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Ausgabe:

April/2006

Spalte:

404–406

Kategorie:

Kirchengeschichte: Allgemeines

Autor/Hrsg.:

Kinzig, Wolfram

Titel/Untertitel:

Harnack, Marcion und das Judentum. Nebst einer kommentierten Edition des Briefwechsels Adolf von Harnacks mit Houston Stewart Chamberlain

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2004. 341 S. m. Abb. u. Tab. gr.8° = Arbeiten zur Kirchen- und Theologiegeschichte, 13. Geb. Euro 34,00. ISBN 3-374-02181-6.

Rezensent:

Christian Nottmeier

Kaum ein Aspekt des umfangreichen Lebenswerkes Harnacks ist so umstritten wie sein Verhältnis zum Judentum. Schon deshalb ist die breit angelegte Darstellung des Bonner Kirchenhistorikers Wolfram Kinzig begrüßenswert, die drei Hauptteile bietet. Zunächst rekonstruiert K. das Marcionbild Harnacks (41­153) von der Preisschrift aus dem Jahr 1870 bis zur der späten Marcion-Monographie von 1921 mit den bekannten Passagen über die Entkanonisierung des Alten Testaments. Zu Recht geht er dabei von der Prämisse aus, dass die Beschäftigung mit Marcion zu den für die Ausbildung der Theologie Harnacks grundlegenden Daten zu zählen hat (41 f.153). Aufschlussreich ist auch der Überblick über die Wirkungsgeschichte des Marcionbildes Harnacks (108­144). Insgesamt bleibt allerdings zu fragen, ob K. Harnacks Marcionbild nicht zu sehr von der bekannten Forderung nach der Entkanonisierung des Alten Testaments her beurteilt. So sehr diese Frage auch für die Monographie von 1921 von Bedeutung ist, erschöpft sich darin doch nicht Harnacks Beschäftigung mit Marcion. Weniger Marcions »Antijudaismus« als solcher interessierte schon den jungen Harnack als vielmehr das grundsätzliche religionstheoretische wie historische Problem des komplexen Verhältnisses von religiöser Innerlichkeit, philosophisch-theologischer Begriffsbildung und der Ausbildung institutionalisierter Religion, das er immer wieder an Wegscheiden der Kirchengeschichte und großen Persönlichkeiten wie dann auch Augustin und Luther thematisierte.

Der zweite Hauptteil »Juden und Judentum bei Harnack« (155­205) führt u. a. den Nachweis, dass man trotz fehlender Kenntnisse rabbinischer Literatur Harnack »nicht sein prinzipielles und zeittypisches Desinteresse am rabbinischen Judentum vorwerfe[n]« könne: »Harnack war Kirchenhistoriker, nicht Judaist« (178). Allerdings hätte er schon wegen seines Anliegens, die Besonderheiten Jesu und des Christentums herauszuarbeiten, so K. weiter, ein größeres Interesse am Judentum haben müssen, da »ein besseres Verständnis Jesu und seiner Botschaft aus einem vertieften Verständnis des antiken Judentums resultiert« (178). Dass für Harnack weniger in den Worten als in der Person Jesu selbst der entscheidende Differenzpunkt zum Judentum lag, wird bei K. jedoch nur angedeutet (169). K. erläutert sodann die ­ heute weithin übersehene ­ positive Reaktion, die Harnacks Sicht des Frühjudentums im deutschen Judentum der Jahrhundertwende hervorrief, und erinnert an seinen wissenschaftsorganisatorischen Einsatz für die Etablierung von Lehrstühlen für Jüdische Studien an den Theologischen Fakultäten (178­182). K. bilanziert: »Vorurteile gegenüber den Juden sind bei dem Kirchenhistoriker nur schwach ausgeprägt und leiten in keinem einzigen Fall die Argumentation« (187). Eindeutig ist auch die zeitlebens feststellbare Ablehnung des Antisemitismus (189­196).

