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Ausgabe:

April/2006

Spalte:

406–408

Kategorie:

Kirchengeschichte: Allgemeines

Autor/Hrsg.:

Klein, Michael:

Titel/Untertitel:

Westdeutscher Protestantismus und politische Parteien. Anti-Parteien-Mentalität und parteipolitisches Engagement von 1945 bis 1963

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2005. XVI, 527 S. gr.8° = Beiträge zur historischen Theologie, 129. Lw. Euro 109,00. ISBN 3-16-148493-2.

Rezensent:

Martin Greschat

Bekannt ist die bis heute zu beobachtende Distanz, wenn nicht sogar Aversion protestantischer Kreise gegenüber der Politik generell und insbesondere gegenüber den Parteien. Diese Einstellung will die vorliegende Untersuchung durchleuchten. Sie wurde 2003 als Habilitationsschrift für das Fach Kirchengeschichte an der Kirchlichen Hochschule Wuppertal angenommen. Der Blick richtet sich auf den westdeutschen Protestantismus in der Adenauerzeit. Nach einer knappen Einleitung (1­20) und der Skizzierung von »Entwicklungslinien« von etwa 1848 bis 1945 (21­88) behandelt der Hauptteil das Verhältnis evangelischer kirchlicher und theologischer Gruppen zu jenen politischen Parteien, denen an Beziehungen zum Protestantismus gelegen war: der CDU/CSU, der Gesamtdeutschen Volkspartei (GVP), der Deutschen Partei (DP), der FDP sowie der SPD (89­357). Ein Abschnitt über »Die Stellung der Evangelischen Kirche und Theologie zu den politischen Parteien« beschließt diesen Hauptteil (358­464).

Am ausführlichsten wird das Verhältnis zur CDU/CSU behandelt (89­263). K. stützt sich hierbei stark auf die schon besonders intensiv bearbeiteten Anfangsjahre. Dabei entwirft er ein überzeugendes Bild der Schwierigkeiten, die gerade überzeugte evangelische Christen mit der neuen Partei hatten. Besonders hervorzuheben ist seine differenzierte, die bekannten Stereotypen hinter sich lassende Darstellung der Positionen von Adenauer und Heinemann. Insgesamt belegt K. überzeugend, dass konservative evangelische Politiker wie Hermann Ehlers oder Eugen Gerstenmaier Wesentliches für die Heranführung des kirchlichen Protestantismus an die parlamentarische Demokratie geleistet haben.Eine ausgesprochen positive Beurteilung erfahren jedoch auch die vor allem von den Bruderräten getragene »Notgemeinschaft für den Frieden Europas« sowie die GVP (264­291). Eher beiläufig ist von der DP sowie der FDP die Rede (292­322). Hier hätte man gern gewusst, ob die kirchliche Distanz auch auf der Ablehnung der rechtsradikalen Tendenzen beruhte, die beide Parteien damals ungeschminkt zeigten. Ausführlich werden sodann die mühsamen Versuche der Annäherung an die SPD geschildert (323­357). Zu den Einzelnen, die das Eis zu brechen versuchten, gehörte auch Heinrich Albertz. Aber zu Recht arbeitet K. heraus, dass die entscheidende Leistung auf diesem Feld Gustav Heinemann vollbrachte. Er band nicht wenige evangelische Kritiker der Politik Adenauers an die SPD und dadurch an die parlamentarische Demokratie. Ein beträchtlicher Teil der Bruderrätler weigerte sich allerdings, diesen Weg einzuschlagen, und ging stattdessen zur Deutschen Friedensunion (DFU).

