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Ausgabe:

April/2006

Spalte:

427–429

Kategorie:

Christliche Kunst und Literatur

Autor/Hrsg.:

Meier, Siegfried

Titel/Untertitel:

Psalmen, Lobgesänge und geistliche Lieder. Studien zur musikalischen Exegese und biblischen Grundlegung evangelischer Kirchenmusik

Verlag:

Frankfurt a. M.-Berlin-Bern-Bruxelles-New York-Oxford-Wien: Lang 2004. XIV, 313 S. 8° = Kontexte, 36. Kart. Euro 56,50. ISBN 3-631-51575-8.

Rezensent:

Hans Seidel

2004 von der Theologischen Fakultät der Universität Erlangen-Nürnberg als Dissertation angenommen, trägt das Buch den Untertitel »Studien zur musikalischen Exegese und biblischen Grundlegung evangelischer Kirchenmusik«. Die erste Studie »Wann beginnt die evangelische Kirchenmusik« widmet sich vor allem Luthers Vorstellungen von »Kirchenmusik« und fasst zusammen: Die Aufgabe evangelischer Kirchenmusik sei es, Christologie zu betreiben, Christus zu verkündigen. (40)

Die 2. Studie trägt die Überschrift »Der Hymnus auf der Getreiderechnung«. Sie versucht den Papyrus Oxyrhynchus 1786 »zwischen neutestamentlichen Anfängen der Hymnendichtung und den frühesten uns vorliegenden Gesängen zu verorten« (43).

Wichtige Erkenntnisse seien: der Papyrus wurde nicht vervielfältigt, die Melodie ist von einem Spezialisten geschrieben (63), der Komponist hat eine »Aufführung« im Sinn und er verfügt über theoretische und praktische Kenntnisse eines hochentwickelten Tonsystems und seiner schriftlichen Umsetzung. Fragen nach der Verortung im Gottesdienst fehlen.

Die 3. Studie »Psalmen, Lobgesänge und geistliche Lieder« (Kol 3,16/Eph 5,19) geht der Frage nach, ob es sich bei den drei Begriffen um »rein plerophorische Redeweise« handelt.

Der Präzisierung hätte es gut getan, wenn der Vf. einen Blick auf die Synonym-Forschung geworfen und sich mit den Methoden der Semantik vertraut gemacht hätte. Stattdessen ein Exkurs zur Frage »Gesungen oder gesprochen?«. Diese Entweder-oder-Fragestellung ist schon im Ansatz falsch. Wenn der Vf. von »Gesängen« spricht, hat er Melodien vor Augen, wie er sie aus dem Oxyrhynchos-Papyrus (3. Jh.) auf S. 46 abdruckt. Die »Redeformen« sind für ihn ohne Musik. Im Synagogengottesdienst wurden die Texte in einem gehobenen Sprechton kantilliert. Tonbeispiele lassen sich genügend bei Lachmann, Gerson-Kiwi, Kilmer (Ugarit) und Randhofer finden. Außerdem will der Vf. nicht wahrhaben, dass sich Begriffe wie hebräisch schirje nach Text und Kontext in ihrer Bedeutung wandeln können. Ein Blick in Botterweck/Ringgren (ThWAT) zum Stichwort schir hätte genügt!

Weitere Abschnitte gelten dem Wortfeld psallein, psalmos, hymnos und hymnein. Die einzelnen Belegstellen werden nur beschrieben, semantische Analysen oder Wortfeldforschung finden nicht statt. Auf der Suche nach formalen Kriterien für den Hymnus bleibt »als eindeutiges Ergebnis nur der Er-Stil« (96 ), während die so genannten Hymnen im »Du-Stil« Gebete sind. Die Oden (hebräisch schir) seien »Bekenntnisse, coram nationibus gesungen« (103), Kultlieder der Gemeinde, da es »für die versammelte Gemeinde wichtig ist, dass miteinander gesungen und musiziert wird« (107). Solche Behauptungen vom Singen und Musizieren der Urgemeinde ziehen sich durch das ganze Buch. Im Vergleich mit dem in der 2. Studie genannten Papyrus und dem zeitgleichen Synagogengottesdienst sind sie einfach falsch.

Drei Studien zu Einzelpsalmen (Ps 30, Ps 103, Ps 137) wollen eine Auslegung unter dem Gesichtspunkt einer »musikalischen Exegese« bieten.

Die alttestamentliche Auslegung dieser Psalmen ist methodisch und sachlich völlig unzureichend. Die »musikalische Exegese« besteht für Ps 30 in der Erläuterung des Werkes von G. Schwarz, bei Ps 103 im Hinweis auf fünf Kirchenlieder und bei Ps 137 in der Feststellung, dass in den Kompositionen von Dvorak, Brian und Daubney die »Racheverse« 8­9 ausgelassen wurden. Eine gültige Lösung finde sich dagegen bei H. Schütz (Ps 137 + Gloria Patri). Der grundsätzliche Mangel der »musikalischen Exegese« besteht im Fehlen eines methodischen Ansatzes. Die Darstellung der Struktur eines Musikwerkes oder die Vertonung nur von Textteilen sind noch keine »musikalische« Exegese. Zentral geht es dem Vf. um den Nachweis der christologischen Interpretation der Texte, z. B. Ps 30 als »Osternachtspsalm schlechthin« (130).

