Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

April/2006

Spalte:

412–415

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Bendel-Maidl, Lydia

Titel/Untertitel:

Tradition und Innovation. Zur Dialektik von historischer und systematischer Perspektive in der Theologie

Verlag:

Am Beispiel von Transformationen in der Rezeption des Thomas von Aquin im 20. Jahrhundert. Münster: LIT 2004. 609 S. gr.8° = Religion ­ Geschichte ­ Gesellschaft, 27. Kart. Euro 45,90. ISBN 3-8258-5589-9.

Rezensent:

Rochus Leonhardt

Bei dieser Publikation handelt es sich um eine im Sommersemester 2000 von der Münchener Katholisch-Theologischen Fakultät angenommene und für den Druck geringfügig überarbeitete und erweiterte systematisch-theologische Habilitationsschrift. Die Arbeit kreist, wie die Einleitung (17­63 = §§ 1­3) genauer entfaltet, um das Verhältnis von Historischer und Systematischer Theologie und fragt konkret nach der Bedeutung theologiegeschichtlicher Forschung für den Erweis der Gegenwartsrelevanz des christlichen Glaubens. Den Ausgangspunkt der Untersuchung bildet die Feststellung, dass sich das katholische Denken im 20. Jh. »von einer neuscholastischen Theologie mit einer gegenweltlichen Mentalität zu einer Theologie der ðZeichen der ZeitÐ [entwickelt habe], die in dialogischer Zeitgenossenschaft steht« (23). Die Vfn. interessiert sich nun dafür, wie sich diese Entwicklung im Umgang mit der theologischen Tradition spiegelt, wobei sie speziell die Transformationen in den Blick nimmt, denen das philosophische und theologische Denken des Thomas von Aquin im 20. Jh. unterzogen wurde. Diesem Zugang entspricht die »Konzentration auf Personen, die als systematische Theologen Š historische Studien zu Thomas von Aquin betrieben« haben (62), nämlich Martin Grabmann (1875­1949), Marie-Dominique Chenu (1895­1990) und Otto Hermann Pesch (*1931).

Bevor sich die Vfn. den drei genannten Forschern widmet, skizziert sie in einem ersten Kapitel (65­174 = §§ 4­6) die mit dem erwähnten Aufbruch der katholischen Theologie einhergehenden Veränderungen in der Beurteilung der Gegenwartsbedeutung des Thomas von Aquin. Dabei arbeitet sie heraus, dass auf der Ebene der lehramtlichen Äußerungen die durch die Enzyklika Aeterni Patris (1879) vollzogene »ahistorische Überhöhung des Aquinaten« (72) und die Einschärfung der Exklusivität seines Denkens seit der zweiten Hälfte des 20. Jh.s immer weiter zurückgenommen, die Normativität des Aquinaten also zunehmend reduziert wird (vgl. 172) ­ ein Vorgang, zu dem es freilich bis heute Gegenstimmen gibt (vgl. den Verweis auf David Berger: 96 f., Anm. 18).

Das Zentrum der Arbeit bilden die Studien zu den ­ rückblickend als »Paradigmenwechsel« (485) beurteilten ­ Transformationen des Thomas-Bildes innerhalb der theologiegeschichtlichen Entwicklung von Grabmann (2. Kapitel: 177­301 = §§7­13) über Chenu (3. Kapitel: 303­345 = §§ 14­17) zu Pesch (4. Kapitel: 347­476 = §§ 18­22).

