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Ausgabe:

April/1998

Spalte:

374–378

Kategorie:

Judaistik

Autor/Hrsg.:

Feldman, Louis H., and Meyer Reinhold [Eds.](1)Feldman, Louis H.(2)Borgen, Peder(3)

Titel/Untertitel:

Jewish Life and Thought Among Greeks and Romans. Primary Readings.(1)Studies in Hellenistic Judaism.(2)Early Christianity and Hellenistic Judaism.(3)

Verlag:

Edinburgh: Clark 1996. XXXIX, 436 S. m. Abb. gr.8°. Kart. £ 17,50. ISBN 0-567-08525-2.(1)Leiden-New York-Köln: Brill 1996. X, 677 S. gr.8° = Arbeiten zur Geschichte des antiken Judentums und des Urchristentums, 30. Lw. hfl 313.50. ISBN 90-04-10418-6.(2)Edinburgh: Clark 1996. XI, 376 S. gr.8°. Geb. £ 24.95. ISBN 0-567-08501-5.(3)

Rezensent:

Jürgen Wehnert

Die drei hier vorzustellenden Neuerscheinungen thematisieren in unterschiedlicher Weise und mit unterschiedlichem Gewinn für den Leser das antike Judentum der hellenistisch-römischen Zeit.

"Jewish Life and Thought Among Greeks and Romans" ist eine von den amerikanischen Gelehrten L. H. Feldman und M. Reinhold konzipierte Sammlung von Texten antiker Autoren, die nicht nur von Studierenden mit großem Gewinn zu Rate gezogen werden wird. Das Werk ist in zehn chronologisch-thematische Kapitel gegliedert; ihre Titel verdeutlichen Anlage und Umfang des hier vorgelegten Quellenmaterials: 1. Die Griechen entdecken die Juden, 2. Die Anfänge der Hellenisierung in Ägypten. 3. Jüdisches Leben in anderen Diaspora-Ländern, 4. Pro-jüdische Einstellungen von Regierungen, 5. Pro-jüdische Einstellungen von Intellektuellen, 6. Übertritt zum Judentum, 7. "Sympathisanten" ("Gottesfürchtige"), 8. Die Juden in Palästina, 9. Aufstände der Juden gegen das Römische Reich, 10. Kritik und Feindschaft gegenüber Juden. Bewußt ausgespart ist lediglich der umfangreiche Komplex der christlich-jüdischen Auseinandersetzungen (Vorwort, 17 f.). Schwerpunkte sind die Kapitel 8 und 10, die zusammen etwa die Hälfte des Buches ausmachen. Der Aufbau der Kapitel ist jeweils gleich, so daß sich die Benutzer schnell und problemlos orientieren können: Einer Bibliographie der wichtigsten Literatur zum Thema folgt eine kurze orientierende Einleitung der Herausgeber, die auch Nichtkennern der Materie Zugang zu den einzelnen Aspekten der Geschichte des antiken Judentums verschafft. Im Anschluß daran finden sich, in Unterabschnitte aufgeteilt, die Quellenauszüge, deren Kontexte in den Originalwerken durch weitere einleitende Notizen verdeutlicht werden. Besonders hervorzuheben ist, daß diese Notizen auch auf Forschungsprobleme aufmerksam machen (etwa zur Frage einer jüdischen Proselytenmission) ­ ein Verfahren, durch das der Stoff ebenso souverän wie fair dargeboten wird.

