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Ausgabe:

April/2006

Spalte:

402–404

Kategorie:

Kirchengeschichte: Allgemeines

Autor/Hrsg.:

Heyer, Friedrich

Titel/Untertitel:

Kirchengeschichte der Ukraine im 20. Jahrhundert. Von der Epochenwende des ersten Weltkrieges bis zu den Anfängen in einem unabhängigen ukrainischen Staat

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2003. 556 S. m. Abb. u. Tab. gr.8°. Geb. Euro 94,00. ISBN 3-525-56191-1.

Rezensent:

Erich Bryner

Mit diesem Buch legte der bekannte Konfessionskundler Friedrich Heyer (1908­2005) sein reifes Alterswerk vor. H., der von 1964 an bis weit über seine Emeritierung hinaus an der Theologischen Fakultät Heidelberg Konfessionskunde lehrte, hatte sich bereits mit seiner Arbeit »Die Orthodoxe Kirche in der Ukraine von 1917 bis 1945« (1953) als Ukraine-Spezialist einen Namen gemacht, aber ebenso bekannt ist er als Fachmann für die orientalisch-orthodoxen Kirchen, insbesondere die Äthiopische. In seinem Buch von 1953 hatte er eigene Anschauungen und persönliche Beziehungen verarbeitet, die aus seinen Einsätzen als Soldat im Zweiten Weltkrieg in der Ukraine stammten, weitere Feldforschungen nach der Wende flossen in die vorliegende Studie ein.

Zu den handschriftlichen Materialien, die H. als Erster wissenschaftlich auswerten konnte, gehörten u. a. Tagebücher des wolhynischen Erzbischofs Evlogij (Georgievskij), drei Schulhefte des Oberpriesters Gavriil Kovalenko mit Beschreibungen der kirchlichen Ereignisse in der Eparchie Poltava, handschriftliches Material eines orthodoxen Priesters über die Kirche in Kamenec Podol¹skij und ein Bündel mit Aufzeichnungen des Metropoliten Vasyl¹ (Lyptkivs¹kyj), der eine Schlüsselpersönlichkeit der Ukrainischen Autokephalen Kirche in den 1920er Jahren war.

Ein Dauerproblem, das die ukrainische Kirchengeschichte und somit H.s Buch wie ein roter Faden durchzieht, ist die Frage der Autokephalie (völligen Selbständigkeit) der orthodoxen Kirche in diesem Land. In den kurzen Jahren der politischen Unabhängigkeit (1918­1920) kam es zu Ansätzen, eine vom Moskauer Patriarchat unabhängige, nationale Kirche zu gründen, die von der ukrainischen Staatsregierung, die eine selbständige Kirche in einem selbständigen Staat wünschte, unterstützt wurde, innerkirchlich die Förderung einer ukrainischen Bibelübersetzung, einer Ukrainisierung der Liturgietexte, der Predigt in ukrainischer Sprache zur Folge hatte. Mit der Eingliederung der Ukraine in die Sowjetunion gewann das Konzept einer autonomen ukrainischen Kirche unter der Oberherrschaft des Patriarchates Moskau wieder an Boden.

Moskau band die Orthodoxie in der Ukraine erneut an sich und erhob die Metropolie Kiev zum Exarchat. Gleichzeitig dehnte sich die antireligiöse Politik des Sowjetstaates auf die Ukraine aus: Die Priesterausbildung, das Mönchtum und weitgehend das kirchliche Leben an der Basis brachen zusammen. Autonomisten und Autokephalisten standen sich in den folgenden Jahren gegenüber. H. zeigt mit vielen Details minutiös auf, welche Konflikte und Absplitterungen entstanden und wie autokephale Strukturen in ukrainischen Eparchien und in Amerika sich zu behaupten wussten. Seit der Verschärfung der sowjetischen Religionspolitik ab 1929 musste auch die orthodoxe Kirche in der Ukraine um das nackte Überleben kämpfen; 1937 wurde sie als Institution ausgelöscht. Gruppen von Christen konnten sich nur noch in der Illegalität treffen und Gottesdienste feiern, doch man darf sich wegen der Omnipräsenz der Geheimpolizei von Umfang und Ausstrahlungskraft der Untergrundkirche »keineswegs übertriebene Vorstellungen« machen (183).

