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Ausgabe:

April/2006

Spalte:

431–433

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Bauer, Joachim

Titel/Untertitel:

Warum ich fühle, was du fühlst. Intuitive Kommunikation und das Geheimnis der Spiegelneurone.

Verlag:

2. Aufl. Hamburg: Hoffmann und Campe 2005. 192 S. m. Abb. 8°. Geb. Euro 19,95. ISBN 3-455-09511-9.

Rezensent:

Reiner Marquard

Vittorio Gallese und Giacomo Rizzolatti von der Universität Parma haben Nerveneinheiten bei Affen entdeckt, die in Erregung gerieten, wenn der Körper eine Tätigkeit ausführte oder wenn dieselbe Tätigkeit bei einem anderen Organismus gesehen wurde. So genannte »Spiegelneurone« sind in der Lage, das Verhalten des anderen zu deuten und zu verstehen. Was dem Affen recht ist, ist dem Menschen billig. Dass auch der Mensch Spiegelzellen hat, wurde nicht nur mit der funktionellen Kernspinmethode, sondern auch mit Einzelzellableitungen nachgewiesen. Sympathie und Einfühlung, Lernen durch Nachahmung und alle Formen der menschlichen Kommunikation können von solchen Spiegelneuronen ausgehen. Der prämotorische Cortex ist zum Objekt neurobiologischer Begierde avanciert.

Das neuste Buch von Joachim Bauer fasst erstmals das Wissen um die Spiegelneuronen zusammen und entzieht die Debatte um die Existenz der Neuronen der Spekulation. Seine Ergebnisse haben eine eminente Bedeutung für Pädagogik, Psychologie und Medizin: Sowohl gute Beziehungen als auch Angst und Stress regulieren Gene, mit unmittelbaren Folgen für die Produktion von Hormonen und zahlreichen Botenstoffen. Erlebnisse steuern u. a. auch solche Gene, die im Gehirn die Verschaltungen von Nervenzellen beeinflussen und Nervenzellen wachsen lassen oder zerstören können. Dies bedeutet, dass sich das Gehirn, abhängig von dem, was wir erleben und gestalten, in einem permanenten Umbauprozess befindet. Vor diesem Hintergrund wird deutlich, welche zum Teil alarmierenden Konsequenzen sich aus nicht gelungener zwischenmenschlicher Beziehungsgestaltung, aus persönlicher Gewalterfahrung und aus dem Konsum der durch Medien dargebotenen Gewaltmodelle ergeben: ðSpiegel-NervenzellenÐ speichern miterlebte bzw. in den Medien gesehene Verhaltensweisen anderer Personen im eigenen Gehirn so ab, dass daraus eigene Handlungsprogramme entstehen können. Was Kinder sehen, hat also neurobiologische Folgen!

Resonanz bringt etwas zum Schwingen und Erklingen. Die Resonanz kann sich sogar ausdehnen und eigene Schwingungen auf ein anderes Objekt übertragen. Eine neurobiologische Resonanz liegt dann vor, wenn »Nervenzellen, die im eigenen Körper ein bestimmtes Programm realisieren können, Š auch dann aktiv werden, wenn man beobachtet oder auf andere Weise miterlebt, wie ein anderes Individuum dieses Programm in die Tat umsetzt« (23). Spiegelneuronen besitzen die Eigenschaft, geringste (sogar subliminale) Eindrücke intuitiv zu einer zu erwartenden (Gesamt-)Sequenz zu ergänzen. Diese Eigenschaft der Spiegelneuronen hilft uns, Mitgefühl und Empathie zu empfinden und die Gefühle anderer in uns zu rekonstruieren. Wir bilden uns über unser Gegenüber eine »Theory of Mind« (ein Eindruck innerer Beweggründe [50]). Diese Rekonstruktion durch neurobiologisch stimulierte Resonanzen gelingt dort deutlicher, wo das intuitive Verstehen zwischen zwei Subjekten vor einem »gemeinsamen Aufmerksamkeitsfokus« (ðjoint attentionÐ [55]) geschieht.

