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Ausgabe:

April/2006

Spalte:

415–417

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Hiebsch, Sabine

Titel/Untertitel:

Figura ecclesiae. Lea und Rachel in Martin Luthers Genesispredigten

Verlag:

Münster-Hamburg-London: LIT 2002. 271 S. gr.8° = Arbeiten zur Historischen und Systematischen Theologie, 5. Geb. Euro 24,90. ISBN 3-8258-5548-1.

Rezensent:

Helmut Feld

Die Genesis war für Luther »das erste und fast das edelste buch des alten Testaments«, weil er sie reich an Vorbildern (figuren) »unsers Herrn Christi und seines reichs« sah und sie nach seiner Auffassung »nichts anders zeigen und leren« will »denn den einzigen Christum« (WA 24,710).

An dieser Grundhaltung zur Genesis (und zum gesamten Alten Testament) wird deutlich, dass Luther nicht an den Kriterien neuzeitlicher Bibelwissenschaft zu messen ist; er war kein historisch-kritischer Exeget, »sondern ein Theologe, der bei allen seinen wichtigen theologischen Fragen tief in den Traditionen des Mittelalters und der Kirchenväter verwurzelt war« (65). Der Vfn. der vorliegenden Dissertation an der Universität Amsterdam geht es um eine Untersuchung von Luthers Hermeneutik am Beispiel seiner Genesis-Predigten von 1519­1521 (WA 9) und 1523­1524 (WA 14). Insbesondere soll die Bedeutung der beiden biblischen Frauengestalten Lea und Rachel in Luthers Theologie beleuchtet werden. Eine zentrale Bedeutung kommt in diesem Zusammenhang dem von dem Reformator häufig verwendeten Begriff »figura« zu. Dementsprechend ist eine genaue Beschreibung der in den Genesispredigten angewandten Figuraldeutung ein Hauptanliegen der Vfn.

Im ersten Kapitel werden der Stand der Forschung und der Charakter des der Untersuchung zu Grunde liegenden Quellenmaterials eingehend erörtert. Beides hängt insofern eng zusammen, als die Tatsache, dass es sich um Predigten handelt, die in den Nachschriften mehrerer Schreiber erhalten sind, die Ursache für ihre Nichtbeachtung oder vorwiegend negative Beurteilung in der bisherigen Forschung war (19).

Im zweiten Kapitel geht es dann um Luthers Auslegungsmethode in den Genesispredigten. Im Zusammenhang mit der Untersuchung der Bedeutung des Begriffs »figura« stellt die Vfn. ausführlich die »Entdeckung und Beschreibung der Figuraldeutung« durch den Literaturwissenschaftler Erich Auerbach dar, die vor allem in dessen Werk »Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur« (1946; 21959), aber auch in anderen Schriften vorliegt. Auerbach hat den Unterschied der Figuraldeutung zu den allegorischen Darstellungsformen herausgearbeitet. Er beurteilt die Figuraldeutung eindeutig positiv, weil in ihr »der wörtliche Wirklichkeitssinn des Alten Testaments bewahrt« bleibt. In der spiritualistisch-allegorischen Methode dagegen, die in Origenes ihren bedeutendsten Vertreter gefunden hat, wird der (biblische) Text »sinnlich entkräftet und geschichtlich entleert« (47). Was Figuraldeutung konkret ist, zeigt Auerbach an Beispielen aus den Werken der Kirchenväter Tertullian und Augustinus. Wie seine Untersuchungen der Figuraldeutung dann in der Theologie und namentlich der Luther-Forschung rezipiert wurden, illustriert die Vfn. an den Werken einiger Theologen (K. Gründer, A. M. Müller, F. Gogarten), um dann Luthers Figuraldeutung in den Genesispredigten anhand des Begriffs »figura« zu analysieren (73­101).

Die in diesem Abschnitt aus den Texten Luthers gewonnenen Ergebnisse vergleicht die Vfn. anschließend in einem Exkurs (101­116) mit den Forschungen von G. Ebeling, wie sie in seinen Untersuchungen »Evangelische Evangelienauslegung« (1942; Neudr. 1962) und »Die Anfänge von Luthers Hermeneutik« (1971) vorliegen. Der Abschnitt ist zu einer Generalabrechnung mit Ebeling selbst und den Luther-Forschern geraten, die seine (irrigen) Ergebnisse unbesehen übernommen haben. Ebelings zentrale These, dass Luther grundsätzlich mit der Allegorese gebrochen habe, diese Haltung aber in der Praxis nicht konsequent durchgehalten habe und immer wieder in die allegorische Auslegung zurückgefallen sei, ist nach Meinung der Vfn. u. a. dadurch zu erklären, dass er (wie andere Luther-Forscher) von den Arbeiten Auerbachs keine Kenntnis genommen hat.

