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Ausgabe:

April/2006

Spalte:

435–437

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Knappe, Ulrich

Titel/Untertitel:

Theory and Practice in Kant and Kierkegaard

Verlag:

Berlin-New York: de Gruyter 2004. X, 155 S. gr.8° = Kierkegard Studies. Monograph Series, 9. Lw. Euro 49,95. ISBN 3-11-017789-7.

Rezensent:

Karl Verstrynge

Ausgehend von Kants Erkenntnistheorie und Ethik untersucht Ulrich Knappe die systematischen Beziehungen zu Kierkegaards Denken. Dieses Buch, der neunte Band in der vortrefflichen Reihe Kierkegaard Studies, ist in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert. Es exponiert in souveräner Weise wesentliche Aspekte von Kants theoretischer und praktischer Philosophie. Im Anschluss daran wird auf interessante Weise das Werk Kierkegaards interpretiert und ein interner Zusammenhang zu Kant ausgearbeitet. Dabei weist K. einen in der Forschung bisher wenig ausgearbeiteten Kantischen Hintergrund von Kierkegaards Denken nach, stellt aber auch deutlich heraus, wo die Grenzen eines von Kant aus verstandenen Kierkegaard liegen. Im Gegensatz zu vielen Arbeiten zu Kant, zum Deutschen Idealismus oder zu Kierkegaard geht es K. nicht primär darum, philosophiehistorische Verbindungslinien zu ziehen, sondern um die ­ anspruchsvollere ­ Aufgabe, die jeweiligen Theorien systematisch aufeinander zu beziehen und deren philosophische Wahrheitsansprüche kritisch zu prüfen.

Die ersten beiden Kapitel sind vor allem Kants Erkenntnistheorie gewidmet und entfalten vor diesem Hintergrund die fragmentarisch gebliebenen erkenntnistheoretischen Äußerungen Kierkegaards. Das erste Kapitel arbeitet diejenigen Voraussetzungen von Kants Position heraus, die nicht die von den Verstandeskategorien aus exponierte transzendentalphilosophische Problematik betreffen, und weist nach, dass der Kierkegaard der Nachschrift von einer analogen Problemlage ausgeht. Dies beinhaltet im Besonderen ein analoges Verständnis der Urteile und Urteilsformen, der (vorläufigen Konzeption der) Anschauungen und Anschauungsformen (vor allem der Zeit), der Ablehnung der intellektuellen Anschauung und des Festhaltens am Satz vom Widerspruch. Von dem letzteren Teilaspekt ausgehend wird zudem die Problematik von Kants Wahrheitskonzeption entfaltet, die thematisch zum zweiten Kapitel überleitet. Darin werden dann Kierkegaards negative Stellungnahmen zu Kants Erkenntnistheorie als Missverständnis entlarvt, darüber hinaus wird aber auch die grundlegende systematische Differenz von Kants und Kierkegaards Verständnis von Wahrheit angegeben und analysiert. Schön arbeitet K. die Pointe von Kants transzendentaler Logik in ihrer wahrheitsermöglichenden Funktion heraus und kontrastiert diese mit Kierkegaards Kritik des spekulativen Denkens und dessen Analyse von »objektiver Reflexion«. Dabei zeigt er eindringlich, dass Kierkegaard die Erkenntnis mitkonstituierende Leistung des Verstandes ablehnt und damit die so genannte kopernikanische Wende Kants zunichte zu machen versucht. Während Kant transzendentaler Idealist und empirischer Realist ist, schreibt er Kierkegaard nur die letztere Position zu. Dieses Ergebnis wird zum Schluss noch durch einen Streifzug durch die Hegelsche Philosophie abgerundet und gezeigt, dass die erkenntnistheoretische Position Kierkegaards von Hegels dialektischem Denken in noch gravierenderem Maße abweicht als von Kant.