Die Exzerpte, sämtlich in englischer Übersetzung und durchweg den gängigen Ausgaben bzw. der grundlegenden Sammlung von Menahem Stern (Greek and Latin Authors on Jews and Judaism. Band 1-3. Jerusalem 1974-1984) entnommen, sind typographisch abgehoben, so daß Quellen und Herausgeberkommentare klar voneinander getrennt sind. Konsequent wäre es freilich gewesen, auch die Erläuterungen zu den Quellenstücken, die in Klammern in den fortlaufenden Text eingefügt sind, in anderer Schrifttype zu setzen oder sie insgesamt (und nicht nur zum Teil) als Fußnoten abzudrucken. Die insgesamt über 600 Exzerpte berücksichtigen praktisch die gesamte einschlägige antike Literatur jüdischer wie paganer Provenienz (s. das kommentierte Schriftenverzeichnis XIX-XXXIII sowie den Schriftenindex 415-422), und zwar sowohl literarische Texte wie Papyrusurkunden und Inschriften (einschließlich Münzen).

Angesichts der Fülle des dargebotenen Materials, die ältere Sammlungen bei weitem übertrifft, wäre es müßig, kleinliche Kritik an der Textauswahl zu üben und auf angeblich Übersehenes hinweisen zu wollen (daß bestimmte Autoren wie Josephus und Philo im Vordergrund stehen, versteht sich von selbst; daß die z. T. späte rabbinische Literatur wesentlich stärker herangezogen wird als etwa die Qumranschriften, mag man bedauern, gehört aber wohl zu den unvermeidlichen Herausgeberentscheidungen).

Hilfreich wäre es allerdings gewesen, im Verzeichnis der ausgewerteten antiken Literatur Hinweise auf die verwendeten bzw. gängigen Übersetzungsausgaben aufzunehmen, um den Benutzern das doch gewiß beabsichtigte further reading zu erleichtern. Da der Band den Bedürfnissen der Leserschaft im übrigen mustergültig entgegenkommt ­ ein Glossar erläutert Fachbegriffe, eine allgemeine Bibliographie (407-414) stellt die grundlegende Sekundärliteratur zusammen (freilich nur, soweit sie auf englisch oder in englischer Übersetzung erschienen ist), ein Namen- und Sachregister erschließt die Exzerpte und stellt Zusammenhänge zwischen ihnen her­, sollte dieser Mangel bei einer gewiß zu erwartenden 2. Auflage ausgeräumt werden.

Die wenigen formalen Monita können jedoch nicht den Gesamteindruck schmälern, daß den Herausgebern mit diesem kommentierten Lesebuch ein großer Wurf gelungen ist. Sie haben mit wissenschaftlichem Sachverstand und didaktischem Einfühlungsvermögen ein Quellenwerk geschaffen, daß seine Benutzer verführen wird, sich immer wieder darin festzulesen. Man wünschte sich eine deutsche Übersetzung dieser Sammlung, um das ungemein facettenreiche Bild des antiken Judentums, das hierzulande noch allzu oft unselbständig im Rahmen einer "Umwelt des Neuen Testaments" abgehandelt wird, einer möglichst großen Leserschaft zugänglich zu machen.

"Studies in Hellenistic Judaism" ist eine Sammlung von 23 Aufsätzen des renommierten New Yorker Josephus-Experten Louis H. Feldman aus den Jahren 1953 bis 1996. Die Untersuchungen sind in fünf Teile gegliedert, die den thematischen Horizont des Bandes markieren: I. Josephus, II. Judentum und Christentum, III. Lateinische Literatur und die Juden, IV. Die Römer in der rabbinischen Literatur, V. Weitere Studien zum hellenistischen Judentum. Wenngleich die Arbeiten von sehr unterschiedlichem Zuschnitt sind (neben Detailstudien zu historischen Einzelfragen stehen übergreifende Darstellungen), imponieren alle durch ihre souveräne Beherrschung der Quellen (der 46seitige Schriftstellenindex [608-653] dokumentiert den Umfang der verarbeiteten antiken Literatur) und das kluge, abwägende Urteil F.s, dem sich der Leser durchweg gern anschließen wird.