Bei Ps 150 werden kurz die einzelnen Instrumente behandelt. Das Nachdenken über die Rezeption des Psalms beginnt mit dem Satz »Gesungen wurde auch in der Synagoge« (198). Was bedeutet hier »singen«? Gemeindegesang oder Synagogenchöre? Beides ist völlig abwegig (s. o.). Der Schlussabschnitt ist den Instrumenten im christlichen Gottesdienst heute gewidmet, die zum Teil disqualifiziert werden (Klavier, Keyboard, Marimba etc., dazu das Urteil, dass im Kirchenraum nichtkirchliche Werke keinen Platz finden sollten!).

Die 8. Studie beschäftigt sich mit Musik im Neuen Testament. Da die Aussagen des Neuen Testamentes zur Musik »sehr kontextbezogen sind, empfiehlt sich die nähere Betrachtung des Makrotextes«. Der Vf. versteht darunter das Alte Testament und die Septuaginta.

Für die zwischentestamentarische Literatur wird auf W. S. Sheppard (Amsterdam 1962) verwiesen, ohne die Ergebnisse dieser Untersuchung wenigstens ansatzweise darzustellen. Das gilt auch für die Dissertation von K. Puls (Fort Worth 1998). Im Abschnitt »Musik in den Evangelien und der Apostelgeschichte« werden die Belegstellen nur aufgezählt und pauschal behauptet, dass »gesungen« worden ist, sogar der »Hosianna«-Ruf (Mt 21,9 u. Par.)! »Musik im Corpus Paulinum« nennt Röm 15,9; 1Kor 14,7 ff.; 15,51 f.; Eph 5,19; Kol 3,16; Hebr 2,12 u. 13,15. Abgesehen davon, dass der Hebräerbrief nicht zum Corpus Paulinum gehört und Eph 5,19/Kol 3,16 bereits besprochen wurden, legt der Vf. alle Belegstellen nur kurz und oberflächlich aus. Ungenauigkeiten häufen sich (z. B. ist der Aulos keine Flöte, sondern ein Rohrblattinstrument). Nach einem kurzen Abschnitt über die Musik im Jakobusbrief spielen drei Texte der Apk. Joh. für den Vf. als Fundgrube eine Rolle (5,9: 14,3; 15,3). Seine zusammenfassende Wertung lautet: »Die verhältnismäßig geringe Zahl der Belege von ðMusik im Neuen TestamentÐ wird durch die christologische Konzentration in ihrer Bedeutung aufgewertet« (247). Was soll das heißen!?

Nach der allgemeinen Feststellung, die »christliche Kirche hat gesungen und singt noch heute« bzw. »darf singen, soll singen« (248), wendet sich der Vf. dem für ihn entscheidenden Problem des instrumentalen Gotteslobes zu. Es gebe kein Instrumentalverbot in der frühen Kirche (248 f.). Alle Versuche, die Musikinstrumente aus dem Gottesdienst zu eliminieren, seien gescheitert (gegen Stelding und McKinnon). Nach G. Wainwright soll »Musik im Kontext des Lobpreises als Gesamtentwurf der Theologie« verstanden werden. Auch die Klagegattungen? Am Ende steht als kleiner kirchengeschichtlicher Exkurs: Der Weg der Tempelinstrumente. Er bietet nur eine Wiederholung aller unkritischen Aussagen.

Die ganze Arbeit krankt 1. an der ausschließlich christologischen Auslegung der Psalmen und des Alten Testaments, die Vertonungen ohne Christologie abwertet, 2. an der Engführung der Kirchenmusik (und der Kirche) auf den Lobpreis und 3. am Druck, die Musik ­ vor allem die Instrumentalmusik ­ biblisch begründen zu müssen, um eine Legitimierung der heutigen Kirchenmusik zu erreichen.

Im Literaturverzeichnis fehlen wichtige Werke, wie z. B. die MGG, 1. und 2. Aufl.; Musikgeschichte in Bildern und mehr Ein Stellen- und Personenregister schließt das Buch ab.

Eine Gesamtwürdigung des Buches ist schwierig. Durch Textauslegungen ohne die (in einer Dissertation!) notwendige gründliche Anwendung der für Exegesen selbstverständlichen wissenschaftlichen Methoden, durch die Breite der christologisch-erbaulich geprägten Ausführungen, mangelhafte Kenntnis der frühjüdisch-hellenistischen Literatur, fehlende Methodik der »musikalischen Exegese« und unzureichende, kritische Arbeit mit neuerer Literatur (z. B. Wick, Kennel, Puls, Sheppard) wird das Buch kaum den an Musikgeschichte und Kirchenmusik interessierten Leser befriedigen.