Vor allem diese bruderrätlichen Kreise attackierten, angeführt von Karl Barth, die Möglichkeit einer christlichen Partei. K. entfaltet die theologische Begrenztheit dieser Sicht und weist zu Recht auf die Verengung des Politikverständnisses des großen Theologen hin. Viel Lob erfährt dann jedoch das »Darmstädter Wort«. Welche gravierenden Nachteile sich aus dem Fehlen einer evangelischen politischen Ethik ergaben, belegt K. durchgängig. Ob allerdings mit dem Hinweis auf einige lutherische Theologen das Thema erledigt ist, mag man bezweifeln.
Dieser Einwand unterstreicht die Frage nach den Kriterien K.s. Negativ spricht er vom »christlichen Staat« und insbesondere von »politischer Romantik«, positiv von »Modernisierung«. Auf Grund dieser unklaren Konzeption kommt es jedoch durchgängig zu Unklarheiten und schiefen Urteilen. Was soll man dazu sagen, dass die Aussage, der Glaube müsse eine »lebensformende Kraft« sein, als Zustimmung zum »Ideal des christlichen Staates« interpretiert wird (95)! Wieso handelt es sich bei Heinemanns »Notgemeinschaft« um ein in die Zukunft weisendes Modell der »Bürgergesellschaft« (270) ­ und nicht um »politische Romantik«? Woran erweist sich, dass die GVP ein »durchaus modernisiertes Profil« besaß (277)? Das »Darmstädter Wort« als Ausdruck eines »Modernisierungsschubs«? Diese und ähnliche Urteile müssen schlicht als subjektiv und beliebig bezeichnet werden, weil sie unbegründet bleiben. »Politische Romantik« mag ein treffendes Stichwort sein, aber es ist alles andere als eine analytische Kategorie. Ebenso vage bleibt durchgängig die Rede von »Modernisierung«. Geht es dabei um Max Webers Konzeption bis hin zur »Entzauberung der Welt«? Doch was bedeutet das für eine Volkspartei?

Wir wissen, dass es sich bei der »Modernisierung« um ein ausgesprochen ambivalentes Phänomen handelt. Was sind die Kosten, was ist der Nutzen dieses Prozesses? Lässt sich über Veränderungen eines Segments, also des protestantischen Verhältnisses zu den Parteien, angemessen reden, ohne deren Wandel zu reflektieren? Veränderte sich mit dem Protestantismus und durch ihn nicht auch der Katholizismus in der CDU? Die hier geläufige Rede vom »Katholischen« verdeckt wesentliche und tiefgreifende Umgestaltungen innerhalb dieser Partei und in der westdeutschen Gesellschaft insgesamt. In seiner Abhandlung über die Entwicklung des katholischen Staatsdenkens bis zum II. Vatikanischen Konzil summiert Rudolf Uertz: »Beeinflusst aber ist die anthropologisch-verfassungstheoretische Position des politischen Katholizismus nach 1945 nicht zuletzt auch durch die Verantwortungsethik, die insbesondere protestantische Vertreter zur Programmatik und politischen Theorie der Union als interkonfessioneller Partei beitrugen.« (Vom Gottesrecht zum Menschenrecht, Paderborn 2005, 496 f.) Diese Dimension kommt bei K. überhaupt nicht in den Blick.

Aber auch die Rolle, die der Protestantismus in der späten Adenauerzeit innerhalb der CDU/CSU spielte, kommt zu kurz. Bei der Aufspaltung in »Gaullisten« und »Atlantiker« in der bundesrepublikanischen Außenpolitik seit 1961 waren die Anhänger der erstgenannten Richtung nahezu ausschließlich Katholiken, während sich die Vertreter des anderen Lagers um den evangelischen Außenminister Schröder sammelten. Dabei ging es sicherlich nicht um dieselben konfessionellen Auseinandersetzungen wie in den frühen 50er Jahren. Aber diese Prägungen wirkten als politische Realitäten unverkennbar weiter. Auch das gehört zum Verständnis des Verhältnisses des westdeutschen Protestantismus¹ zu den politischen Parteien. Dass die vorliegende fleißige, gediegene und materialreiche Darstellung der faktischen Gegebenheiten solche Zusammenhänge nicht in den Blick nimmt, bildet ihre Grenze.