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Ausgabe:

April/2006

Spalte:

443–446

Kategorie:

Religionspädagogik, Katechetik

Autor/Hrsg.:

Domsgen, Michael

Titel/Untertitel:

Familie und Religion. Grundlagen einer religionspädagogischen Theorie der Familie

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2004. 372 S. m. Tab. gr.8° = Arbeiten zur Praktischen Theologie, 26. Geb. Euro 38,00. ISBN 3-374-02228-6

Rezensent:

Rainer Lachmann

Endlich versucht sich ein Religionspädagoge daran, in fundierter wissenschaftlicher Auseinandersetzung eine »religionspädagogische Theorie der Familie« zu entwickeln und damit das »entscheidende religiöse Sozialisationsfeld« Familie als »grundlegenden Lernort zu profilieren« (305). Das ist das leitende Interesse der Münsteraner Habilitationsschrift, die einmal mehr mit dem Anspruch auftritt, einen »Perspektivenwechsel« anzubahnen: weg von der Familie als bloßem »Leistungsträger«, der »bestimmte Voraussetzungen für weitere Lernprozesse zu gewährleisten hat« (305), hin zu einem »herausragenden Lernort des Glaubens« (5) mit eigenständiger Gewichtigkeit. Mit ihren drei Teilen ­ »I Die Familie«, »II Familie und Religion«, »III Religionspädagogische Perspektiven« ­ geht die Arbeit dieser anspruchsvollen Zielsetzung nach.

Der I. Teil beginnt mit einer hilfreichen, weil thematisch profilierenden Begriffserklärung, wonach für das die Untersuchung bestimmende Familienverständnis die »Generationsdifferenzierung zwischen Mutter und/oder Vater und Kind Š grundlegend« ist und deshalb »Familie hier für ðKernfamilieЫ »im Sinn einer Einheit um den Nukleus von Eltern(teil) und Kind« steht (23). Ausschließlich fokussiert auf die Situation in Deutschland und ­ ständig vergleichend präsent ­ die Entwicklungen in Ost- und Westdeutschland orientiert dieser Teil zunächst über die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen der Institution Familie (2. Kapitel), zeichnet dann sehr ausführlich die »Tendenzen des familialen Wandels« nach (3. Kapitel), um dann auf knapp zehn Seiten auf »gesellschaftstheoretische Interpretationen familialer Entwicklungsverläufe« hinzuweisen (4. Kapitel). Auch wenn D. auf diesem Gebiet ­ anders als das bisher einzige thematisch konvergente Buch »Familienreligiosität« von U. Schwab (1995) ­ nicht selbst empirisch geforscht hat, sondern sich vor allem auf die einschlägigen Daten des Bundesministeriums für Familie stützt, gelingt ihm mit diesem ersten familiensoziologischen Teil eine ausgezeichnete analytische Grundlegung, die die komplexen familialen Zusammenhänge verständlich aufzuarbeiten weiß und damit beste Voraussetzungen schafft für die Auseinandersetzung mit der Familie in religiöser und religionspädagogischer Perspektive.

Mit über 160 Seiten am ausführlichsten beschäftigt sich der II. Teil der Untersuchung mit dem Verhältnis von Familie und Religion. Auch hier wieder beginnt D. mit einer Klärung des Religionsbegriffs, wobei er die organisationssoziologische Perspektive D. Pollacks mit der sozialpsychologischen Perspektive Ch. Glocks kombiniert und von daher die kirchliche, christliche und außerkirchliche Religiosität sowie den Atheismus unterscheidet, die jeweils nach ihrer rituellen, ideologischen, experimentellen, konsequentiellen und intellektuellen Dimension bedacht werden (vgl. 103 ff.). Entsprechend sind die einzelnen Kapitel des II. Teils gegliedert.

Für das 2. Kapitel »Familie und Kirchlichkeit« sieht das dann z. B. so aus: Es befasst sich zunächst mit der »rituellen Dimension der Kirchlichkeit«, worunter die Befunde über sonntäglichen Kirchgang, Gottesdienste im Lebenslauf (an kirchlichen Feiertagen, zur Einschulung, Taufe, Konfirmation, Trauung, Bestattung), religiöse Praxis im kirchlichen Kindergarten, Tischgebet und persönliches Gebet abgehandelt werden. Es folgen die Daten »zur ideologischen Dimension der Kirchlichkeit«, zu Gottesglauben, Kirchenverbundenheit und Einstellung zu Glauben, Christentum und Religion allgemein. Dann geht es um die »experimentelle Dimension der Kirchlichkeit«, wo nach religiösen Bedürfnissen und Erfahrungen gefragt wird. Danach wird die »konsequentielle Dimension der Kirchlichkeit« in den Blick genommen mit ihren Auswirkungen auf Partnerschaft und Ehe sowie auf die religiöse Erziehung der Kinder. Zuletzt (but not least?) wird über die »intellektuelle Dimension der Kirchlichkeit«, über den Wissensstand zu Religion, Kirche und Bibel gehandelt und das Ganze schließlich in einer Schlusszusammenfassung gebündelt, die mit interessanten, wenn auch nicht immer neuen Ergebnissen aufwarten kann (187­192).