Ebenfalls von sehr großem Interesse sind die Ausführungen H.s über die Orthodoxie in den westukrainischen Gebieten, die nach dem Russisch-Polnischen Krieg, der mit dem Vertrag von Riga 1921 sein Ende fand, der Republik Polen zugeschlagen wurden. Rund 3,5 Millionen Gläubige und rund 1500 Kirchgemeinden aus dem Herrschaftsgebiet der Sowjetunion kamen so in polnisches Territorium und es stellte sich die Frage, ob diese Teile der Russischen Orthodoxen Kirche unter der Jurisdiktion des Patriarchates Moskau bleiben oder eine eigene, autokephale Kirche bilden sollten. Für diese zweite Lösung sprach, dass die meisten Gläubigen nicht in einer Kirchenstruktur leben konnten, deren Oberhaupt im Ausland residierte und die von marxistischen Herrschaftsstrukturen abhängig war. 1924 entstand die autokephale Polnische Orthodoxe Kirche mit der Metropolie Warschau an der Spitze. Für die Orthodoxen in Polen erwies es sich als wichtig, unter dem Rechtsschutz des polnischen Staates zu stehen, da ihnen die Polonisierungs- und Katholisierungstendenzen in ihrer Umgebung schwer zu schaffen machten. Dennoch wurden in den 1930er Jahren Hunderte von orthodoxen Gotteshäusern gewaltsam geschlossen oder zwangsweise der römisch-katholischen Kirche übergeben. Nach der Aufteilung Polens zwischen dem Deutschen Reich und der Sowjetunion 1939 wurde die Polnische Orthodoxe Kirche mit den Eparchien Warschau, Cholm und Krakau-Lemkenland dem Generalgouvernement Polen unterstellt; die östlich davon gelegenen Gebiete nahm die Sowjetunion in Besitz und fügte sie dem Patriarchat Moskau zu. Mit dem Vorrücken der nationalsozialistischen Armee nach Südrussland und der Errichtung des Reichskommissariates Ukraine konnte die in den 1930er Jahren vernichtete Kirche ein Stück weit wieder aufgebaut werden, doch bald eroberte die Rote Armee die Ukraine wieder zurück. Im Rahmen der Neuorientierung der sowjetischen Religionspolitik konstituierte sich die Orthodoxe Kirche in der Ukraine als Exarchat des Patriarchates Moskau neu. H. versteht es als einstiger Augenzeuge, diese komplizierten Vorgänge anschaulich darzustellen.

Als das tragischste Ereignis der ukrainischen Kirchengeschichte der Nachkriegszeit stellt H. die Zwangseinverleibung der Ukrainisch-katholischen (unierten) Kirche in die Russische Orthodoxe Kirche in der »Desunionssynode« von Lemberg 1946 dar. H. hat die Geschichte der unierten Kirche und ihrer geistlichen Erneuerung unter der Leitung von Metropolit Andrij Septyc¹kyj in der Zwischenkriegszeit ausführlich gewürdigt. Die sowjetischen Machenschaften und ihre Folgen trieben jetzt viele unierte Kleriker und Laien in Illegalität, Untergrund und Martyrien, kirchenpolitisch fiel die unierte Kirche zwischen alle Stühle und Bänke. Die Feldforschungen von 1994 veranlassten H., unter Mitwirkung seines damaligen Mitarbeiters Christian Weise, die Darstellung der Kirchengeschichte der Ukraine von der Wende in Osteuropa bis in die jüngste Vergangenheit weiterzuführen. Die Orthodoxe Kirche spaltete sich in drei Jurisdiktionen auf, in die Ukrainische Orthodoxe Kirche Moskauer Patriarchat, die Ukrainische Orthodoxe Kirche Kiever Patriarchat und die Ukrainische Autokephale Orthodoxe Kirche. Die unierte Kirche erhielt die Legalität ihrer Existenz zurück, verschiedene protestantische Kirchen und Glaubensgemeinschaften konnten sich wieder aufbauen oder neu konstituieren.

Die großen Vorzüge des Buches bestehen in der gründlichen, sehr materialreichen und wissenschaftlich zuverlässigen Aufarbeitung des komplizierten 20. Jh.s der ukrainischen Kirchengeschichte. H. zeigt auch Kontinuitäten in der an Brüchen reichen Geschichte auf, vor allem in der Autokephalieproblematik. Die Nachteile des Buches bestehen darin, dass H. gern Nebensächlichkeiten ausführlich nacherzählt und dabei die großen Linien zu vergessen scheint; der Leser verliert vor lauter Bäumen und Sträuchern häufig den Blick auf den Wald.