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Ausgabe:

April/2006

Spalte:

442 f

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Winter, Elisabeth Thérèse

Titel/Untertitel:

Weltliebe in gespannter Existenz. Grundbegriffe einer säkularen Spiritualität im Leben und Werk von Simone Weil (1909­1943

Verlag:

Würzburg: Echter 2004. VIII, 193 S. 8° = Studien zur systematischen und spirituellen Theologie, 40. Kart. Euro 25,00. ISBN 3-429-02616-4.

Rezensent:

Wolfgang Dietzfelbinger

Die Vfn. dieser Innsbrucker Dissertation ist Dominikanerin. Erklärtermaßen ist das Motiv der Studie ihre eigene Überzeugung, dass es doch eine unlösbare Verbindung zwischen Spiritualität und Weltlichkeit geben müsse. Untersucht wird dies am Denken, Leben und Leiden der jüdisch-französischen Philosophin Simone Weil. Voraussetzung für die Vfn. ist das Evangelium als Norm und Kritik aller Spiritualität in der Kirche. Sie betont zudem, dass diese stets zeitgemäß im Sinne des Konzilsdokuments »Gaudium et Spes« zu sein habe, indem sie den Eigenwert der weltlichen Bereiche anerkennt und sich freihält von einer individualistisch beschränkten weltverneinenden Frömmigkeit.

Bevor sie die Spiritualität von Simone Weil entfaltet, skizziert die Vfn. deren biographischen Hintergrund. Herzstück ihrer Lebensgeschichte ist ein Jahr Fabrikarbeit, ihr Tagebuch darüber ein erschütterndes Dokument. Radikale Hingabe reibt sich mit ihrer zarten Konstitution und mangelnden Geschicklichkeit, und nach einem Jahr muss sie das Experiment beenden. Sie gerät mehr und mehr in den Sog des mystischen Ergriffenseins durch Christus. In dieser Zeit entsteht auch Simone Weils wohl bekanntester Text mit dem Titel »Prolog«, Schilderung eines überwältigenden Entrückungserlebnisses. Immer stärker ist sie von der Sehnsucht beseelt, am Unglück der Menschheit teilzunehmen. Vielfältig unterwegs, kommt sie 1942 über New York nach London, wo sie im August 1943 an Herzmuskelschwäche stirbt, verursacht durch Hunger und Lungentuberkulose. Ob sie sich auf dem Sterbebett noch hat taufen lassen, ist umstritten. Durchzogen ist ihr Leben von der fast unerträglichen Spannung zwischen Absicht und Verwirklichung. Dementsprechend klaffen die Urteile auseinander zwischen höchster Bewunderung und vernichtender Kritik.

In ihrer religiösen Tiefe steht Simone Weil an der Seite großer Mystiker, Männern und Frauen wie Meister Eckhardt und Johannes vom Kreuz, Teresa von Avila und Ignatius von Loyola. Von diesem Zentrum aus entfaltet die Vfn. Simones Spiritualität in vier Aspekten:

1. Die geforderte Haltung der Solidarität sucht zunächst den benachteiligten Menschen in seiner Situation wahrzunehmen, in seinem Leiden auszuhalten. Dies ist nur möglich, wenn ich mich selbst vergesse und so zum Werkzeug tauge, durch das Gott tätig werden kann. Solchermaßen wird eine neue Form von Heiligkeit verwirklicht, die alles Menschliche und Weltliche einschließt.

2. Die Haltung des Wirklichkeitsgehorsams überrascht bei einer eigenwilligen und nicht-konformen Frau. Simone Weil betrachtet die Schöpfung, erfährt deren Schönheit und Harmonie und versucht, diese im Gehorsam nachzuahmen. Aus dem Ja zu Gottes Schöpfung erwächst im Menschen die Haltung der Indifferenz ­ eine alte geistliche Tugend. Simone Weil sieht es als Geschenk der übernatürlichen Gnade, wenn der Mensch fähig ist, im Einklang mit Welt und Wirklichkeit zu stehen. Eingeschlossen ist dabei ausdrücklich die Akzeptanz unabänderlicher Gegebenheiten wie Schicksalsschläge, Krankheit und Tod.

3. Im Jahr vor ihrem Tod verfasst sie ihre letzte große Schrift »Die Einwurzelung«. Einwurzelung, ein wichtiges Bedürfnis der Seele, meint die aktive und natürliche Teilhabe an einer Gemeinschaft, die gewisse Schätze der Vergangenheit und gewisse Ahnungen des Zukünftigen lebendig erhält. Der Wurzelboden ist die Heimat, die Arbeit, vor allem aber die Kultur. Besonders schätzt Weil Literatur und Poesie, Märchen und Mythen der Völker als bleibenden Schatz der Weisheit.

4. Damit hängt eng zusammen die Haltung der Aufmerksamkeit. Es geht um gesammelte Wahrnehmung der Wirklichkeit. »In allen Erscheinungen lesen, dass die Welt existiert. In allen Erscheinungen Gott lesen. Nichts Geringeres.« Die Aufmerksamkeit gilt der sinnenhaft erfahrbaren Welt in ihrem Transparenzcharakter.

Über Simone Weil hinausgehend sucht die Vfn. abschließend deren Thesen ins Heute zu verlängern. Sie betont, dass wahre Spiritualität sich nicht in privater Innerlichkeit erschöpft, sondern sich vollendet in der Aktion und einem uneingegrenzten Denken. Sie partizipiert an der menschlichen Ohnmachtserfahrung und nimmt in liebender Anteilnahme die Wirklichkeit wahr, wie sie ist. Die Vfn. erinnert in diesem Zusammenhang an Bonhoeffers Begriff der »Ergebenheit« (aus »Widerstand und Ergebung«). So bietet diese Studie das anspruchsvolle Programm einer zeitgemäßen Spiritualität. Die Probe aufs Exempel werden Übung und Praxis leisten müssen.