In einer ausführlichen Einleitung (1-33) stellt F. Zusammenhänge zwischen den einzelnen Studien her, indem er sie zwei Grundfragen seiner Forschung zuordnet, nämlich der nach den Quellen des Josephus und dessen Verläßlichkeit als Historiker sowie der nach den Kenntnissen, die Juden und Nichtjuden voneinander hatten, und ihrem daraus resultierenden wechselseitigen Verhältnis (1; vgl. den oben besprochenen Textband). Von hierher wird verständlich, daß die Josephus-Studien einen Schwerpunkt des Bandes bilden (elf Beiträge); sie demonstrieren, daß das positive Urteil, das F. einleitend über dessen historische Glaubwürdigkeit fällt ("in judging Josephus I assume that he is telling the truth unless I have evidence to the contrary"; 4), keinesfalls unkritisch gemeint ist: F. kennt den rhetorisch versierten Josephus durchaus auch als tendenziösen, ja apologetischen Verfasser (siehe etwa die vergleichende Studie "Josephus’ Jewish Antiquities and Pseudo-Philo’s Biblical Antiquities" [57-82], die das spezifische apologetische Interesse des sich an Nichtjuden wendenden Josephus herausarbeitet).

Einige größere Arbeiten des Bandes, die allgemeineren Fragestellungen gewidmet sind, seien etwas genauer vorgestellt:

"Josephus’ Attitude toward the Samaritans: A Study in Ambivalence" (114-136) untersucht die Stellung der Samaritaner innerhalb des antiken Judentums unter der Fragestellung, ob sie als Juden oder Nichtjuden angesehen wurden. Der eindeutige Befund bei Josephus ­ er bezeichnet die Samaritaner durchweg als ethnos und damit als Nichtjuden ­ ist nicht repräsentativ, greift aber der späteren Entwicklung voraus. Andere Quellen (Traditionen in Mischna, Tosefta usw.) belegen, daß in der Zeit des Zweiten Tempels noch keine abschließende Trennung zwischen Juden und Samaritanern vollzogen war. Auch die Samaritaner selbst, so der empörte Josephus in Ant 9.291, betrachteten sich je nach der wirtschaftlichen und politischen Lage der Juden als deren "Verwandte" oder nicht. F.s plausibles Fazit lautet, daß die Samaritaner unter die Parteien des antiken Judentums zu rechnen sind und daß der Bruch zwischen ihnen und den Juden nicht spontan erfolgte, sondern Resultat eines langen, von intensiven Auseinandersetzungen begleiteten Prozesses war (136).

Zwei Arbeiten F.s setzen sich mit der Frage auseinander, warum das Christentum nach seiner offiziellen Anerkennung im 4. Jh. nicht auf die antijüdische Literatur der Antike zurückgriff, um seine polemische Abgrenzung gegenüber dem Judentum zu untermauern. "Pro-Jewish Intimations in Anti-Jewish Remarks Cited in Josephus’ Against Apion" (177-236) überprüft die in Josephus’ Schrift angeprangerten antijudaistischen Topoi hinsichtlich ihrer Wirkung auf die damalige Leserschaft und gelangt zu dem überraschenden Resultat: "Even those works which were deliberately anti-Jewish actually have a number of touches which could be construed positively, even though ironically they did not intend them to be so" (233). Wenn etwa Manetho (in "Gegen Apion" für antijüdisch erklärter ägyptischer Priester) Mose als ägyptischen Priester bezeichnet, enthält diese Aussage ein doppeltes Positivum: Einerseits wurden ägyptische Priester aufgrund ihres esoterischen Wissens geschätzt, andererseits die Ägypter im Altertum als älteste Zivilisation respektiert. Auch der Vorwurf, die Juden pflegten zwar untereinander Eintracht, legten anderen gegenüber jedoch Feindseligkeit an den Tag, ist zunächst ein Kompliment an den jüdischen Zusammenhalt. Er weckt überdies positive Assoziationen, weil dieselbe Haltung auch den allseits bewunderten Spartanern nachgesagt wurde. Mit letzteren teilten die Juden auch den Ruf, stur und gesetzeshörig zu sein. Diese projüdischen Implikationen der paganen Judenpolemik machten sie für die Kirche unbrauchbar.

