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Ausgabe:

April/2006

Spalte:

417–419

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Lessing, Eckhard

Titel/Untertitel:

Geschichte der deutschsprachigen evangelischen Theologie von Albrecht Ritschl bis zur Gegenwart. Bd. 2: 1918­1945

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2004. 528 S. gr.8°. Geb. Euro 69,00. ISBN 3-525-56954-8.

Rezensent:

Michael Basse

In dem zweiten Band des auf vier Bände konzipierten Gesamtwerkes wird der theologiegeschichtliche Zeitraum von 1918 bis 1945 behandelt. In der Einleitung werden noch einmal die Verfahrensgrundsätze in Erinnerung gerufen, die das Gesamtwerk bestimmen. So wird die theologiegeschichtliche Arbeit als eine »rekonstruktive Aufgabe« verstanden, die in erster Linie zeigen soll, »wie unterschiedliche Fragestellungen ausgearbeitet worden sind« (13). Dabei gilt das Hauptaugenmerk der »Reflexion über die Einheit der Theologie« (14), während deren Kontextualität nicht als entscheidend angesehen und deshalb auch konsequent ausgeblendet wird. Im Vordergrund steht die Wahrheitsfrage, wozu die »Wahrnehmung theologischer Pluralität ebenso [gehört] wie der Wille zu definitiver, begründeter Erkenntnis« (15). So soll die Theologiegeschichte zur »Anfrage an das eigene Wahrheitsverständnis« werden und damit die »Möglichkeit theologischer Erkenntnis« (ebd.) fördern.

Der Band gliedert sich in zwei Teile, deren erster mit »Theologie und Kirche« überschrieben ist. Nach einem kurzen Aufriss der Problemlage nach dem Ende des Ersten Weltkrieges werden in einem ersten Kapitel zunächst die »neuen Ansätze« (21) dargelegt. Hier sind es vier theologische Richtungen, die in den Blick kommen: die Dialektische Theologie (Bultmann, Gogarten, Barth, Brunner), die neue lutherische Theologie (Holl, Hirsch, Brunstäd, Wehrung, Schumann, Elert, Althaus, Sommerlath), die Theologie Paul Tillichs und die reformierte Theologie (Müller, Barth).

Dabei verwundert nicht nur die quantitative Verteilung ­ der Abschnitt über die lutherische Theologie ist fast doppelt so lang wie der über die Dialektische Theologie ­, sondern auch die Reihenfolge, in der die Vertreter der Dialektischen Theologie behandelt werden ­ erst Bultmann, dann Gogarten, Barth und Brunner. Das begründet der Vf. damit, dass es in einer Theologiegeschichte darum gehe, den »Gang einer Wissenschaft nachzuzeichnen«, und sich deshalb die Frage stelle, »wo in der frühen Dialektischen Theologie das Moment der Kontinuität auf dem Boden der Diskontinuität am deutlichsten fassbar ist« (25). In der Darstellung setzt das aber voraus, dass die »Diskontinuität«, wie sie eben vor allem in Barths Römerbriefauslegung zur Geltung kommt, zumindest in Grundzügen bekannt ist, weshalb denn auch wiederholt auf die entscheidende Bedeutung Barths für Bultmann hingewiesen wird, ohne das an dieser Stelle inhaltlich hinreichend entfalten zu können.

Im zweiten Kapitel werden die Weiterbildungen der theologischen Richtungen betrachtet, die bereits bis 1918 vorherrschten. Dazu zählen die positive Theologie (Hermann, Weber), die Ritschl-Schule (Stephan, Bornhausen, F. W. Schmidt, Scholz), die modern-positive Theologie (Koepp) und die freie Theologie (Schweitzer, Werner).