Dimensional analog beschäftigen sich dann die Kapitel 3­5 mit »Familie und ðChristlichkeitЫ, »Familie und Atheismus«, »Familie und außerkirchliche Religiosität« und das 6. Kapitel gleichsam ðaußer der ReiheÐ mit »religiösen Mischformen in der Familie als Forschungsdesiderat«. Seinen Abschluss findet der II. Teil im 7. Kapitel »mit einem offenen Problem« bzw. der aufregenden Frage »Familie als Religion?« (245­252). Gerade unter einem funktional bestimmten Religionsbegriff lässt sich diese Frage durchaus positiv beantworten, denn nicht nur in Bezug auf die Kontingenzbewältigung, sondern auch bei den Möglichkeiten familiärer Kommunikation oder der unauflöslichen Eltern-Kind-Beziehung kann heute die Familie selbst zur Religion werden. Hier lohnt es sich weiter zu denken und vor allem weiter zu lesen im III. Teil der Arbeit, in dem D. unter religionspädagogischer Perspektive das ðhohe Lied der FamilieÐ singt.

Den Anfang dieses abschließenden Teiles, der die Analyseergebnisse des Vorangegangenen zu religionspädagogischer Bearbeitung ðin die Scheuer einfahrenÐ will, machen einige sparsame Äußerungen D.s zu seiner religionspädagogischen Position. Danach bekennt er sich zu einer »christlichen Religionspädagogik« als »Disziplin zwischen Theologie und Pädagogik«, »für die eine theologische Vergewisserung als konstitutives Element unumgänglich dazugehört« (261 f.). Dementsprechend beginnen die religionspädagogischen Ausführungen mit einer »biblisch-theologischen Reflexion« und der normativ befreienden Feststellung, dass es in der Bibel weder eine »Theologie der Familie« gibt noch dass in ihr eine bestimmte Familienform als verbindlich festgeschrieben ist. »Unser heutiger Familienbegriff ist biblischem Denken fremd«, weshalb D. hier lieber von »familialem Zusammenleben« spricht, einer Begrifflichkeit, die ihm mittels der bis heute gleich gebliebenen familialen Grundbeziehungen zwischen Vater, Mutter und Kind nicht nur einen Brückenschlag über den garstigen historischen Graben erlaubt, sondern ihm zudem die theologische Integration der Gottesbeziehung in den Familienzusammenhang ermöglicht (263 ff.). Daraus resultiert neben anderem die »ausgesprochene Hochschätzung der familialen Lebensform« in der Bibel, der auch D. anhängt, ungeachtet der »Relativierung angesichts des bevorstehenden Gottesreiches« in der Verkündigung Jesu. Deren Radikalität macht D. nur insoweit mit, als er der Familie einen »Letztwert« und jede Art von »Vergöttlichung« abspricht, was aber in D.s Augen ihre »besondere theologische Dignität« nicht ausschließt (273 ff.).

Die analytisch belegte und theologisch bedachte Wertschätzung der Familie wird vollends deutlich in den »lerntheoretischen Überlegungen« und Aufgabenbestimmungen »im Rahmen einer christlichen Familienerziehung« des zweiten und dritten Kapitels, dem konsequenten und eloquenten Kernbereich und Kernanliegen von D.s Arbeit. Wenn auch ohne ausdrückliche Reflexion von Lernbegriff und -theorien, ist die religionspädagogische »Botschaft« klar, die D. mit seinem engagierten Plädoyer für die Familie als »herausragendem religiösen Lernort« vermitteln will! Er stimmt B. Groms pointiertem Votum zu, »dass ðjemand, der nicht in einem religiös-kirchlichen Elternhaus aufwächst, nur unter besonders günstigen Umständen ... einen Zugang zu Glauben und Kirche findetЫ (278), was natürlich die Rückfrage provoziert, wie er angesichts solch steiler Äußerung mit dem familiensoziologischen Forschungsbefund umgeht, wonach etwa der familiären Glaubensvermittlung »manifeste Erfolgslosigkeit« (F. X. Kaufmann) attestiert wird. D. leugnet diesen Befund nicht, differenziert ihn aber berechtigterweise, indem er zwischen »impliziter und expliziter religiöser Erziehung« unterscheidet. Danach hat sich nämlich im Hinblick auf die implizite Erziehung ­ der beziehungsbedingten Vermittlung von Grunderfahrungen wie Vertrauen, Angenommensein und Liebe als Teil der allgemeinen Persönlichkeitsentwicklung ­ die »Leistungsfähigkeit heutiger Familien im Großen und Ganzen verbessert«, während die explizite religiöse Erziehung als primär kognitive Vermittlung von Glaubensinhalten in den Familien tatsächlich stark zurückgegangen ist. Hier bringt D. dann die sekundären Sozialisationsinstanzen und -orte, Gemeinde und Schule, Kindergarten und Religionsunterricht, ins religionspädagogische Spiel, und zwar nicht nur in ihrer unabdingbaren Verwiesenheit auf die Familie, sondern auch im komplementären Sinn der Unterstützung der familialen religiösen Erziehung. In dieser Hinsicht erfährt D.s Forderung nach »Entwicklung einer Lernorttheorie« als Gesamtkonzeption der verschiedenen Lernorte bei je eigener Profilierung und funktionaler Schwerpunktsetzung ihre plausible Berechtigung. Das ist nicht unbedingt neu, bekommt aber eine neue Perspektivierung durch das leitende Interesse, die »Familie ... als grundlegenden Lernort zu profilieren, der die Einflüsse der anderen Lernorte synthetisiert« (304 f.). Dem ist sicher zuzustimmen, solange eine verhältnismäßige Ausgewogenheit gewahrt bleibt und es weder zu einer Nivellierung der jeweiligen Lernortspezifika noch zu einer Fixierung auf nur ein didaktisches Bedingungsfeld kommt.wichtiges Buch handelt, das jeder Religionspädagoge ­ egal an welchem Lernort ­ möglichst ganz »studiert« haben sollte.