Weitere Gründe arbeitet F. in "The Relationship between Pagan and Early Christian Anti-Semitism" (289-316) heraus. Auch Ursprung und Wesen des Christentums hinderten es daran, sich der Argumente des heidnischen Antisemitismus zu bedienen. So blieben die in der Antike kolportierten Schauermärchen (Juden beteten einen Eselskopf an, mästeten jährlich einen Griechen für einen Ritualmord, litten an Lepra usw.) im frühen Christentum unerwähnt, weil ähnliche Vorwürfe (z. B. der thyesteischer Mahlzeiten) auch gegen Christen vorgebracht wurden. Zudem sah sich das Christentum in ungebrochener Tradition mit dem Judentum, da ein weit zurückreichender historischer Ursprung hohes Ansehen genoß und die These, in Jesus erfüllten sich alttestamentliche Prophezeiungen, eine Kontinuität mit dem Judentum voraussetzte. Seine eigenen Wurzeln konnte das Christentum nicht lächerlich machen. Das Aufflammen des christlichen Antisemitismus im 4. Jh. sieht F. daher wesentlich durch eine nach wie vor bestehende Konkurrenzsituation verursacht. Daß das Judentum nach der Hinrichtung Jesu und den politischen Katastrophen des 1. und 2. Jh.s n. Chr. nicht untergegangen war, sondern weiter florierte und Konvertiten anzog, war den Kirchenführern ein Dorn im Auge und wurde als Bedrohung empfunden. So entwickelte das Christentum eigene antisemitische Vorwürfe, vornehmlich den, daß die Juden "Gottesmörder" seien. Während im heidnischen Antisemitismus oft Ironie und Spott mitschwangen, waren diese christlichen Angriffe bitterernst und unheilverkündend.

Die Frage: "Is the New Testament Anti-Semitic?" (277-288), beantwortet F. mit: "To the extent that it is addressed to Jews and Jewish Christians it is hardly anti-Jewish" (286). Zu diesem versöhnlichen Resultat gelangt der Autor durch eine Untersuchung des Bildes, daß die einzelnen neutestamentlichen Schriften von den Juden entwerfen. Der Befund ist naturgemäß uneinheitlich: Während Paulus und Mk keine oder kaum antijüdische Züge aufwiesen, sei der Sachverhalt bei Mt, Lk und Joh komplizierter, doch werde das Judentum auch hier nicht pauschal verurteilt. Selbst den garstigen Vers Mt 27,25 möchte F. nicht so verstehen, daß Mt allen Juden die Schuld an Jesu Tod aufbürden wolle. Da nach jüdischer Tradition Schuld nicht über Generationen hinweg weitergegeben werden könne, liege hier eine rhetorische, nicht wörtlich zu verstehende Formulierung vor. Dieses Urteil eines jüdischen Gelehrten ist gewiß honorig, vermag aber nicht darüber hinwegzutrösten, daß Mt 27,25 in der christlichen Tradition nur allzuoft antisemitisch ausgeschlachtet worden ist.

In "Some Observations on Rabbinic Reaction to Roman Rule in Third Century Palestine" (438-483) untersucht F. die rabbinisch-jüdische Haltung gegenüber dem Römischen Reich im 3. Jh. n. Chr. Die einschlägigen Aussagen in Talmud und Midrasch ergeben ein uneinheitliches Bild: Positiv vermerkt werden z. B. die römischen Bauten, das faire Rechtssystem sowie die Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung. Der Reichtum und die Größe des Römischen Reiches wirkten offensichtlich beeindruckend. Ebenso deutlich werden die Kehrseiten der römischen Welt: Geldverschwendung und Willkür, eine lediglich auf militärischer Stärke beruhende Autorität, übermäßige Besteuerung, grausame Methoden der Steuereintreibung. Das jüdische Grundgefühl gegenüber den Römern war eine Mischung aus Hochachtung und Furcht: "The very fact that the rabbis choose to emphasize the tradition that the Romans are descended from Esau is an indication of this ambiguity, since Esau was at once the hated enemy of Jacob but also his twin brother" (445).