Die sozialethische Bedeutung dieser neurobiologischen Erkenntnis liegt auf der Hand: »Ohne Spiegelneurone kein Kontakt, keine Spontaneität und kein emotionales Verstehen« (57). Neurobiologisch stimulierte Resonanzen brauchen ein Gegenüber, um sich in einem Individuum kultivieren zu können. Wird Empathie vorenthalten oder gar als Gegenbild bewusst inszeniert (Gefühlslosigkeit und Brutalität), entsteht eine Resonanzkatastrophe: Eine moderne Variante der Resonanzkatastrophe ist das Mobbing, dessen Extremfall über die Erkrankung hinaus in der Tat der Tod sein kann. Der Tod wird auf Raten gestorben. Mobbing ist der Entzug von Resonanz und die Auslieferung an die soziale Kälte. Was eigentlich zum neurobiologisch-anthropologischen Standardprogramm einer Person gehört, wird willentlich nicht eingesetzt, sondern unterdrückt. Die Spiegelneuronen feuern nicht, sie werden im Zaum gehalten: Die Signale bleiben aus, dafür werden andere einer Resonanz entgegenlaufende Signale gesendet, die kontrafaktisch wirken sollen als verweigerter Blick, als verweigerte Geste oder als bedrängendes Wort.

»Durch Spiegelnervenzellen ausgelöste Resonanz bedeutet: Indem wir Handlungsabsichten, Empfindungen und Gefühle eines Menschen selbst in uns spüren, gewinnen wir ein spontanes, intuitives Verstehen dessen, was den anderen bewegt« (86f.). Menschen, mit denen wir uns gut verstehen ­ über ein Kontinuum hinweg ­, wecken in uns eine so genannte innere Repräsentation: Wir tragen diesen Menschen in uns durch ein bestimmtes internalisiertes Resonanzmuster. Es hat sich sozusagen als Software auf der Festplatte des eigenen Lebens installiert und spielt sein Programm jeweils mit ein. Repräsentationen sind »Konstrukte unseres Gehirns« (86). D. h., sie erfassen nicht wirklich die andere Person. Aber genau darum geht es: Wirklichkeit gibt es nicht ohne Repräsentation. Nur indem sie sich in mir ereignet, erscheint mir etwas wirklich.

Wenn das so ist ­ sind wir alle neurobiologisch konditioniert? Haben die Gene längst entschieden, wie und wo Spiegelneuronen feuern und wo nicht? Ist die Rede vom freien Willen eine Illusion? Neurobiologisch geht es darum, ein soziales Terrain zu schaffen, von dem aus ein Individuum beziehungsreich leben kann und lebt. Beziehungsreichtum kann eingeschränkt oder regelrecht verkümmert sein. Niemand von uns kann sich neu erfinden. Wir sind, wer wir sind ­ gebunden »an die Gesamtheit der im eigenen Gehirn gespeicherten Programme für Handeln, körperliches Empfinden und emotionales Fühlen« (161). Im Unterschied jedoch zu W. Singer und G. Roth, den Protagonisten dieser Debatte, hebt B. »Wahlmöglichkeiten« für »meist mehrere Reaktionsprogramme« hervor (ebd.). Diese Auswahlmöglichkeiten unterliegen drei Aspekten: 1. die biologische und emotionale Situation des eigenen Körpers; 2. der Wunsch nach gesicherten Bindungen und Bezugspersonen und 3. Fragen der sozialen Verortung (161 f.). Dann aber ist soziales Handeln nicht einfach ursächlich konditioniert, sondern Ergebnis einer Wahl von Handlungsprogrammen. Frei ist der Wille neurobiologisch insofern, als sich das Individuum in seinen aspektivischen Möglichkeiten nach Maßgabe der abgespeicherten Programme verhält. Der freie Wille erfährt in dieser Hinsicht seine Profilschärfung durch den Begriff der Verantwortung. Wirklich frei ist nicht der Wille, der ohne Konditionierung auskommt, sondern jener Wille, der sich dazu bestimmt, mit Resonanzen nicht zu geizen, sondern beziehungsreich zu leben. B.s Buch ist ein neurobiologisches und sozialethisches Plädoyer gegen die bewusst inszenierte Resonanzkatastrophe und für ein verantwortliches Mit-Sein.