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Ausgabe:

April/2006

Spalte:

409–411

Kategorie:

Kirchengeschichte: Allgemeines

Autor/Hrsg.:

Seidel, Thomas A.

Titel/Untertitel:

Im Übergang der Diktaturen. Eine Untersuchung zur kirchlichen Neuordnung in Thüringen 1945­1951

Verlag:

Stuttgart: Kohlhammer 2003. 430 S. gr.8° = Konfession und Gesellschaft, 29. Kart. Euro 38,00. ISBN 3-17-017900-4.

Rezensent:

Klaus Fitschen

Die Kirchengeschichte Deutschlands unmittelbar nach 1945 ist in den letzten Jahren immer wieder in Untersuchungen behandelt worden, darunter auch in einigen zur Neukonstituierung von evangelischen Landeskirchen (Markus Hein zu Sachsen, Jürgen Kampmann zu Westfalen). Die vorliegende Untersuchung befasst sich mit der Thüringer Kirche, die unter den mitteldeutschen Landeskirchen auf Grund ihrer Prägung in der Zeit der nationalsozialistischen wie durch das Verhalten ihrer Leitungsorgane in der Zeit der sozialistischen Diktatur eine ganz eigene und eigentümliche Geschichte »im Übergang der Diktaturen« durchgemacht hat. Schon ein von Seidel herausgegebener Sammelband (»Thüringer Gratwanderungen«, Leipzig 1998) hatte einzelne Aspekte der schwierigen Geschichte dieser Landeskirche in einem weiteren zeitlichen Horizont behandelt.In der Einleitung hebt S. als einen Leitaspekt seiner Arbeit den Versuch hervor, zur Darstellung der Geschichte der Entnazifizierung für den Sektor der Kirchengeschichte beitragen zu wollen (19).

Dass eine Entnazifizierung gerade in der Thüringer Landeskirche besonders nötig war, zeigt das 2. Kapitel Evangelische Kirche in Thüringen 1918­1945, das etwas stringenter auf das Folgende hätte zugeschnitten werden können; die starke Betonung des »Gesinnungsmilitarismus« (2.1.) kann das allein nicht leisten. Dieses Kapitel erinnert vor allem daran, dass Thüringen am Anfang der 30er Jahre nicht nur eine Hochburg des Nationalsozialismus, sondern auch der Deutschen Christen war und dass in den Jahren davor die Irritationen durch antikirchliche Tendenzen und eine früh einsetzende Entkirchlichung stark waren.

Mit dem 3. Kapitel Landeskirche, Besatzungsmacht und deutsche Verwaltung umreißt S. den kirchlich-institutionellen Umbruch nach 1945 vor dem Hintergrund der Politik der kurzzeitig amerikanischen, dann russischen Besatzungsmacht. Der DC-Bischof Rönck wurde abgesetzt und ein interimistischer Landeskirchenrat gebildet, der wie der neu ernannte Bischof Mitzenheim bis 1948 ohne synodale Legitimation amtierte. Mitzenheim bestimmte dann die Grundlinien des Verhältnisses der Kirche zu den neu installierten politischen Kräften und zur Besatzungsmacht, die der Kirche wohlgesonnen schien. So war seine Version der Zwei-Reiche-Lehre der Etablierung der neuen Diktatur durchaus förderlich, lautete sie doch in etwa, wer den Staat nicht zum strengen Vater habe, könne die Kirche nicht zur gütigen Mutter haben (110). Gespeist war dieses Denken immer noch aus den antidemokratischen Reflexen gegenüber der Weimarer Republik, und Mitzenheim flankierte es mit dem Kurs einer Entpolitisierung der Pfarrerschaft. Dabei tolerierte Mitzenheim durchaus die politischen Ambitionen des Oberkirchenrates Erich Hertzsch, um Verbindungen zur SED und zur Arbeiterschaft zu bekommen. Dass Mitzenheim andererseits im Einzelfall die Achtung der Bürgerrechte einforderte, gegen Enteignungen protestierte und für Verfolgte ein gutes Wort einlegte, zeigt einmal mehr die Ambivalenz dieses Kirchenführers, der seine eigene, manchmal undurchsichtige Rolle spielte und selbst unter Faschismus-Verdacht gestellt wurde. Aufschlussreich ist in diesem Kapitel auch die Darstellung der raschen Verdrängung des Religionsunterrichts aus der Schule und seiner Verkirchlichung zur Christenlehre, die schon 1949 vollzogen war. Die in Anm. 526 (165) versteckten Ausführungen zu der bis in die Gegenwart reichenden Tendenz, aus der Not (der Verdrängung des Religionsunterrichts durch die SED) eine Tugend (nämlich die Christenlehre) zu machen, hätten in den Text gezogen werden sollen.