Grabmann kommt dabei als paradigmatischer Vertreter neuscholastischen Denkens zu stehen, dessen Theologieverständnis sich, ganz im Sinne des 1. Vatikanischen Konzils, mit einem »instruktionstheoretisch-doktrinalen Offenbarungsverständnis Š und einem propositionellen Verständnis der Glaubenswahrheit« (245) verbindet, deren Glaubwürdigkeit unter Verweis »auf die Kontinuität der Kirche durch die Zeiten« (283) begründet wird: Grabmanns Thomas-Rezeption steht also letztlich im Dienst der lehramtlich autorisierten antimodernistischen Ideologie, die den Katholizismus bis in die 30er und 40er Jahre des 20. Jh.s dominiert hat. Zwar hat Grabmann durchaus die Absicht, den Wahrheitsgehalt der Philosophie und Theologie des Thomas von Aquin (nicht mehr in Gestalt antiprotestantischer Polemik [vgl. 205.286], sondern) auf der Basis eines möglichst vorurteilsfreien Dialogs mit dem modernen Denken zu erweisen. Indem er aber, unter völligem Absehen von hermeneutischen Überlegungen (vgl. 284), das »Ideal objektiver Geschichtsschreibung« (214) stark macht und meint, »ein ðobjectivesÐ Bild der Geschichte« (298), namentlich der Scholastik, könne »zugleich ihre Gegenwartsbedeutung erweise[n]« (213), bleibt sein historisch-kritischer Zugang zu den mittelalterlichen Quellen dem neuscholastischen Gedanken einer bei Thomas vorfindlichen philosophia perennis verpflichtet: »Für die großen metaphysischen Erkenntnisse des Aquinaten Š beansprucht Grabmann einen überzeitlichen Charakter« (211).

Als ein Vertreter der unter dem Namen Nouvelle Théologie bekannten theologischen Aufbruchsbewegung, die in die Vorgeschichte der Überwindung des Neuthomismus gehört, gilt auch Chenu, dessen 1937 erschienene Programmschrift »Le Saulchoir. Eine Schule der Theologie« 1942 indiziert wurde (vgl. 304.306). Die Vfn. arbeitet heraus, dass Chenus Arbeiten für die Verhältnisbestimmung von Theologiegeschichte und Dogmatik »einen einschneidenden Wandel« markieren, »der ihn von Grabmann scheidet und wichtige Grundlagen für Pesch bereitet« (335). Im Blick auf die Thomas-Rezeption ist dabei Chenus Betonung »einer grundlegenden Fremdheit des Thomas von Aquin Š gegenüber der Moderne« (324) von Bedeutung. Das Denken des Aquinaten kann deshalb nicht mehr ohne weiteres als allgemeingültiges Modell seriöser Wahrheitssuche gelten, und es wird darauf verzichtet, alle profanen Wissenschaften von einem (letztlich im katholischen Denken verwurzelten) universalen Wahrheitsanspruch her zu beurteilen (vgl. 332.320 u. ö.). Mit diesem Zugang verbindet sich ein Glaubens- und Theologieverständnis, das deutlich von den neuscholastischen Vorgaben abweicht: Weil sich der Glaube nicht auf bestimmte Aussagen über Gott richtet, sondern auf Gott selbst als den mit diesen Aussagen angezielten, aber durch sie nie voll einholbaren ðGegenstandÐ, unterliegen die in der theologischen Reflexion gewonnenen satzhaften Glaubensformulierungen unvermeidlich »der Kontingenz und geschichtlichen Relativität« (308).

Der in der Nouvelle Théologie angebahnte und im 2. Vatikanischen Konzil lehramtlich vollzogene Perspektivenwechsel in der katholischen Theologie hat, so die Vfn., in den Arbeiten Peschs einen im Blick auf die Thomas-Rezeption in besonderer Weise relevanten Ausdruck gefunden. Die von ihm betonte Priorität einer Gegenwartsorientierung der Theologie führt nicht nur zu einer gegenüber Chenu verstärkten Betonung der Fremdheit des Thomas (vgl. 368 f. u. ö.), sondern sie führt auch im Blick auf den interkonfessionellen Diskurs zu einem »Wandel traditioneller katholischer Maßstäbe Š: Nicht Luthers theologischer Ansatz ist es, der sich legitimieren muß, sondern der sapientiale Ansatz des Aquinaten« (395), entspricht doch die von Anfechtungserfahrungen geprägte Glaubensexistenz des Reformators (vgl. 384 ff.) der Situation des Christentums in der Moderne weit mehr als die abgeklärte Geisteshaltung des hochscholastischen Aristotelismus (vgl. 408). Die gegenwärtige Aktualität des Thomas hängt daher nach Pesch davon ab, ob dessen Theologie für eine »Integration der existentiellen Glaubensdimension« (447) offen ist. Seine für das Verhältnis Thomas-Luther einschlägigen Untersuchungen kommen bekanntlich zu einem ðharmonistischenÐ Ergebnis: Der Ansatz des Thomas (über)pointiert einen bei Luther jedenfalls nicht grundsätzlich ausgeschlossenen Aspekt christlicher Reflexion ­ und umgekehrt; diese Konvergenzhermeneutik hat eine wichtige Rolle für die Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre gespielt (vgl. 423­427). Diesen Einsichten entspricht, wie die Vfn. zeigt, Peschs Pluralismusverständnis: Aus der ­ theologiegeschichtlich erwiesenen ­ »Fragmentarität jeder menschlichen Artikulation der Heilswahrheit« (408; vgl. 481) ergibt sich ein Grundsatzplädoyer für »die Akzeptanz der Pluralität von Theologien, religiösen Lebensformen und Frömmigkeitsstilen« (426), das innerkatholisch als Forderung nach Entdoktrinalisierung der kirchlichen Lehre erscheint (vgl. 447.449.463).

