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Ausgabe:

April/2006

Spalte:

399 f

Kategorie:

Kirchengeschichte: Allgemeines

Autor/Hrsg.:

Greschat, Martin

Titel/Untertitel:

Kirchliche Zeitgeschichte. Versuch einer Orientierung.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2005. 103 S. 8° = Forum Theologische Literaturzeitung, 16. Kart. Euro 14,80. ISBN 3-374-02318-5.

Rezensent:

Hartmut Lehmann

Wenn sich ein Kirchenhistoriker wie Martin Greschat, der in den vergangenen Jahrzehnten wichtige, zum Teil bahnbrechende Studien zur Zeitgeschichte vorgelegt hat, in einem Essay zum Thema »Kirchliche Zeitgeschichte« äußert, dann kann man nicht nur den »Versuch einer Orientierung« (so der Untertitel) erwarten, sondern erfahrungsgesättigte Reflexionen. G.s Studie wird dieser Erwartung, um es vorweg zu sagen, vollauf gerecht. G. entfaltet die Thematik in drei Schritten: In einem ersten Schritt äußert er sich zur chronologischen Dimension von Zeitgeschichte. Zu Recht betont er, die von Hans Rothfels in den 1950er Jahren vorgelegte Charakterisierung von Zeitgeschichte sei inzwischen überholt. Der Verweis auf den Ost-West-Konflikt und das Schlüsseljahr 1917 reiche heute nicht mehr aus, um den Beginn der Zeitgeschichte zu markieren. Die Welt sei zu Beginn des 21. Jh.s »erheblich komplexer und insofern beträchtlich komplizierter geworden« (16). Als zentrale Aufgaben der Kirchlichen Zeitgeschichte benennt G. die Auseinandersetzung mit den Traditionen der Militanz, mit dem kontinuierlichen Verlust des Christentums an Einfluss sowie mit dem Umbruch in den 1960er Jahren, der einem Paradigmenwechsel gleichkomme. Als mögliche weitere Themen der Kirchlichen Zeitgeschichte erörtert G. im zweiten Teil seiner Abhandlung eine Fülle von Aspekten, die von der »Lage außerhalb Westeuropas« und der Rolle der »Pfingstler und Charismatiker« über die »Ökumenische Bewegung« und die »westeuropäische Entwicklung« bis hin zu »Literatur und Kunst«, »Alltagswirklichkeit« und »Jurisprudenz« reichen (womit ich sieben der von G. behandelten 14 Themen genannt habe). Eine strengere Auswahl, mehr Mut zu einer klaren Schwerpunktsetzung hätte ich mir in diesem Kapitel gewünscht. Hinter dem Titel »westeuropäische Entwicklung« verbirgt sich freilich eine fundierte Auseinandersetzung mit Ursachen und Einfluss der Säkularisierung.

Wie »kirchlich« die Kirchliche Zeitgeschichte ist oder doch sein sollte, diskutiert G. im dritten und abschließenden Teil seiner Studie. Seinem Fazit, dass sich die Kirchengeschichte, wenn man sie wissenschaftlich betreibe, zur »Christentumsgeschichte« weite, kann ich nur uneingeschränkt zustimmen. Und ebenso leuchtet G.s Aussage unmittelbar ein, an manchen Ergebnissen der Kirchlichen Zeitgeschichte zerschellten »die schnellen Antworten, die großen Worte und das billige Reden von Gottes Güte, Fürsorge und Liebe« (99). Obwohl ich somit G.s Ausführungen und Schlussfolgerungen weitestgehend zustimme, muss ich aus meinen eigenen Erfahrungen und Forschungen heraus doch auch einige kritische Akzente anfügen. G. hat die Grenzen seiner Ausführungen selbst markiert, wenn er betont, seine Überlegungen gingen von deutschen Erfahrungen aus (13). Dementsprechend führt er fast ausschließlich Beispiele aus der neuesten deutschen Geschichte an. Das führt aber, wie mir scheint, im Hinblick auf die von ihm behandelte Thematik zu einer nicht ungefährlichen Engführung der Sichtweise. Gewiss: G. verweist an einigen Stellen auch auf außerdeutsche Beispiele und außerdeutsche Vorgänge. Insofern ist er nicht ausschließlich auf deutsche Dinge fixiert. Aus der Sicht der Weltchristenheit ergeben sich aber, wenn man das ganze 20. Jh. und damit den Themenbereich ins Auge fasst, den Kirchliche Zeitgeschichte umfassen könnte und sollte, deutlich andere Schwerpunkte als die, die G. herausstellt. Hier geht es, was die Jahrzehnte zwischen 1919 und 1945 betrifft, in erster Linie um die Dekolonisation und die Entstehung Junger Kirchen in Afrika, Asien und Lateinamerika; hier spielt für die Jahrzehnte nach 1945 der Ost-West-Konflikt gerade für die außereuropäischen Kirchen, aber auch für die Kirchen in Nordamerika eine überragende (und in den Auswirkungen fatale) Rolle; hier erscheinen die Jahrzehnte seit 1970 schließlich als jene Epoche, in der sich der Schwerpunkt des Christentums aus den reichen Ländern der nördlichen Hemisphäre (mit Ausnahme der USA) weg in die armen Länder der südlichen Hemisphäre verlagerte. Ich kann diese Aspekte hier nur andeutungsweise benennen. Eine Schlussfolgerung gilt es trotzdem festzuhalten: Dass es auch für die deutsche Kirchliche Zeitgeschichte äußert lohnend sein könnte, den Blick über die deutschen Verhältnisse hinaus zu richten. Dass G. abschließend das »Serenity Prayer« zitiert, das Reinhold Niebuhr 1943 formuliert hat (und das nicht, wie im Anschluss an den Pädagogen Theodor Wilhelm häufig fälschlicherweise immer noch behauptet wird, vom württembergischen Pietisten Oetinger stammt), demonstriert jedoch nicht nur seine Belesenheit, sondern zeigt auch seine Absicht, die deutschen Dinge in einen größeren Rahmen einzuordnen. Mehr kann man sich eigentlich nicht wünschen.