Das dritte Kapitel bietet eine eingehende Untersuchung der Gestalten von Lea und Rachel in Luthers Predigten: Sie sind heilige Frauen, nicht auf Grund ihrer Werke, sondern auf Grund ihres Glaubens. Damit sind sie zugleich Vorbilder für die Christen und Figuren für die christliche Kirche (151). Im vierten und letzten Kapitel stellt die Vfn. Luthers Verständnis von den Heiligen dar, insofern es in der kirchlichen Tradition steht und doch neue Elemente enthält.

Die Kritik, die die Vfn. ihren Vorläufern in der Erforschung von Luthers Schriftauslegung angedeihen lässt, ist generell sehr scharf, zum Teil aber auch berechtigt, besonders was Ebeling und seine Adepten angeht. Allerdings ist auch ihre Arbeit nicht ohne Mängel, z. B. da, wo sie unbesehen fragwürdige Ergebnisse Auerbachs übernimmt. Nicht nur bei Leuten wie Origenes, sondern auch in der gesamten patristischen und mittelalterlichen Tradition geht es nicht in erster Linie darum, den wörtlichen oder historischen Sinn des Alten Testaments zu bewahren, auch nicht in der Figuraldeutung. Figura wird zumeist gleichbedeutend mit umbra gebraucht; Gegensatz dazu ist veritas. Die alttestamentlichen Vorbilder sind die (undeutlichen) Schattenbilder der hellen, klaren neutestamentlichen Wahrheiten, wie es in dem Hymnus »Lauda Sion« des Thomas von Aquin ausgesprochen ist: »Vetustatem novitas, umbram fugat veritas, noctem lux illuminat Š In figuris praesignatur: dum Isaac immolatur, agnus paschae deputatur, datur manna patribus.« Was (der von mir im Übrigen sehr geschätzte und verdienstvolle Gelehrte) Auerbach in diesem Zusammenhang ausführt, insbesondere wenn er behauptet, »daß die figurale Methode auf christliche, die allegorische Methode auf heidnisch-antike Einflüsse« zurückgehe (47), ist schlicht Unsinn. An neutestamentlichen Stellen, wie 1Kor 10, 6.11 (figura) und Hebr 8,5; 10,1 (umbra) ist nicht der »historische« Sinn der entsprechenden Ereignisse während der Wüstenwanderung Israels oder des Gesetzes thematisiert. Erst in der »Summa theologica« des Thomas (13. Jh.!) finden sich die modern anmutende Frage: »Utrum praecepta caeremonialia habeant causam litteralem, vel figuralem tantum« (Ia IIe, q. 102, ar. 2) und die Feststellung: »Sed in historiis Veteris Testamenti, praeter intellectum mysticum seu figuralem, est etiam intellectus litteralis.«

Wenn von der Schriftauslegung des Augustinus die Rede ist (51­53), dann würde man erwarten, dass auf die für die Hermeneutik des Kirchenvaters wichtige Stelle Confessiones 12,23­32 eingegangen wird, was weder bei Auerbach noch bei der Vfn. der Fall ist. Im Anschluss an Auerbach erläutert die Vfn. jedoch den Unterschied von Allegorese und Allegorie (91­93) in polemischer Abgrenzung von der hier angeblich herrschenden Konfusion, die sie aber leider vergrößert, etwa durch die Auskunft: »Allegorese ist die latinisierte Form des griechischen Wortes ðallegoriaÐ Š«. Um es also richtig zu stellen: »Allegoria« (ursprünglich Griechisch, lateinisches Fremdwort) ist eine Aussage, in der etwas anderes gemeint ist als (vordergründig) ausgesprochen wird, oder umgekehrt: etwas anderes ausgesagt als eigentlich gemeint ist. Schon in der Antike, z. B. bei Plutarch, wird damit aber auch die entsprechende Auslegungsmethode bezeichnet. Im heutigen Sprachgebrauch wird die allegorische Auslegungsmethode auch als »Allegorese« bezeichnet. Dieser Begriff geht nicht auf eine griechische oder lateinische Urform zurück, sondern ist eine moderne Bildung. Gemeint ist damit eine Auslegungsmethode, die davon ausgeht, dass in dem Text (noch) etwas anderes gemeint sein müsse als gesagt ist, und die den verborgenen Sinn erschließt.

Trotz dieser kritischen Anmerkungen besteht kein Zweifel daran, dass hier eine methodisch einwandfreie, sachlich informative und die Luther-Forschung weiterführende Untersuchung vorliegt.