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Ausgabe:

April/2006

Spalte:

439–442

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Ueberweg, Friedrich

Titel/Untertitel:

Grundriss der Geschichte der Philosophie. Völlig neu bearbeitete Ausg. Hrsg. von H. Holzhey. Die Philosophie des 18. Jahrhunderts. Bd. 1: Grossbritannien und Nordamerika, Niederlande

Verlag:

Hrsg. von H. Holzhey u. V. Mudroch unter Mitarb. von D. Brühlmeier, F. Chevenal u. S. Zurbuchen. Basel: Schwabe 2004. XXIII, 1328 S. gr.8°. Lw. Euro 175,00. ISBN 3-7965-1987-3.

Rezensent:

Detlef Dörin

Die Bedeutung Englands innerhalb der europäischen Philosophiegeschichte dürfte in keiner Epoche erheblicher gewesen sein als im Jahrhundert der Aufklärung; dafür sprechen Namen wie z.B. David Hume, Shaftesbury, Adam Smith, Adam Ferguson, Bernard de Mandeville. Diese und zahlreiche andere Denker sind nicht nur in Großbritannien selbst, sondern auch (mitunter sogar intensiver) auf dem Festland rezipiert worden und haben das jeweilige Erscheinungsbild der Aufklärung mitgeprägt. Dennoch fehlt es an neueren, umfassenderen Überblicksdarstellungen zur Philosophie im England des 18. Jh.s. Diese Lücke wird jetzt, so lässt sich vorab konstatieren, durch den neuesten Band des »Ueberweg« geschlossen, der zugleich die auf vier Bände angelegte Reihe zur Philosophie des 18. Jh.s eröffnet (zur Geschichte und Konzeption des »Grundrisses« von F. Ueberweg vgl. meine Rez. des 4. Bandes der Reihe zum 17. Jh. in ThLZ 127 [2002], 1103­1106. Dort finden sich auch weitere Angaben zur äußeren Gestaltung des Handbuches, auf deren Wiederholung ich hier verzichte).

Berücksichtigt werden neben Großbritannien die nordamerikanischen Kolonien bzw. die jungen Vereinigten Staaten von Amerika (mit dem Schwerpunkt Revolution und Verfassungsdiskussion) und die Niederlande, deren Philosophiegeschichte des Aufklärungszeitalters in einer engen Abhängigkeit zu Großbritannien gesehen wird. Im Gegensatz zu den Zuständen im eigentlichen England, wo Oxford und Cambridge nur mäßige Bedeutung besaßen, spielten in den Niederlanden allerdings die Universitäten als Orte der philosophischen Diskussionen eine erhebliche Rolle. Das erinnert an die deutschen Verhältnisse, aber auch an Schottland, wo insbesondere die Hochschulen von Edinburgh, Glasgow und Aberdeen dominierende intellektuelle Zentren bildeten.

Legt man die England-Darstellung der letzten (12.) bearbeiteten Auflage des »Ueberweg« zur Philosophie der Neuzeit bis zum Ende des 18. Jh.s (Berlin 1924) neben den neuen Band, wird ein geradezu überdimensionaler Qualitätssprung deutlich, der sich nicht nur in der ungemein angewachsenen Seitenzahl dokumentiert (knapp 1000 S. gegenüber 80 S. zum 18. Jh.), sondern auch in der viel weiter angelegten Breite der einbezogenen Themen. Der Gerechtigkeit halber ist allerdings darauf hinzuweisen, dass die frühere Auflage zwei Autoren hatte, die jetzige 27 aus acht Ländern. Schon im Titel des Buches fällt die geographische Erweiterung ins Auge, denn weder Amerika noch die Niederlande sind im alten Handbuch auch nur am Rande vertreten. Der Anlage des neuen »Ueberweg« entsprechend werden auch die Disziplinen mehr oder minder ausführlich beachtet, die nur partiell in einer Beziehung zur Philosophie stehen, so die Theologie, die Geschichte der Naturwissenschaften, die Kunst, die politische Publizistik, die Belletristik, die Historiographie. Die Darstellung ist, gemäß der generellen, schon in der ersten Auflage verfolgten Konzeption des »Grundrisses«, an der Erörterung des Lebens und Werkes der einzelnen Philosophen orientiert, die wiederum inhaltlich thematisierten Kapiteln zugeordnet worden sind, über deren Benennung und gegenseitige Abgrenzung im Einzelnen sicher zu diskutieren wäre (z. B. »Moralists«, Idealismus, Debatte über die Seele, Natur- und Wissenschaftsphilosophie, Erkenntnislehre und Psychologie im Gefolge Lockes).