Das Verhältnis zu Chamberlain steht im Mittelpunkt des dritten Hauptteiles, der Edition des Briefwechsels Chamberlains und Harnacks (207­297), der sich in unterschiedlicher Intensität auf den Zeitraum zwischen der einzigen persönlichen, durch Wilhelm II. vermittelten Begegnung 1901 und Chamberlains Tod 1927 erstreckt. Ihren Höhepunkt erreicht die Korrespondenz im November 1912 mit fünf ausführlichen Briefen Harnacks, die sich mit Chamberlains Goethemonographie beschäftigen. Bei aller Bewunderung für dieses Buch ist Harnacks Ablehnung des rassisch begründeten Antisemitismus¹ Chamberlains unmissverständlich: »Sie sind wirklich von einem antijüdischen Dämon besessen« (263). Dennoch kommt K. zu dem Schluss, dass Harnacks Kontakt zu Chamberlain »einen dunklen Schatten auf die Biographie des Kirchenhistorikers« werfe (231). Konkret wirft er Harnack vor, den Kontakt zu Chamberlain nicht abgebrochen zu haben (201). Abgesehen davon, dass im November 1912 kaum absehbar war, welche Folgen diese Form des Antisemitismus noch haben würde, kann diese These aus drei Gründen nicht überzeugen. Erstens hat Harnack den Dissens ­ der auch im seinem Gesamtwerk immer wieder hervortritt ­ selbst deutlich formuliert. Zweitens wird dieser eine Briefwechsel im Gesamtzusammenhang des Werks Harnacks überschätzt. Drittens bleibt die hohe Faszinationskraft des ‘uvres Chamberlains nicht nur für protestantische Theologen so unterschiedlichen Zuschnittes wie Reinhold Seeberg oder Albert Schweitzer, sondern selbst für jüdische Intellektuelle wie Martin Buber unberücksichtigt. So hatte ­ wie jüngst Sven Brömsel dargelegt hat ­ Buber Chamberlain 1905 gar zur Mitarbeit an der Schriftenreihe »Die Gesellschaft« eingeladen und von diesem einen Überblick über die Rassenfrage in Aussicht gestellt bekommen. Für Harnacks Werk hingegen kommt Chamberlain keine Bedeutung zu, wie K. selbst einräumt (223 f.). Dieser Befund wäre zu erklären. Dagegen spricht K. davon, es sei »rätselhaft«, weshalb Harnack dem »in jeder Hinsicht halbgebildeten Chamberlain gewissermaßen ðauf den LeimÐ gehen konnte« (231). Mehr als ein Zitat aus seiner Privatkorrespondenz mit Stefan Rebenich, demzufolge Harnack das »geschlossene Deutungsangebot« Chamberlains fasziniert habe (230 f.), kann K. zur Begründung dieser weitgehenden These allerdings nicht anführen. Das Gegenteil ist auch der Fall. Sensibel nahm Harnack die Brüchigkeit der religiösen und historischen Weltanschauungen der Moderne wahr und stand geschlossenen Deutungsangeboten daher überaus kritisch gegenüber, was er auch Chamberlain nicht verbarg: »In diesem meinem Subjekt verbinde ich Religion, Wissenschaft und Kunst, aber im Objekt halte ich sie auseinander und schöpfe aus der Verbindung dort keine Kraft noch Klarheit« (250 f.). Nur so erklärt sich erst K.s Beobachtung, Harnack unterscheide sich in seiner lebenslangen Betonung des Unterschiedes von Evangelium und Kultur von führenden Vertretern des Kulturprotestantismus (147).

Auch ansonsten finden sich trotz differenzierter Textarbeit ähnliche argumentative Ungereimtheiten. Einmal betont K., dass Harnacks Stellungnahmen zum Antisemitismus durchweg ablehnend ausgefallen seien (189), um ihm dann wieder vorzuwerfen, er habe »ungewollt ohne Zweifel ðvölkischenÐ Tendenzen im deutschen Protestantismus in die Hände gespielt.« Auch Formulierungen wie Harnack »war sich nicht zu schade, mit Adolf Stöcker ... im Evangelisch-sozialen Kongreß zu paktieren« (196) verwundern angesichts des meist sachlichen Tons des Buches. Letztlich ist es wohl K.s Unbehagen an Harnacks theologischer Grundorientierung, die hier deutlich zu Tage tritt. So ist es etwa die »theologische ... Unterbestimmtheit« des Kulturprotestantismus, die eine »eindeutige Parteinahme zugunsten des Judentums verhindert« habe (121), ohne dass diese Unterbestimmtheit näher ausgeführt wird. Einerseits wird ein Zusammenhang zwischen Harnacks vermeintlicher Schwierigkeit, »andere Konfessionen (Katholizismus, Orthodoxie) und Religionen (Judentum) in ihrem Anders- und Fremdsein zu tolerieren« (auch hier wäre gerade mit Blick auf den Katholizismus ein Fragezeichen zu setzen), und seinem Selbstverständnis als »christlicher Humanist« (205) hergestellt, andererseits wieder in einer kontrafaktischen Spekulation über Harnacks mögliches Verhalten nach 1933 festgestellt, sein »christlicher Humanismus« hätte ihn wohl zur Ablehnung des NS-Staates bewogen (301 f.). Harnacks theologisch reflektierter Humanismus, den er mit seiner theologischen Zentralformel vom »unendlichen Wert der Menschenseele« als einer unverrückbaren, ebenso demokratiefähigen wie antitotalitären Chiffre individueller und zugleich in Gott gegründeter Freiheitsrechte in nahezu alle Debattenzusammenhänge seines Werkes einstellen konnte, war der entscheidende Grund für die unter protestantischen Theologen seiner Zeit seltene Ablehnung von Antisemitismus, Judenfeindschaft und rassisch-ethnischer Diskriminierung. Es ist bedauernswert, dass K. diesem Zusammenhang nicht wirklich nachgegangen ist. Gleichwohl ist es das Verdienst dieses Buch, deutlich zu zeigen, dass der Vorwurf des Antisemitismus und Antijudaismus im Falle Harnacks kaum mehr aufrecht zu erhalten ist.