"Torah and Secular Culture: Challenge and Response in the Hellenistic Period" (487-503) beschäftigt sich mit dem Verhältnis der alexandrinischen und palästinischen Juden zu ihrer hellenistischen Umwelt. F. skizziert die Entstehung und Entwicklung des griechischsprachigen Judentums in Alexandrien bis Philo, das teilweise Züge einer regelrechten griechisch-jüdischen Symbiose annahm: So behauptete der Historiker Cleodemus Malchus (bei Josephus, Ant. 1.239 ff.), daß zwei Söhne Abrahams mit Herakles in den Krieg gezogen seien und Herakles eine ihrer Töchter geheiratet hätte. Obwohl Hellenisierung nicht nur in Ägypten, sondern auch in Palästina stattfand, rief sie doch unter den Rabbinen ganz andere Reaktionen hervor. Sie verfaßten keine griechischen Texte, sondern hielten an den überkommenen Sprachen fest. In den talmudischen Schriften wird kein griechischer Autor außer Homer erwähnt (mYad 4,6). Als Antwort auf die Frage, warum die jüdische Identität in Palästina vergleichsweise unerschüttert blieb, verweist F. auf das dortige Unterrichtssystem: Bereits im 1. Jh. n. Chr. erhielten Männer an den Jeschiwot eine höhere Thora-Ausbildung.

Als Fazit bleibt festzuhalten, daß F. eine Sammlung vorgelegt hat, die durch eine heute selten gewordene, erlesene Gelehrsamkeit besticht; sie ist ebenso kenntnisreich wie unterhaltend und nimmt den Leser schnell gefangen. Der Band verdient höchsten Respekt und sollte in keiner einschlägigen Bibliothek fehlen.

"Early Christianity and Hellenistic Judaism" ist der Titel eines Aufsatzbandes des Norwegers P. Borgen; er faßt neun Veröffentlichungen aus den Jahren 1988-1994 sowie drei erstmals publizierte Beiträge zusammen. Der Obertitel des Bandes ist etwas irreführend, da das hellenistische Judentum nicht in allen Beiträgen eine zentrale Rolle spielt. Schon die Gliederung in die vier Teile: 1. Juden und Christen in der griechisch-römischen Welt, 2. Das Johannesevangelium, 3. Apostelgeschichte und Paulusbriefe, 4. Die Johannesoffenbarung zeigt, daß es sich hier um eine aus christlicher Perspektive bzw. vom NT her entworfene Aufsatzsammlung handelt.

Eine ausführliche Einleitung (1-12) erläutert die einzelnen Beiträge und verdeutlicht übergreifende Gesichtspunkte, die vor allem sozialgeschichtlicher und religionsgeschichtlicher Art sind: Texte werden verstanden als Äußerungen von Gruppen, deren Strukturen für die Ausformulierung ihrer Texte von zentraler Bedeutung sind: "The essays deal with crossings of the borderline between communities, distinctions to be drawn between entry into and remaining in the community, aspects of community activities and community claims, and the self-understanding and the role of community within the larger perspective of historical events" (2). Die religionsgeschichtliche Unterscheidung zwischen "palästinischem (normativem)" und "hellenistischem" Judentum wird aufgegeben und von einer "Komplexität des Judentums" innerhalb und außerhalb Palästinas gesprochen, aus dem das ebenso komplexe Christentum hervorgegangen sei (ebd.). Da die Entstehungsorte eines großen Teils der antik-jüdischen und der frühchristlichen Literatur nicht sicher zu bestimmen sind, ist eine sozialgeschichtlich akzentuierte Exegese wohl darauf angewiesen, von der Annahme einer Art Einheitskultur auszugehen, um das Nichtwissen über die konkreten lokalen Verhältnisse ausgleichen zu können. Ob B.s Verzicht auf die Unterscheidung zwischen hellenistischem und palästinischem Judentum bzw. Christentum tatsächlich zu einem "angemesseneren Bild" dieser beiden antiken Religionen führt (3), kann nur seine konkrete exegetische Arbeit erweisen. Aus den vier Abschnitten des Buches sei daher jeweils ein Beitrag etwas genauer beleuchtet:

"Militant and Peaceful Proselytism and Christian Mission" (45-69; bisher unveröffentlicht) will in Auseinandersetzung mit Scot McKnight, der eine antik-jüdische Missionsbewegung in Frage gestellt hat (A Light Among the Gentiles, Minneapolis 1991), zeigen, daß es militante und friedliche Formen von jüdischem Proselytismus gegeben habe sowie eine Mischform, die vom Christentum übernommen worden sei. (46). Die Beweisführung ist freilich sehr verwirrend, da unklar bleibt, ob es B. um das historische Phänomen jüdischer bzw. christlicher Mission geht oder um die Beschreibung eines nur theoretischen Konzeptes: Argumentiert wird unterschiedslos mit literarischen Fiktionen (Judith, Esther), geschichtlichen Belegen (Josephus) und eschatologischen Herrschaftsphantasien (u. a. Philo, Paulus). Die auf diesem Wege gewonnenen Resultate sind einerseits recht banal (daß Proselytismus bzw. Mission für die Bekehrten religiöse, ethische und soziale Konsequenzen hat, gilt wohl für jede Form von Religionswechsel) und andererseits zu schematisch, um den historischen Phänomenen gerecht zu werden. Wenn B. christliche Mission von jüdischem Proselytismus dadurch unterscheidet, daß sie die Bekehrten ohne Beschneidung zu Mitgliedern eines multinationalen Volkes mache (69 und passim), ignoriert dies die Existenz einer judenchristlichen Bekehrungsbewegung (Gal 2,7-9!), für die Thoragehorsam einschließlich Beschneidung selbstverständlich war. Hier rächt sich B.s Verzicht auf die Unterscheidung zwischen palästinischem und hellenistischem Christentum.

"The Independence of the Gospel of John: Some Observations" (183-204) ist die Fortsetzung eines z. T. in Auseinandersetzung mit F. Neirynck unternommenen Versuchs, die Unabhängigkeit des Joh von den Synoptikern zu erweisen, die (speziell Mk und Lk) in der Forschung meist als Vorlagen des vierten Evangelisten angesehen werden. B.s Hauptthese lautet: "The similarities between Paul’s way of transmitting and interpreting Jesus-logia in the fifties A. D. and the transmission and exposition of tradition in John, strengthen the probability that this Fourth Gospel draws on a stream of traditions which was transmitted and elaborated upon in the history of the Johannine community, independently of the gospels of Matthew, Mark and Luke" (186, vgl. 6). Die recht verwickelte Beweisführung B.s beruht auf Vergleichen zwischen paulinischen und johanneischen sowie johanneischen und synoptischen Traditionen. Da Paulusbriefe und Joh keine gemeinsame Jesustradition enthalten, argumentiert B. mit dem Sachverhalt, daß beide Verfasser ähnliche Formen der Rezeption und Auslegung von Jesus-Überlieferungen kennen. Daß ihre Traditionen deshalb aus demselben vorsynoptischen Überlieferungsstrom stammen müssen, ist freilich eine ganz willkürliche Annahme. Der Vergleich zwischen Joh und den Synoptikern schließlich beruht nur auf wenigen (z. T. problematischen) Einzelstellen; ein Gesamturteil über die Herkunft der johanneischen Jesustradition ist auf dieser schmalen Basis kaum zu fällen.