Die wichtigsten Werke der behandelten Autoren werden in ihrem jeweiligen Inhalt skizziert; es folgen Erörterungen zur »Lehre«, also die Doxographie. Breiten Raum nehmen Bibliographien der Primär- und Sekundärliteratur ein (einschließlich Angaben zum handschriftlichen Nachlass). Was die Aktualität der letzteren Rubrik angeht, so sind hier, wie schon bei früheren Bänden der Reihe, mitunter Mängel anzumelden, die sicher teilweise auf die langwierige Entstehungsgeschichte des Werkes zurückzuführen sind. Neben Kapiteln, die noch Titel nachweisen, die kurz vor Erscheinen des Buches vorgelegt wurden, stehen Abschnitte, deren Literaturlisten schon vor Jahren zum Abschluss gelangt sind. So stammt im Kapitel über die Universitäten und gelehrten Gesellschaften die aktuellste Angabe aus dem Jahr 1996 (!). Ein für die Sozietäten schlechthin grundlegendes Werk, wie es »British Clubs and Societies 1580­1800« (Oxford 2000) von Peter Clark bildet, findet so keine Erwähnung, geschweige denn Berücksichtigung in der Darstellung. Wünschenswert wären auch einige Erläuterungen zur allgemeinen Geschichte Englands gewesen. Zu Schottland und den Niederlanden finden sich solche Mitteilungen zumindest in knapper Form und belegen die Bedeutung, die solchen Kenntnissen zum besseren Verständnis philosophiegeschichtlicher Entwicklungen zukommt.

Diese Mängel beeinträchtigen das Werk jedoch letztendlich nur unwesentlich. Der reiche Gewinn, der aus der Benutzung der Bände zu ziehen ist, kann mit wenigen Sätzen kaum vermittelt werden. Es sind nicht nur die »großen Denker«, über die informiert wird, es sind auch die »zweit- und drittrangigen«, in ihrer Zeit jedoch oft stark beachteten Autoren, die Berücksichtigung finden. Die »Großen« wiederum kommen nicht nur mit ihren philosophischen Arbeiten im engeren Sinne zum Zuge, sondern erhalten eine Darstellung ihres gesamten Werkes. Wird z. B. im alten »Ueberweg« nur Edmund Burkes Jugendwerk zur Ästhetik behandelt, so erfährt jetzt seine ungleich wirkungsmächtigere Schrift über die Französische Revolution breite Beachtung. Als besonders wertvoll erscheinen mir die eigens ausgewiesenen Kapitel zur Wirkungsgeschichte, die im alten »Ueberweg« bestenfalls in Nebensätzen Erwähnung fand. Jetzt stehen ausführliche, auch bibliographisch unterfütterte Ausführungen zur Rezeption in England selbst und auf dem Festland (hauptsächlich Frankreich und Deutschland) zur Verfügung. Der Entwicklung der philosophiegeschichtlichen Forschungen der letzten Jahrzehnte trägt die Einführung eigener Abschnitte zur Philosophie in Schottland Rechnung, die vor 80 Jahren noch unbefangen der englischen Philosophie subsumiert wurde. Dabei steht die schottische Aufklärung in einem besonderen Maße für bestimmte Charakteristika, die mit dem englischen Einfluss auf die europäische Entwicklung des 18. Jh.s in Verbindung gebracht werden: starke Beachtung der Naturwissenschaften, Berücksichtigung der Ökonomie, Einbeziehung der historischen Hintergründe gesellschaftlicher Bedingungen.