Das 5. Kapitel fasst zunächst (477­497 = §§ 23­25) die dargestellten Einzelanalysen zu den Transformationen im Thomas-Bild zusammen und verbindet sie mit einem Ausblick auf mögliche Optionen für die künftige Thomas-Forschung. Im Schlussparagraphen (§ 26: 498­546) schließlich stellt die Vfn. grundsätzliche »Überlegungen zum Verhältnis von Historiographie und Systematik in der Theologie« (498) an. Dabei geht es ihr darum, den theologischen Charakter der (Kirchen- und) Theologiegeschichte festzuhalten, ohne sie dogmatisch zu instrumentalisieren und damit in den gegenweltlichen Wahrheitsabsolutismus der Neuscholastik zurückzufallen. Dieser Mittelweg kann mit Hilfe einer Reflexion und Offenlegung jener philosophischen Basistheorien bzw. Hintergrundtheorien (vgl. 503. 521) gefunden werden, die unsere historischen Rückfragen unvermeidbar steuern ­ ein Verfahren, das die Vfn. in »Chenus und Peschs Historiographie« (499) paradigmatisch verwirklicht findet. Die so ausgebildete hermeneutische Behutsamkeit wird bei der Interpretation historischer Zusammenhänge ­ im Gegenzug zur bislang überwiegenden Tendenz »[i]n der katholischen Theologie und Kirchenlehre« (522) ­ eher auf Diskontinuitäten abstellen, wodurch Geschichtsschreibung auch zu einer »Anamnese der Opfer« (536) werden kann: »[I]m Paradox anamnetischer Solidarität« ist diese Historiographie »hoffender Schrei an den Deus absens. Sie erinnert aber auch an den Deus praesens« und »eröffnet darin den Weg zur Eucharistia« (544).

Wie die umfangreiche und immer wieder um Einbeziehung nichttheologischer Diskurse (vgl. bes. 290 ff.339 ff.487 ff.) und protestantischer Positionen (F. W. Graf, M. Murmann-Kahl u.a.) bemühte Arbeit in der katholischen Theologie rezipiert werden wird, kann hier nicht vermutet werden. Aus evangelischer Sicht fällt vor allem die nahezu ausschließlich positive Beurteilung der theologischen Position von Pesch ins Auge. Wichtige und nahe liegende Einwände dagegen bleiben weitgehend unbehandelt. Die Frage etwa, ob der von Pesch für den Thomas-Luther-Vergleich reklamierte vor- oder überkonfessionelle Standpunkt (vgl. 363) nicht höchst unhistorisch ist und ob seine harmonistische Lösung nicht auf eine Neuscholastik höherer Ordnung hinausläuft, wird nicht vertieft (vgl. immerhin 373). Und auch die von der Vfn. selbst festgestellte begrenzte Reichweite von Peschs lediglich »im kontroverstheologischen Gespräch« (456) erprobtem Pluralismusverständnis wird nur in eine im Vergleich zum Grabmann-bashing im 2. Kapitel bemerkenswert vorsichtige Kritik überführt.

Ungeachtet dieser Detaileinwände kann die Arbeit als ein trotz gelegentlicher Redundanzen lesenswerter Beitrag zu einer Diskussion betrachtet werden, die in der protestantischen Theologie auch, wenngleich unter ganz anderen Vorzeichen, geführt wird.