Mitzenheims Anpassungspolitik war aber nicht nur eine persönliche Vorliebe, sondern erklärt sich, wie im 4. Kapitel dargelegt wird, aus den Problemen der Entnazifizierung und Selbstreinigung. Die Entnazifizierung der Kirchenleitung und der Pfarrerschaft kam nur langsam voran und wurde nie konsequent zu Ende geführt, zumal die Kirchenleitung (wie auch die anderer Landeskirchen) mehr mit der Abwehr staatlicher Vorgaben für die Entnazifizierung beschäftigt war: »Das Wissen um die besondere NS-Vergangenheit des Thüringer Landes und seiner Kirche blieb somit eine verborgene Last« (279 f.). Allerdings war der äußere Druck zur Entnazifizierung auch ein politisches Mittel, die Kirche mundtot zu machen. Ein eigenes Problemfeld war der tief verwurzelte Antisemitismus, der eine Hochburg auf Thüringer Boden im Eisenacher »Institut zur Erforschung und Beseitigung des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben« hatte.

An diese Problemlage knüpft das 5. Kapitel Kirchenhistorische Weichenstellungen an, das noch einmal zusammenfassend die Rolle Mitzenheims beleuchtet. In gewisser Weise übernahm er das Führerprinzip und somit das Erbe der Deutschen Christen, das er aber kirchenpolitisch in eine Prävalenz der Bekennenden Kirche ummünzte. Seine Versuche, wie ein »guter Landesfürst« (299) für die Kirche und ihre Glieder zu sorgen, erwiesen sich mit dem Einsetzen der Stalinisierung und der Durchsetzung des erneuerten staatlichen Totalitätsanspruches als illusorisch. ­ Das 5. Kapitel ist zugleich das Fazit des Buches, das im letzten Teilkapitel 5.5. (Linien ­ Brüche ­ Fragen) verdichtet wird. S.s Urteil fällt eindeutig aus: Der »Thüringer Weg« des auch in den ostdeutschen Landeskirchen isolierten »roten Bischofs« Mitzenheim war ein Irrweg und letztlich eine Fortsetzung der Anpassungspolitik vor 1945, die in einer Anverwandlung an den »demokratischen Zentralismus« der DDR endete. Dieses Urteil über Mitzenheim ist insgesamt nicht neu, doch nun schon aus den frühen Jahren seiner Amtsführung begründbar. Dennoch wird die Diskussion über den »Thüringer Weg« noch nicht zu Ende sein ­ man vgl. hierzu auch den Beitrag von Christoph Markschies in dem oben erwähnten Sammelband (209­221).

S.s Arbeit macht deutlich, dass die Thüringer Landeskirche sich in innere Kämpfe verstrickte, so dass der Kurs Mitzenheims viele Konflikte zudecken musste. S. zeigt, dass die Thüringer Landeskirche auf Grund ihrer unzureichenden Vergangenheitsbewältigung (die so kurz nach 1945 eigentlich noch Gegenwartsbewältigung war) keine klare Position zu der heraufziehenden SED-Diktatur finden konnte. Die schmale Personalbasis im Landeskirchenrat und die eigenwillige Politik Mitzenheims hielten die Kirche letztlich in der gleichen staatsabhängigen Position wie vor 1945, diesmal aber unter dem theologisierenden Vorzeichen, das bessere, nämlich bekenntniskirchliche Teil erwählt zu haben.

Die Arbeit stellt das Thema unter Berücksichtigung der vielfältigen kirchen-, politik- und auch gesellschaftsgeschichtlichen Faktoren dar, auf die auch Mitzenheims Agieren bezogen wird. Die Vielzahl an Informationen hätte an einigen Stellen besser synchronisiert oder durch Querverweise erschlossen werden können. Die Lektüre erfordert gelegentlich Geduld, da Handlungsstränge an anderer Stelle wieder aufgenommen werden. Gerade darum sind die angefügten Kurzbiogramme hilfreich für die Orientierung während der Lektüre.