Die Bedeutung eines England-Bandes für die deutsche Theologie- und Kirchengeschichte liegt auf der Hand. Ist auch Frankreich das Hauptland der Aufklärung, so übten die dort entwickelten radikal religionskritischen Tendenzen, die zum Teil auf die Unterdrückung der Meinungsfreiheit innerhalb der französischen Monarchie zurückzuführen sind, in Deutschland geringere Anziehungskraft aus. Dagegen fanden die intensiven Debatten um Religion und Kirche, die im eher toleranten britischen Königreich geführt wurden, im protestantischen Deutschland größte Aufmerksamkeit. Die dortige Aufklärungsdiskussion ist immer stark von theologischen Fragestellungen geprägt worden; das belegen Namen wie Lessing, Mendelssohn, Hamann, Herder, Kant u. a. Das reiche englischsprachige Schrifttum zum Themenkomplex Religion, Kirche, Glaube u. a. konnte hier also mit einem erheblichen Interesse rechnen. Das belegen schon die zahlreichen Übersetzungen, die vor allem von Leipzig aus ins Land gingen. Unter den Theologen war diese Resonanz freilich oft eher negativ konnotiert. Vor allem im stark beachteten englischen Freidenkertum bzw. Deismus, dem im vorliegenden Band ein ausführliches Kapitel gewidmet ist (177­245), erblickte man die größte Gefahr, der es zu begegnen galt. Das bedeutete aber auch eine intensive Beschäftigung mit dieser Thematik, wie sie z. B. von Sigmund Jakob Baumgarten in seinem Rezensionsorgan »Nachrichten von einer hallischen Bibliothek« betrieben worden ist. Die Besprechung von Schriften für und wider die Freidenker füllen viele Seiten dieser Zeitschrift.

So werden beispielsweise im Jahrgang 1748 immerhin ganze 60 Seiten der Besprechung der Schriften des Deisten Thomas Woolston gewidmet, die sich vor allem gegen die Gültigkeit der biblischen Wundererzählungen richten. Er habe, schreibt Baumgarten, wohl mehr Mühe an die Schriften dieses »verwegenen Autors« gewendet, als Woolston »gehabt hat, sie zu schreiben« (535). Als gefährlichster Freidenker galt in Deutschland allerdings Anthony Collins, den jedoch, so erneut Baumgarten, mehrere Verfasser »hinlänglich und glücklich« widerlegt hätten. Unter ihnen befand sich auch der berühmte Philologe Richard Bentley mit einer unter dem merkwürdigen Pseudonym »Phileleuterus Lipsiensis« veröffentlichten umfangreichen Apologie; auch sie wird dem deutschen Leser nahe gebracht. Vergleichbare Beachtung wie die Freidenker fand Shaftesbury, zuerst als Ästhetiker, dann aber auch als Kritiker des Aberglaubens und des Fanatismus¹ sowie als Vertreter eines sehr sublimen philosophischen Gottesbegriffes. Aus dem späten 18. Jh. ist u. a. die ausufernde Debatte um Burkes Revolutionskritik von Belang, denn Burke gründete die staatliche Ordnung, deren Zusammenbruch er im revolutionären Frankreich beobachtete, auch und gerade auf die unaufgebbare Gültigkeit religiöser Werte. Die sich in Deutschland formierende konservative Bewegung der Zeit um 1800 ist ihm in dieser Orientierung gefolgt.

Der neue »Grundriss« wird, davon ist auszugehen, raschen Eingang in die Handapparate der einschlägigen Bibliotheken finden, um für die nächsten Jahrzehnte seine Dienste als unentbehrliches Nachschlagewerk zu leisten. Es bleibt zu hoffen, dass die übrigen drei Bände zum 18. Jh. in absehbarer Zeit der Forschung zur Verfügung gestellt werden können.