In "Catalogues of Vices, the Apostolic Decree, and the Jerusalem Meeting" (233-251) entwickelt B. auf der Grundlage des Gegnervorwurfs Gal 5,11 ("wenn ich noch die Beschneidung verkündige ...") die These, daß Paulus "preached Christ all time within the context of Jewish proselyte traditions" (245), ausgenommen allein die Beschneidung. Zu diesen "Proselyten-Traditionen" zähle z. B. der Lasterkatalog Gal 5,19-21, der in der übrigen frühchristlichen Literatur zahlreiche Parallelen aufweise, so daß "Jewish proselyte instruction" allgemeine christliche Praxis gewesen sei (245 f.). Ein Dokument dafür sei das sogenannte Aposteldekret (Apg 15,20.29; 21,25), bei dem es sich in Wahrheit um einen "Musterkatalog" von Vorschriften zur "Proselyten-Unterweisung" gehandelt habe, der sich mit dem Inhalt der pln. Verkündigung vollständig decke. Dieser Musterkatalog sei später in einzelnen Gemeinden unterschiedlich ausformuliert worden (in der alexandrinischen Version wurden Speisegebote hinzugefügt), wodurch der irrige Eindruck entstehe, daß zwischen paulinischer und lukanischer Darstellung des Missionskonvents Widersprüche bestünden (246-250). ­ Dieses Gedankengebäude vermag in keinem Punkt zu überzeugen: Daß Paulus "Proselyten-Unterweisung" betrieben habe, um unbeschnittene Heidenchristen zu gewinnen, ist ein Widerspruch in sich. Inhalt jüdischer Proselyten-Unterweisung ist selbstverständlich die Thora, nicht irgendwelche "Proselyten-Traditionen". Die Ausführungen über das Aposteldekret verkennen die textkritische Realität (der alexandrinische Text ist zweifellos ursprünglich) und damit das Problem, daß das Dekret von Anfang an Speisegebote enthalten hat, die kein Bestandteil der frühen paulinischen Mission gewesen sind.

In "Autobiographical Ascent Reports: Philo and John the Seer" (309-320; bisher unveröffentlicht) zieht B. eine religionsgeschichtliche Parallele zwischen dem Seher Johannes (Apk 1,1 u. ö.) und dem jüdischen Philosophen Philo, der in seiner Schrift Spec. leg. 3,1-6 von eigenen Himmelsreisen berichte. Trotz einzelner motivischer Übereinstimmungen bleibt jedoch zu fragen, inwieweit hier wirklich vergleichbare Phänomene beschrieben werden. Wenn Philo in himmlischen Regionen zu schweben vermeint (edo-kun), ist dies eine Metapher für die hingebungsvolle Selbstversenkung des Philosophen (von "ascent", einem Aufstieg in den Himmel, spricht nur B., nicht Philo), aus der er durch die politischen Wirren Ägyptens nur allzuschnell wieder herausgerissen wird (Spec. leg. 3,3). Die ungebändigten visionären und auditiven Erfahrungen des Johannes, die auch die politischen Verhältnisse transzendieren, sind offensichtlich von ganz anderem Charakter. Der Eindruck drängt sich auf, daß die Erfahrungswelten eines alexandrinischen Gelehrten und eines kleinasiatischen Ekstatikers erheblich verschiedener sind, als es B. in seiner Untersuchung stillschweigend voraussetzt.

Zusammenfassend ist anzumerken, daß B.s Aufsätze mit originellen Ideen aufwarten, die jedoch der kritischen Überprüfung ­ auch hinsichtlich ihrer Terminologie und Argumentationsweise ­ oft kaum standhalten. Das Bild, das B. vom frühen Christentum ebenso wie vom hellenistischen Judentum zeichnet, erscheint daher eher vage als verläßlich.