Im umfangreichen dritten Kapitel wird dann die theologische Forschung in den Einzeldisziplinen Altes und Neues Testament, Kirchengeschichte, Ethik, Praktische Theologie, Kirchenrecht sowie Religions- und Missionswissenschaft vorgestellt. Den grundlegenden Unterschied zum vorhergehenden Zeitraum sieht der Vf. darin, dass die Disziplinen »nicht mehr in der Behandlung des Grundthemas ðReligionÐ über alle Differenzen hinweg geeint« waren, sondern stattdessen der »Bezugspunkt ðKircheЫ dominierte, was zu einer »Intensivierung der theologischen Reflexion« geführt habe (152). Im Einzelnen wird dann jeweils einleitend die Problemlage der verschiedenen Disziplinen skizziert, bevor auf die unterschiedlichen Richtungen und Forschungsperspektiven eingegangen wird, indem die Positionen wichtiger Fachvertreter dargelegt werden. Die fortlaufende Lektüre dieser detaillierten Sachinformationen ist nicht einfach, weil auf problemorientierte Zusammenfassungen verzichtet wird, was angesichts der Gefahr schematisierender Vereinfachungen durchaus nachvollziehbar ist, aber den Leserinnen und Lesern viel abverlangt, zumal ein Sachregister fehlt, das es erleichtern könnte, bestimmten Problemzusammenhängen noch einmal nachzugehen. Das Kapitel wird mit einem Exkurs abgeschlossen, der die Anfänge der ökumenischen Bewegung in ihrer Bedeutung für die Theologiegeschichte dieser Zeit aufzeigt.

Es folgt ein zweiter Teil, der sich mit der Theologie in der Zeit des Kirchenkampfes befasst. Das überrascht zunächst, da der Vf. es doch ausdrücklich zum Grundsatz seiner Theologiegeschichtsschreibung erklärt hat, nicht die jeweiligen Zeitumstände der Theologie in den Blick nehmen zu wollen. Der Kirchenkampf sei nun aber für die Theologie als »eine Zeit der Entscheidung« (454) anzusehen und müsse deshalb für sich betrachtet werden. Dabei soll allerdings »der Verflechtung der Theologie (der Theologen) in die politischen Zeitverhältnisse nicht nachgegangen werden« (ebd.), vielmehr werden zunächst die maßgeblichen theologischen Probleme, die in dieser Zeit diskutiert wurden, erörtert. Dazu zählt der Vf. das Problem der Schöpfungsordnung, die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium sowie das Problem des Konfessionalismus in der Bekennenden Kirche. Anschließend werden dann in einem zweiten Kapitel an den systematischen Konzeptionen von Barth, Hirsch und Bonhoeffer die »Differenzen im Prinzipiellen« aufgezeigt, um so die »fundamentaltheologischen Kontroversen an[zu]zeigen, die das weitere theologische Denken beeinflußt haben« (455).

Wenn in diesem Abschnitt Konzeptionen vorgestellt werden sollen, die in der Zeit des Kirchenkampfes »ausgearbeitet worden sind« (486), und ausdrücklich darauf hingewiesen wird, dass »auf die Entstehungszeit der jeweiligen Werke« (ebd.) geachtet werden soll, so bleibt rätselhaft, wieso Barths Anselm-Buch und der erste Teilband seiner Kirchlichen Dogmatik in diesen Zeitraum gehören, da diese Werke doch schon 1931 bzw. 1932 veröffentlicht wurden. Gleiches gilt auch für Bonhoeffers »Akt und Sein« (1931). Auch wenn nicht zu bestreiten ist, dass diese systematisch-theologischen Konzeptionen im Kirchenkampf für beide Theologen wie auch für Theologie und Kirche insgesamt bedeutsam gewesen sind, wurden sie doch nicht in dieser Zeit »ausgearbeitet« und wird auf ihre Bedeutung für den Kirchenkampf nicht näher eingegangen.

Insgesamt bietet dieser zweite Band eine Fülle von Informationen zur Theologiegeschichte des behandelten Zeitraumes. Das Werk vermittelt einen guten Eindruck von der Vielfalt theologischer Fragestellungen und eignet sich ebenso wie bereits der erste Band als Nachschlagewerk zu den bedeutendsten Vertretern der einzelnen Disziplinen. Vor allem aber regt die Lektüre zum Nachdenken über grundlegende theologische Probleme an, die auch heute noch für Theologie und Kirche relevant sind. Die konzeptionelle Grundentscheidung, den historischen Kontext der vorgestellten Positionen konsequent auszublenden, schränkt allerdings den historischen Erkenntniswert erheblich ein und lässt Theologiegeschichte allein als Problemgeschichte in den Blick kommen.