das gemeindepädagogische Berufsfeld stärken und die traditionelle Pfarrerzentriertheit der Kirche überwinden ­ ohne den Gemeindepädagogen zum Pfarrer neuen Typs zu erklären. »Keineswegs sollten diese Ergebnisse der Untersuchung dazu verführen, in den Gemeindepädagoginnen und -pädagogen die Universal-Innovatoren der Kirche zu sehen. ... Für sie steht deshalb die Position des Pfarrers und der Pfarrerin keineswegs zur Disposition« (293). Nicht unproblematisch am Befragungsverfahren ist, dass ­ da alle Befragten auf unterschiedliche Weise positive Erfahrungen mit gemeindepädagogischen Angeboten machten ­ die Wertung dieses Berufs entsprechend positiv ausfällt. P. bemüht sich auf Grund der Interviews ein eigenständiges Professionsprofil zu gewinnen, das sich weitgehend mit den Kompetenzbeschreibungen der Grundsatzkapitel deckt und diese in beachtlicher Ausführlichkeit fallbezogen konkretisiert. Kommunikations- und Methodenkompetenz, Sensibilitäten für lebensgeschichtliche Situationen und überparochiale offene Lerngelegenheiten stehen hierbei im Mittelpunkt.

Die biographieorientierte Themenstellung sperrt andere Aspekte des Gemeindepädagogischen weitgehend aus. So bleibt zum Beispiel die Klärung der strittigen Ordinationsfrage im Rahmen der Berufsbilddebatte für P. außerhalb ihres Themas. Wichtiger noch wäre zu fragen, ob nicht der Kommunikationsbegriff neben seiner in der Arbeit dominanten sozialen Gewichtung hinsichtlich seiner theologisch-hermeneutischen Dimension einer stärkeren Entfaltung bedürfte ­ keineswegs nur als Vermittlung bloßen theologischen Sachwissens. Dies auch deshalb, damit nicht tendenziell berufsbildprägend wird, was P. mit Recht vermeiden möchte: Der Pfarrer bestimmt die (theologischen) Inhalte, der Gemeindepädagoge kümmert sich um Methoden und soziale Beziehungen zur Lebenswelt. Auffallend ist, dass P. den generationenübergreifenden Gemeindepädagogik-Begriff ausschließlich auf Erwachsene bezieht, was dazu führen könnte, ihn als Synonym für evangelische Erwachsenenbildung zu verstehen. Die mitgeteilten Befragungen lassen jedoch vielfach erkennen, dass das von P. Intendierte bereits für wesentliche Strecken von Kindheit und Jugend Bedeutung besitzt. Als Korrektiv zu einem Gemeindepädagogik-Verständnis freilich, das sich ­ wie häufig ­ lediglich auf kirchliche Arbeit mit Kindern und Jugendlichen bezieht, wird man die andersartige Zentrierung der Thematik durch P. immerhin rechtfertigen können.

Der Studie kommt angesichts kirchlicher Stellenreduzierungen auch deshalb Bedeutung zu, weil sie mit guten Gründen für den Erhalt unterschiedlicher Professionen wirbt, dabei in weitgehend postchristlicher Situation die pädagogische Dimension der Gemeindearbeit herausstellt und mit einer entsprechenden Berufsbildprofilierung verbindet. Wie die zahlreich referierten meist sozialwissenschaftlich orientierten Einsichten zeigen, können Erwachsenenbiographien nicht lediglich als Adressenfeld normativer Botschaften verstanden werden ­ was für heutige Kindheiten und Seniorensituationen in ähnlicher Weise Gültigkeit beanspruchen könnte. »Gemeindepädagogik tritt damit für einen Perspektivenwechsel ein, der die Kirche aus der Perspektive der Menschen betrachtet und vorhandene Zugangssperren und Sichtbehinderungen zu problematisieren und beseitigen sucht« (69).