Das dritte Kapitel leitet zur praktischen Philosophie über, indem zunächst diejenige praktische Orientierung thematisiert wird, die die nicht- oder unmoralische Einstellung charakterisiert. K. weist nach, dass das ästhetische Stadium Kierkegaards (wenigstens in der Ausprägung, die es in der so genannten Gelegenheitsrede, auch bekannt als »Reinheit des Herzens«, erfahren hat) auf den wesentlich selben Strukturen beruht, die Kant als hypothetische Imperative und vor allem als Gebote der Klugheit beschrieben hat. Das zeigt er grundlegend anhand des Kierkegaardschen Begriffes der »Wankelmütigkeit«. Darüber hinaus geht K. verschiedenen Nuancen des unmoralischen Wollens bei Kierkegaard nach, die er nicht so sehr als Abweichung, sondern als sinnvolle Erweiterung und Vertiefung von Kants Ansatz interpretiert.Das vierte Kapitel stellt nicht nur eigenständig die Konzeption des kategorischen Imperativs dar, sondern bringt diese auch in einen inneren Zusammenhang mit Kierkegaards ethischem Stadium in Furcht und Zittern. Dabei ist K. sich durchaus auch der Möglichkeit einer hegelianisierenden Interpretation bewusst, vermag aber gleichwohl die große Plausibilität einer Kantischen Dimension in Kierkegaards Werk unter Beweis zu stellen. Der metaethischen Frage nach der Begründung des kategorischen Imperativs, der sich Kierkegaard, wie K. zu Recht ausweist, nicht wirklich gestellt hat, ist eine ausführliche Diskussion gewidmet. Dabei werden die vielen Schwierigkeiten, die Kants Begründungsprogramm nach sich zieht, in klaren Zügen herausgestellt.

In Kapitel 5 werden Grundzüge der Kantischen Ethik in Abstraktion von der spezifischen Konzeption des kategorischen Imperativs zum Vorschein gebracht. Dabei konzentriert sich die Interpretation von K. vor allem auf den subjektiven Aspekt von moralischem Handeln, dem Handeln aus Pflicht, und zeigt eine innere Verwandtschaft zu der Betonung des »Wie« bei Kierkegaard auf. Diese Analyse fungiert dann als Rechtsgrund, auch im religiösen Stadium der Kierkegaardschen Stadienlehre ein Kantisches Erbe zu verorten, was K. mit detaillierter Textkenntnis gelingt. Gleichwohl erkennt K. eine Abkehr vom kategorischen Imperativ in dieser immanenten Konzeption von Religiosität. Der Unmöglichkeit einer Universalisierung entspricht eine Abkehr von Rationalitätsstandards und von hier aus deutet K. auf eindringliche Weise das Kierkegaardsche Phänomen des Paradoxons.

Das sechste und letzte Kapitel ist dem genuin christlichen Stadium bei Kierkegaard gewidmet und zeigt, dass sowohl aus der Perspektive des erkennenden als auch aus der Perspektive des handelnden Subjektes jegliche Affinität zu Kants Philosophie verloren geht. Die erstere Perspektive, so weist K. nach, führt zu einem Bruch mit jeglicher Rationalität, da die Konzeption des Gott-Menschen als logisch widersprüchlich angesetzt wird, von wo aus Kierkegaards Begriff der Absurdität verständlich wird. Die letztere Perspektive führt zu einem Bruch mit so gut wie allen Kantischen moralphilosophischen Überzeugungen, die noch im ethischen und im religiösen Stadium leitend waren. Zusätzliche Schärfe gewinnt dabei die Analyse noch dadurch, dass wichtige Ergebnisse der vorausgegangenen Deutungen mit der Eigentümlichkeit des Christlichen Stadiums kontrastiert werden.

K.s Buch ist durchgehend von einem gediegenen philosophisch-interpretatorischen Niveau. Es stellt einen systematischen Zusammenhang zweier Denker unter Beweis, deren jeweilige Apologeten verschiedener nicht sein können, und bewahrt zugleich Eigenständigkeit und Objektivität bei der Auswertung und Durchdringung der jeweiligen Textbefunde. K. stellt sich entschieden gegen postmoderne, literaturwissenschaftliche und theologische Verkürzungen des Kierkegaardschen Werkes, indem er mit begrifflicher Nüchternheit dessen philosophische Substanz zu Tage fördert. Dabei geht manches Mal der Kierkegaard verloren, der eben auch unter Pseudonymen schrieb ­ K. hält die Bedeutung der Pseudonymität für nachrangig ­, der auch Literat und auch Theologe war.

Man kann sich die Frage stellen, ob sich mit dem Einklammern der Rolle und der Bedeutung der Pseudonymen der Interpretationsrahmen nicht unwillkürlich ändert. Gleichwohl aber nimmt K. dieses Risiko bewusst in Kauf wegen einer klaren philosophischen Rekonstruktion, deren eigener Wert nicht bezweifelt werden kann.